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D. Juden in der Tschechoslowakei – eine Analyse lebensgeschichtlicher

1. Analytischer Rahmen

Eines der Anliegen von Oral History ist es, die Perspektive derjenigen einzuholen, die von der ,großen Geschichte‘ unmittelbar betroffen waren und deren Geschichtserfahrung aus den herkömmlichen Quellen, und infolgedessen auch den auf ihnen basierenden historischen Darstellungen, nicht hervorgeht. Im Falle der Ge-schichtsschreibung über den Holocaust ist dies um so wichtiger, da sein ganzes Ausmaß erst an der Verdeutlichung einzelner Schicksale annähernd deutlich wird. Liest man historische Darstellungen über den technischen Ablauf des Massenmords und die Zahlen der Ermordeten, fällt es oft schwer, sich zu vergegenwärtigen, daß hinter jeder Zahl ein individuelles Schicksal stand:

„In vielen Arbeiten sind die Opfer dadurch, daß man implizit von ihrer generellen Hoff-nungslosigkeit und Passivität ausging oder von ihrer Unfähigkeit, den Lauf der zu ihrer Vernichtung führenden Ereignisse zu ändern, in ein statisches und abstraktes Element des

182 Vgl. SVOBODOVÁ, S. 78ff.

183 Vgl. ebenda.

184 In einer vergleichenden Umfrage in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei aus dem Jahr 1991 stellte sich heraus, daß die Ungarn die schwächsten und die Polen die stärksten antisemitischen Ge-fühle äußerten, die Tschechoslowaken dagegen bewegten sich in der Mitte, wobei die Tschechen näher an den ungarischen, die Slowaken näher an den polnischen Ergebnissen lagen. Andererseits waren die Haltungen gegenüber Juden in allen drei Ländern überraschend positiv, und die über-wiegende Mehrheit sprach sich dafür aus, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Vgl.

Hierzu COHEN, RENAE / GOLUB, JENNIFER Attitudes towards Jews in Poland, Hungary and Czecho-slovakia. A comparitive Survey, New York 1991, S. 1ff.

historischen Hintergrunds verwandelt worden.“185

Deshalb sollte die subjektive Perspektive der Verfolgten in jede historische Darstellung integriert werden:

„Die einzige konkrete Geschichte, die sich bewahren läßt, bleibt diejenige, die auf persön-lichen Erzählungen beruht. Vom Stadium des kollektiven Zerfalls bis zu dem des Abtrans-ports und des Todes muß diese Geschichte, damit sie überhaupt geschrieben werden kann, als die zusammenhängenden Erzählung individueller Schicksale dargestellt werden.“186 D.h. die Geschichte des Holocaust kann „ohne die Präsenz der Opfer in einer integrier-ten Erzählung und ohne den Versuch des Historikers, ihr Bild von den Ereignissen zu erfassen, nicht geschrieben werden.“187

Nachdem nun ein ereignisgeschichtlicher Überblick über die Juden in der Tschecho-slowakei gegeben wurde, wird im folgenden der Untersuchung der Geschichtserfahrung von unmittelbar Betroffenen Raum gegeben, um die subjektiven Erlebensstrukturen und ihren Niederschlag in den erzählten Lebensgeschichten herauszuarbeiten.

1.1. Analyseschritte

Welche Fragen werden nun konkret an das vorliegende Material gestellt? Die unter B.4.

so ausführlich dargestellte Wechselwirkung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Ereignis, Erlebnis, Erinnerung und Erzählung, findet in den lebensgeschichtli-chen Interviews ihre Entsprechung in Form der bereits erörterten zwei Ebenen des Erle-bens und Erzählens. Gelingt es, beide Ebenen zu rekonstruieren und miteinander zu kontrastieren, erhält man Aufschluß über das subjektive Erleben von Geschichte sowohl damals als auch in seiner Bedeutung für das weitere Leben. So kann die ganz

spezifi-185 FRIEDLÄNDER, SAUL Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, Mün-chen 1998, S. 12.

186 Ebenda, S.16.

187 FRIEDLÄNDER Auseinandersetzung mit der Shoah, S. 25. Es gibt bereits viele Oral-History-Projekte, die die Erinnerungen der Überlebenden aufzeichnen, um die Vernichtung des europäischen Ju-dentums im Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive der Betroffenen für die Nachwelt zu doku-mentieren, wie beispielsweise das Fortunoff Video Archiv for Holocaust Testimonies der University of Yale (vgl. HARTMAN, GEOFFREY Von Überlebenden lernen. Das Videozeugen-Projekt in Yale, in: Ders.: Der längste Schatten, Berlin 1999, S. 194-215), die Survivors of the Shoah Visual History Foundation von Spielberg (vgl. HARTMAN, GEOFFREY Zeitalter der Zeugenschaft: Steven Spielberg und die Überlebenden der Judenvernichtung, in: FAZ, 10.9.1998, S. 41) oder das Jüdische Museum in Prag. Dies geschieht in dem Bewußtsein, daß mit dem Tod des letzten Augenzeugen die Histori-sierung der Shoah einsetzen wird, d.h. sie wird zu einem historischen Ereignis, das nur noch über Dokumente zugänglich ist, und die archivierten Zeugnisse sind ein Garant dafür, daß die Stimmen

sche subjektive Sinnstruktur der jeweiligen erzählten Lebensgeschichte ermittelt wer-den. Dies wird die erste Fragestellung sein, mit der sich die Analyse auseinandersetzt.

Die zweite Fragestellung ergibt sich aus den Ergebnissen der ersten: Nachdem gesagt wurde, daß der dabei ermittelte Sinnzusammenhang die Identität des Subjekts wider-spiegelt und diese sozial verfaßt ist, ist zu prüfen, wie sie beschaffen ist, konkret, wel-che Rolle für die Interviewpartner ihr ,Jüdischsein‘ spielt(e).

Bevor mit der Textanalyse begonnen werden kann, müssen vorab einige Angaben über die Bedingungen gemacht werden, unter denen die Interviews stattfanden.

Um die erste Fragestellung zu bearbeiten, sind folgende Analyseschritte durchzu-führen:188

a) die Analyse der biographischen Daten b) die Text- und thematische Feldanalyse

c) die Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte d) die Typenbildung

zu a) In diesem Analyseschritt werden zunächst diejenigen biographischen Daten der erlebten Lebensgeschichte gesammelt, die sich auf Realitäten außerhalb des Textes be-ziehen und auch unabhängig vom Interviewtext überprüfbar sind. Sie werden in der Ab-folge der Ereignisse in der historischen Zeit zusammengestellt, wobei der vorangestellte historische Überblick eine Einordnung der Daten in den spezifischen zeitgeschichtlichen Kontext ermöglicht.

„Es wird versucht, so nahe wie möglich die zum Zeitpunkt des Ereignisses wirksamen Be-dingungen zu entwerfen, ohne spätere Kontexte hineinzuziehen. [...] Dadurch stößt man auf Zusammenhänge, die die Biographen selbst nicht hergestellt haben bzw. erhält auch ein Korrektiv gegenüber ihrer jeweiligen Perspektive im Text.“189

Erst auf der Grundlage der hierdurch ermittelten Daten kann das subjektive Erleben von Geschichte rekonstruiert werden, indem die objektiven biographischen Daten mit den Erzählungen und Deutungen derselben durch den Biographen kontrastiert werden.

der Verfolgten nach ihrem Ableben nicht untergehen.

188 Hierbei orientiere ich mich an ROSENTHAL / FISCHER-ROSENTHAL Narrationsanalyse, S. 152-156 und BRECKNER Zeitzeugen, S. 211-216.

189 Ebenda, S.212f.

Außerdem liefert dieser erste Analyseschritt eine Kontrastfolie für die anschließende Text- und Feldanalyse, bei der erkennbar wird, welche biographischen Daten erzäh-lerisch ausgebaut und in welcher Reihenfolge sie präsentiert werden.

zu b) In diesem Schritt geht es um die Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschich-te, d.h. um die Bedeutung der Erlebnisse in der Gegenwart und den biographischen Gesamtzusammenhang, in dem sie in der Erzählung dargestellt werden. Über diesen Zu-sammenhang gibt die Erzählstruktur des Interviewtextes Aufschluß, weshalb die Aus-wahl und Form sowie die zeitliche wie thematische Verknüpfung einzelner Textsegmente zu untersuchen ist. Kriterien für die Einteilung in Textsegmente sind u.a.

Sprecherwechsel, Textsorte und Themenwechsel. Bei der Hypothesenbildung stehen folgende Fragen im Vordergrund:

– Weshalb wird dieses Thema an dieser Stelle eingeführt?

– Weshalb wird es in dieser Textsorte präsentiert?

– Weshalb wird es so ausführlich bzw. so knapp dargestellt?

– In welche thematischen Felder läßt es sich einfügen?

– Welche Themen (Lebensbereiche oder Lebensphasen) werden angesprochen und welche nicht?190

zu c) Durch die Kontrastierung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte erhält man Aufschluß über die Struktur der Erinnerung, die die Auswahl und Deutung der Er-lebnisse bestimmt, und die sich in der Darstellung niederschlägt. Hierbei tritt also be-sagte biographische Sinnstruktur zu Tage, die die persönliche Identität einer Person aus-macht.

zu d) Gemäß dieser subjektiven Sinnstruktur können letztlich Typen für das Erleben von Geschichte gebildet werden. Daß diese Typen keinen Anspruch auf Repräsentativi-tät stellen, sondern jeder für sich einen möglichen Umgang mit historischer bzw. so-zialer Wirklichkeit und somit das Allgemeine im Konkreten darstellen, wurde bereits ausführlich dargestellt.

Für die zweite Fragestellung, die Beschaffenheit der sozialen Identität der Befragten, kann auf die vorliegenden Ergebnisse zurückgegriffen werden. Außerdem werden die von den Befragten verwendeten Personalpronomen als Indikatoren für

Gruppenzuge-190 Vgl. ROSENTHAL / FISCHER-ROSENTHAL, S. 153.

hörigkeit untersucht, sowie die Selbstbeschreibung und Beschreibung anderer (als Tschechen, Juden, Deutsche usw.).

1.2. Interviewbedingungen

Die Interviews wurden von mir im Herbst 1998 im Rahmen eines Projektes in Zusam-menarbeit mit Prof. Wiehn von der Universität Konstanz geführt, mit dem Ziel, sie in seiner Judaica-Reihe zu veröffentlichen.191 Parallel entstand die Idee, das so gewonnene Material zum Gegenstand einer Magisterarbeit zu machen. Der Kontakt zu den Inter-viewpartnern kam über Prager Bekannte zustande, so daß die Gespräche in einem relativ vertraulichen Rahmen zu Hause in ihren Wohnungen stattfanden. Eingangs erläuterte ich beide Vorhaben und machte deutlich, daß nicht nur die KZ-Erfahrung, sondern das ganze Leben von Interesse sei, weshalb ich sie bat, mir ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, so wie sie sich daran erinnerten und was ihnen wichtig erschien. Soweit es möglich war, hielt ich mich mit Fragen zurück, um erst in einem zweiten Durchgang bestimmte Themenkomplexe anzusprechen, so daß es meinen Interviewpartnern selbst überlassen war, das Gespräch zu strukturieren.

Die nun zu untersuchenden Interviews wurden unter folgenden Kriterien ausgesucht:

Es sollten sowohl Biographien von deutsch wie von tschechisch assimilierten Juden Beachtung finden, außerdem Personen beiderlei Geschlechts und nicht nur Prager Ju-den, zudem wurde darauf geachtet, unterschiedliche Lager- und Nachkriegsschicksale, die für die tschechoslowakischen Juden charakteristisch waren, auszuwählen:

Marta N. wurde 1919 in einer tschechisch-jüdischen Kaufmannsfamilie in der tsche-chischen Kleinstadt Tábor geboren, wo sie bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt lebte. Mit den Theresienstädter Herbsttransporten wurde sie nach Auschwitz-Birkenau weiterdeportiert, von wo sie zunächst nach Bergen-Belsen, dann zur Zwangsarbeit in ein Außenkommando von Buchenwald und letztlich wieder zurück nach Theresienstadt transportiert wurde. Sie erlebte als einzige ihrer Familie die Befreiung und heiratete wenig später einen jüdischen Überlebenden.

L.R.192 wuchs in einer tschechisch-jüdischen Kaufmannsfamilie in Prag auf. Von Theresienstadt wurde sie im Mai 1944 in das Theresienstädter Familienlager in Birkenau BIIb deportiert, nach dessen Auflösung zunächst zur Zwangsarbeit nach

191 SRUBAR, HELENA Eine schreckliche Zeit. Tschechisch-jüdische Überlebensgeschichten 1939-1945.

Hrsg. v. Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2001.

Hamburg und dann bis zur Befreiung nach Bergen-Belsen. Auch sie heiratete nach dem Krieg einen jüdischen Überlebenden.

Eva R. wurde in einer deutsch-jüdischen Lehrerfamilie in Saatz im Sudetengebiet ge-boren, von wo die Familie bereits vor dem Münchner Abkommen nach Prag floh. Eva verbrachte ihre gesamte Lagerhaft in Theresienstadt, während hingegen ihre Eltern mit den Herbsttransporten nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, von wo sie nicht zurückkehrten, so daß Eva als einzige ihrer Familie überlebte. Unmittelbar nach dem Krieg heiratete Eva ihren ehemaligen tschechisch-jüdischen Verlobten, der den Krieg in der Emigration verbracht hatte.

Jirka K. wuchs zweisprachig in einer Prager jüdischen Familie auf, wurde als AK nach Theresienstadt und ebenfalls mit den Herbsttransporten nach Birkenau deportiert.

Auf dem Todesmarsch gelang ihm die Flucht. Nach dem Krieg war er ein begeisterter Anhänger der Kommunistischen Partei. Doch seine Familie wurde Opfer der Slánský-Affaire, die Eltern wurden verhaftet und Jirka erhielt Berufsverbot. In den sechziger Jahren war er in der Reform-Bewegung aktiv, die zum Prager Frühling führte, doch nach dessen gewaltsamer Niederschlagung verließ er mit seiner Familie das Land und lebt heute in Deutschland.