• Keine Ergebnisse gefunden

Die Erste Tschechoslowakische Republik 1918-1938

C. Juden in der Tschechoslowakei – ein historischer Überblick

1. Die Erste Tschechoslowakische Republik 1918-1938

Die Juden Böhmens, Mährens und Schlesiens befanden sich im Vergleich zum öster-reichischen oder deutschen Judentum 1918 in einer besonderen Lage, da sie zwischen zwei Nationalitäten standen, der deutschen und der tschechischen, wobei erstere ihre politische Vormachtstellung nun zugunsten letzterer hatte abgeben müssen. Angesichts der sich in Ostmitteleuropa neu konstituierenden Nationalstaaten, des ,Vierzehn Punkte-Plans‘ von Wilson und insbesondere nach der Balfour-Erklärung 1917 erhielt auch die jüdische Nationalbewegung starken Aufwind. Am 22. Oktober 1918 wurde der Jüdische Nationalrat für Böhmen gegründet, der schon am 28. Oktober 1918 dem Tschechoslo-wakischen Nationalrat ein Memorandum vorlegte. Darin wurden vor allem die Anerkennung der Juden als Nation und die Freiheit, sich zu dieser zu bekennen, volle bürgerliche Gleichberechtigung sowie nationale Minderheitenrechte verlangt. Diese Forderungen wurden vom Tschechoslowakischen Nationalrat akzeptiert, was dazu führte, daß die Anerkennung der jüdischen Nationalität in der tschechoslowakischen Verfassungsurkunde verankert wurde. Ferner wurde der im September 1919 von der Tschechoslowakei in St. Germain unterzeichnete Minderheitenschutzvertrag67 in die

67 Angesichts der Tatsache, daß die nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie entstandenen Nationalstaaten keineswegs homogene Gebilde waren, sondern vielmehr mit z.T. sehr großen nationalen Minderheiten konfrontiert waren, die ihrerseits auf ihre nationale Selbstverwirklichung gemäß der ,Vierzehn Punkte‘ pochten, sowie antisemitischer Ausschreitungen insbesondere in Polen, aber auch in der Slowakei, sahen sich die Alliierten auf den Friedenskonferenzen veranlaßt, die Vertreter der neuen Staaten zur Unterzeichnung von Minderheitenschutzverträgen zu verpflichten.

Polen wurde zudem zu der Unterzeichnung von zwei Zusatzklauseln, die jüdische Minderheit betref-fend, verpflichtet – der Gewährung eines jüdischen Schulwesens sowie der Sabbathruhe –, die auch die Vertreter des böhmischen Judentums von der tschechoslowakischen Regierung forderten. Diese lehnte die Zusatzklauseln mit dem Argument ab, derartige ;Strafklauseln‘ aufgrund ihrer weltweit bekannten liberalen Haltung gegenüber den Juden nicht nötig zu haben, was zur Folge hatte, daß die jüdische Minderheit im Minderheitenschutzvertrag nicht besonders aufgeführt wurde. „Bei den Ver-handlungen auf der Friedenskonferenz in bezug auf den Minderheitenschutz der Juden, hat die tschechoslowakische Delegation nur eine Sache gefordert: daß der Schutz der jüdischen Minderheit in dem Minderheitenschutzvertrag nicht besonders angeführt würde; die tschechoslowakische Delega-tion erachtete dies damals als gegenstandslos.” Edvard Beneš: Die Tschechoslowakei auf der Friedenskonferenz und ihre Minderheiten. Prager Presse Nr. 278 v. 9.10.1937, zitiert nach LIPSCHER, LADISLAV Die soziale und politische Stellung der Juden in der Ersten Republik, in: Die Juden in den böhmischen Ländern, Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 27.-29.11.

1981, München / Wien 1983, S. 269-280, hier S. 271. Vgl. ebenfalls hierzu RABINOWICZ, AHARON MOSHE The Jewish Minority, in: The Jews of Czechoslovakia, Historical Studies and Surveys, Vol.I,

Verfassung aufgenommen, womit sich der tschechoslowakische Staat zur strikten Gleichbehandlung aller Bürger, unabhängig von Rasse, Sprache oder Religion verpflichtete.68 Obwohl im allgemeinen die Sprache als Kriterium für die nationale Zugehörigkeit galt, wurde den Juden zugestanden, ihre Nationalität unabhängig von der Muttersprache als jüdisch anzugeben:

„Strittig ist [...] die Frage, ob die Juden ein Volk sind. Indem die Verfassung die Wendung, ohne Rücksicht auf Rasse, Sprache oder Religion verwendet [...], überläßt sie es einem je-den, sich selbst zu entscheije-den, worin er das charakteristische Merkmal der Nationen er-blickt und sich danach frei zu entscheiden. Hält also jemand die Juden für ein selbständiges Volk, so ist er berechtigt, sich national als Jude zu bekennen, selbst wenn er der Religion nach z.B. konfessionslos wäre, ob er nun tschechischer, deutscher oder anderer Mutter-sprache ist. Die Juden sind also nicht verpflichtet, bei Volkszählungen, Wahlen usw. sich zu einer anderen ethnischen Minderheit zu bekennen als zur jüdischen.“69

Mit anderen Worten wurde es den Juden selbst überlassen, sich über ihren Glauben oder über nationale Kriterien zu definieren.

Hier zeigt sich bereits, daß man bei den Juden Böhmens und Mährens keineswegs von einer homogenen Gruppe sprechen kann. Während die Zionisten und Anhänger des Jüdischen Nationalrats bzw. der aus ihm hervorgegangen nationalen Jüdischen Partei ihr Judentum als Nationalität sahen, war es für andere lediglich eine Frage der Konfession, während sie sich in nationaler Hinsicht tschechisch bzw. deutsch orientierten (einige waren nicht einmal mehr Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, sei es aus fehlendem Glauben oder da sie konvertiert waren). Dies zeigt sich deutlich in den Ergebnissen der 1921 und 1930 in der Tschechoslowakei durchgeführten Volkszählungen. So wurden 1921 125.083, 1930 117.551 Juden gemäß Religion, aber nur 30.267 bzw. 30.002 der Nationalität nach gezählt.70

Aus diesen Zahlen wird ersichtlich, wie kompliziert die Frage nach der Identität der böhmischen Juden in der Zwischenkriegszeit war. Um zu verstehen, wie es zu dieser Dreiteilung kommen konnte, muß man ins 19. bzw. sogar ins 18. Jahrhundert zurück-gehen.

Philadelphia / New York, 1968, S. 155-265, hier S. 172-177.

68 Vgl. MENDELSOHN, EZRA The Jews of East Central Europe Between The World Wars, Bloomington 1983, S. 150, LIPSCHER, S. 272 sowie RABINOWICZ, A., S. 186.

69 Bericht des Verfassungsausschusses, zitiert nach WELTSCH, FELIX Masaryk und der Zionismus, in:

Rychnovsky, E. (Hg.): Masaryk und das Judentum, Prag 1931, S. 67-116, hier S. 89.

70 Vgl. LIPSCHER, S. 274.

Das Toleranzedikt von Joseph II. brachte den Juden 1782 einige Freiheiten, z.B. die Erlaubnis, außerhalb des Ghettos zu siedeln oder Medizin und Recht zu studieren, so daß für sie der deutsche Liberalismus geradezu als Äquivalent für Toleranz und Moder-nisierung erschien.71 Andererseits bedeuteten die josephinischen Reformen durch die Einführung des Deutschen als Amtssprache in gewissem Maße eine erzwungene Germanisierung der Juden, was sie in Mißkredit bei der tschechischen Bevölkerung brachte.72

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten die meisten Juden Böhmens, abgesehen von der großen Prager Gemeinde, auf dem Land in kleineren Gemeinden des tsche-chischen Mittelböhmens – bzw. in Mähren in selbstverwalteten Ortschaften neben christlichen Städten desselben Namens – in sehr bescheidenen Verhältnissen (der ty-pische Beruf des ‚Dorfjuden‘ war der des Hausierers).73 Vor allem die böhmischen Ju-den stanJu-den in enger Beziehung zu ihrem tschechischen Umfeld, so daß sie zwei-sprachig waren.74 Das Tschechische war die Sprache des Alltags, während das Deutsche einen offiziellen, ja manchmal beinahe feierlichen Charakter hatte (Unterrichts- und Gottesdienstsprache).

Die Prager Jüdische Gemeinde hatte sich schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts an der deutschen Sprache und Kultur als Trägern der Aufklärung und Modernisierung orientiert, und seit dem Vormärz nahm auch auf dem Land die deutsch ausgerichtete Assimilation zu. Neben der bereits erwähnten Gleichsetzung von deutscher Kultur und Fortschritt mag hierzu auch der Antisemitismus tschechischer Arbeiter und kleinerer Gewerbetreibender beigetragen haben.75

Mit den Reformen 1848/49 (Freizügigkeit, Abschaffung der Judensteuer und des Fa-miliantengesetzes, 1852 Auflösung des Prager Ghettos) kam es unmittelbar darauf zu einer Migration im nächsten Umfeld. Nach der vollkommenen rechtlichen Gleich-stellung 1867 wanderte die nächste Generation im Zuge der allgemeinen Urbanisierung in die Städte ab, wo sie sich zum Großteil an die deutsche Kultur assimilierte. In den

71 Vgl. HAHN, FRED The Dilemma of The Jews in The Historic Lands of Czechoslovakia.1918-1938, in:

East Central Europe 10 (1983), S. 24-39, hier S. 27.

72 Jüdische Händler mußten von nun an ihre Geschäftsbücher auf deutsch führen, und 1787 verfügte der Kaiser per Dekret, daß auch die Rabbiner sich im nicht liturgischen Teil der Gottesdienste, bei Trauungen usw. der deutschen Sprache bedienen mußten. Ferner wurden die jüdischen Schulen in deutsch-jüdische Schulen umgewandelt. Vgl. HAHN, ebenda.

73 Vgl. HAHN, S. 28.

74 Vgl. IGGERS, WILMA Die Juden in Böhmen und Mähren, München 1986, S. 15.

75 Vgl. ebenda, S. 19.

siebziger Jahren entstand aber auch eine tschechische Assimilationsbewegung,76 die mit dem Aufkommen des deutschen bzw. österreichischen politischen Antisemitismus in den achtziger und neunziger Jahren stärkeren Zulauf erhielt, so daß um 1900, trotz der Svůj k Svému-Bewegung und der Hilsner-Affaire in Polná, bereits über 50 Prozent der böhmischen Juden tschechisch als ihre Umgangssprache angaben (im Vergleich zu einem Drittel 1880).77 Das mag u.a. mit dem zunehmenden Einfluß Masaryks auf die tschechische Nationalbewegung zusammenhängen, der im Polná-Prozeß als einer der wenigen öffentlich Stellung gegen die antisemitische Hetzjagd genommen hatte.78 Außerdem wollten wohl viele Juden dem tschechischen Antisemitismus, der sie wegen ihres Deutschtums anfeindete, durch Identifikation mit den Tschechen begegnen. Nichts desto trotz besuchten jüdische Kinder bis zur tschechoslowakischen Staatsgründung überwiegend deutsche Schulen, und Deutsch blieb die Bildungssprache.79

Außerdem entstand auch in Böhmen um die Jahrhundertwende eine zionistische Be-wegung. So wurde 1892 eine nationale studentische Vereinigung gegründet, die unter dem späteren Namen Bar Kochba ein wichtiges ideologisches Zentrum des böhmischen Zionismus darstellte. Seit 1907 erschien die zionistische Wochenzeitung Selbstwehr, die bald das wichtigste zionistische Presseorgan Böhmens wurde.80

Auch waren es Zionisten, die 1918 den Jüdischen Nationalrat gründeten, der ebenso wie die im Januar 1919 aus ihm hervorgehende Jüdische Partei mit dem Anspruch auf-trat, die Juden Böhmens als nationale Minderheit zu vertreten.81 Doch wie sich im Zen-sus von 1921 herausstellte, repräsentierte die nationale Bewegung lediglich ein Viertel des böhmischen und mährischen Judentums. Die überwiegende Mehrheit der Juden de-finierte sich religiös, wobei die tschechisch assimilierten Juden die größte Gruppe dar-stellten, dicht gefolgt von den deutschen Juden.82

76 Vgl. KESTENBERG-GLADTSTEIN, RUTH The Jews between Czechs an Germans in the Historic Lands, 1848-1918, in: The Jews of Czechoslovakia, Vol.I., S. 21-71, hier S. 33.

77 Vgl. STÖLZL, CHRISTOPH Die ,Burg‘ und die Juden, in: Die ,Burg‘. Einflußreiche politische Kräfte um Masaryk und Beneš, Bd.II, hrsg. v. Bosl, K. / Bachstein, M. K., München 1974, S. 79-110, hier S.

83.

78 Vgl. HAHN, S. 35.

79 Vgl. MENDELSOHN, S. 133.

80 Vgl. RABINOWICZ, OSKAR K. Czechoslovak Zionism: Annalecta to a History, in: The Jews of Czechoslovakia, Vol.II, Philadelphia / New York 1971, S. 19-136, hier S. 20ff.

81 Die Jüdische Partei errang in den Parlamentswahlen 1925, nach dem Zusammengehen mit der pol-nischen Minderheitenpartei, zwei Mandate. Dieser Wahlerfolg wiederholte sich noch einmal 1935, dieses Mal allerdings dank eines Zusammengehens mit der tschechischen Sozialdemokratie. Vgl.

RABINOWICZ, A., S. 160.

82 Die Zahlen für Böhmen und Mähren zeigen deutliche Unterschiede: In Böhmen bekannten sich fast 50 Prozent zur tschechischen, etwa ein Drittel zur deutschen und nur der verbleibende Rest zur

Insgesamt läßt sich in der Zwischenkriegszeit eine zunehmende ,Tschechisierung‘ der jüdischen Bevölkerung feststellen. Die jüngere Generation, die in der Republik auf-wuchs und tschechische Schulen besuchte, identifizierte sich zunehmend mit dem tsche-choslowakischen Staat und tschechischen Idealen, während vor allem ältere Juden, die noch im Kaiserreich sozialisiert worden waren, an der deutschen Kultur festhielten.83

Im Zensus von 1930 ist sowohl in Böhmen als auch in Mähren ein leichter Anstieg der national orientierten Juden festzustellen, so daß für beide Gebiete zusammen nun der Anteil der Juden deutscher Nationalität hinter diejenigen jüdischer Nationalität zurückfiel.84

Trotz der gestiegenen jüdischen Bekenntnisse schritt die tschechische Assimilation weiter voran, was sich einerseits daran zeigt, daß in demselben Zeitraum die Zahl der jüdischen Gemeinden von 205 auf 170 sank85 und gleichzeitig eine stetige Zunahme von Mischehen festzustellen war.86

Mit dem wachsenden Antisemitismus in den deutschen Gebieten in den dreißiger Jah-ren nahmen zunehmend mehr Juden von der deutschen Kultur Abstand, was sich bei-spielsweise im Rückgang der jüdischen Schülerzahlen an deutschen Schulen wider-spiegelt.87 Ein Jude aus Prostějov faßte es 1937 in folgenden Worten zusammen:

„Es ist unmöglich, der heutigen jüdischen Jugend eine deutsche Ausbildung zu erteilen.

Wir müssen das Deutschtum ablehnen, obwohl wir dessen größter Verbreiter waren. Wir sprechen diese Sprache nur, weil sie für uns [...] zu einem universellen Ver-ständigungsmittel wurde, weil sie uns unseren großen Schriftstellern, Wissenschaftlern und schließlich uns selbst näherbrachte, für unsere Jugend hat jedoch das Erlernen dieser Spra-che keinen Sinn mehr.“88

jüdischen Nationalität, während hingegen in Mähren fast 50 Prozent die jüdische, nur etwa 15 Prozent die tschechische und ebenfalls etwa ein Drittel die deutsche Nationalität wählten. Vgl. Statistik in:

FRIEDMANN, FRANZ Einige Zahlen über die tschechoslowakischen Juden, Prag 1933, S. 23. Diese hohe Zahl an jüdischen Bekenntnissen in Mähren mag darauf zurückzuführen sein, daß die Juden dort mehr in geschlossenen Gemeinden lebten und daher traditionsgebundener waren als in Böhmen. Vgl.

IGGERS, W., S. 313.

83 Vgl.MENDELSOHN, S. 159.

84 In Böhmen geschah dies vor allem auf Kosten des deutschen Anteils, doch auch der tschechische ging leicht zurück. In Mähren dagegen verlor nur der deutsche Anteil Prozentpunkte, während sich der tschechische etwas verbesserte. Vgl. Statistik in FRIEDMANN, S. 25.

85 Vgl. WLASCHEK, RUDOLF M. Juden in Böhmen, Wien / München 1990, S. 82.

86 Vgl. MENDELSOHN, S. 160.

87 Laut Hahn besuchten im Schuljahr 1932/33 nur noch 16 Prozent der jüdischen Schüler in der Tschechoslowakei deutsche bzw. ungarische Schulen, im Gegensatz zu 84 Prozent, die auf tschechische oder slowakische Schulen gingen (HAHN, S. 32).

88 MAIMANN, SAMUEL Das Mährische Jerusalem, Prostějov 1937, S. 4.

In religiöser Hinsicht waren die Juden im westlichen Teil der Republik weitgehend sä-kularisiert, die meisten feierten keinen Sabbath mehr, hielten sich nicht an die Speise-vorschriften und besuchten, wenn überhaupt, die Synagoge nur an den Hohen Feiertagen (,Drei-Tages-Juden‘).89 Doch im Zusammenhang mit der jüdisch-nationalen bzw. zionistischen Bewegung und durch den Einfluß der orthodoxen Gemeinden im Osten des Landes erlebten jüdische Bräuche und Kultur in der Zwischenkriegszeit eine gewisse Renaissance. Vor allem in den dreißiger Jahren entstand in der jüngeren Generation eine Bewegung, die sich als Reaktion auf die fortschreitende Assimilation intensiv mit der Orthodoxie und dem Chassidismus zu beschäftigen begann.90

Was die Wirtschafts- und Sozialstruktur anbelangt, gehörten die Juden in den böh-mischen Ländern seit etwa 1900 bereits zur gutsituierten Mittelschicht. Neben dem all-gemeinen Urbanisierungstrend im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung sahen viele Juden in den Städten bessere Ausbildungsmöglichkeiten und Zukunftschancen für ihre Kinder. Zudem bot die Anonymität in der Stadt größeren Schutz vor antisemi-tischen Attacken. 1918 lebten in Böhmen und Mähren 80 Prozent aller Juden in Städten mit über 5.000 und 60 Prozent in Städten mit über 60.000 Einwohnern.91 Gemäß einer tschechoslowakischen Statistik von 1921 waren 61,8 Prozent der böhmischen und 62,4 Prozent der mährischen Juden selbständig, 22,7 bzw. 20,2 Prozent Angestellte und le-diglich 15,4 bzw. 17,3 Prozent Arbeiter. Dabei betrug ihr Anteil im Handels- und Finanzwesen in Böhmen 1930 60,8 bzw. in Mähren 55,9 Prozent, in den freien Berufen, der Armee und dem öffentlichen Dienst 22,6 bzw. 14,6 Prozent, in Industrie und Ge-werbe 22,6 bzw. 28,5 Prozent, in der Landwirtschaft dagegen nur 1,8 bzw. 1,0 Prozent.92 Was die Schulbildung betrifft, so war der Anteil an jüdischen Gymnasiasten und Studenten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überproportional hoch. Im Schuljahr 1935/36 beispielsweise waren 11,9 Prozent aller Studenten jüdischer Herkunft, während hingegen der jüdische Bevölkerungsanteil lediglich etwa 2,42 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte.93

89 Vgl. IGGERS, W., S. 211, sowie STRÁNSKÝ, HUGO The Religious Life in the Historic Lands, in: The Jews of Czechoslovakia, Vol.I., S. 330-357, hier S. 347f.

90 Vgl. HOSTOVSKÝ, EGON The Czech-Jewish Movement, in: The Jews of Czechoslovakia, Vol.II., S. 148-154, hier S. 153.

91 Vgl. POJAR, MILOŠ 1000 let společného života Židů a Čechů v českém státě, in: Akce Nisko v historii

„konečného řešení židovské otázky“. K 55. Výročí první hromadné deportace evropských Židů.

Mezinárodní vědecká konference, Ostrava 1995, S. 21-31, hier S. 27.

92 Vgl. HERMAN, JAN The Development of Bohemian and Moravian Jewry, 1918-1938, in: Papers in Jewish Demography 1969, Jerusalem 1973, S. 191-206, hier S. 193 sowie S. 201.

93 Vgl. MENDELSOHN, S. 142 u. S. 162.

Insgesamt läßt sich für den Zeitraum der Ersten Republik sagen, daß die Juden, zu-mindest was den westlichen Teil des Landes angeht, von staatlicher Seite keinerlei Dis-kriminierungen erfuhren. In der Bevölkerung kam es zwar in den ersten Jahren nach der Staatsgründung vereinzelt zu antijüdischen Auschreitungen,94 doch sie fanden keinen öffentlichen Widerhall.95

In den dreißiger Jahren wurde die Tschechoslowakei zum Zufluchtsort für jüdische wie politische Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Unter den böh-mischen Juden verstärkte diese Entwicklung die Loyalität gegenüber dem tschechoslo-wakischen Staat, in dem sie ein Bollwerk der bürgerlichen Freiheit und Demokratie sahen.96

In den deutschen Grenzgebieten spitzte sich die antisemitische Stimmung derart zu, daß es bereits in den Monaten vor dem Münchner Abkommen zu einer Fluchtbewegung ins Landesinnere kam.97