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D. Juden in der Tschechoslowakei – eine Analyse lebensgeschichtlicher

3. L.R

3.1.2.7. Bergen-Belsen

Die schrittweise Entmenschlichung findet in Bergen-Belsen ihren absoluten Höhepunkt, da die Zustände dort mit keiner früheren Erfahrung vergleichbar sind. Dies wird auch dadurch deutlich, daß hier das „samozřejmě“ nicht mehr auftaucht. L.s erste Eindrücke von dort sind bewegungslose Körper am Wegesrand276 und ein Berg Schuhe, was L. si-cherlich nichts Gutes ahnen ließ. Die Begegnung mit Bekannten im Lager bestätigt die-sen ersten Eindruck: „A říkaly nám, že to tam je strašný, že za prvé se nic nedělá, že jsou tam vši, že je tam hlad.“277 Die erste Unterkunft ist so überfüllt, daß man wie „Sar-dinen“278 geschichtet liegt, während es in der zweiten überhaupt kein Wasser gibt. Diese letzten Wochen sind nurmehr ein einziges Dahinvegetieren: „tam jsme tedy vegetovaly [...]“.279

Trotzdem will L. sich nicht einfach den Umständen ergeben, oder sie bemüht sich zumindest in der Darstellung um diesen Eindruck, und schildert, wie sie sich aktiv um Arbeit bemüht:

„Teď já jsem se snažila vždycky dostat někam, kde se dělá, protože jsem věděla, když někde budu něco dělat, že třeba k něčemu příjdu.“280

274 Dok. 2-7f.

275 Dok. 2-9.

276 „Šly jsme a videly jsme cestou, jak támhle někdo leží, támhle někdo leží, jestli byli živí nebo mrtví, to jsem nezaznamenala.“ „Wir gingen und sahen unterwegs, wie da jemand lag, dort jemand lag, ob sie tot oder lebendig waren, konnte ich nicht feststellen.“ Dok. 2-9.

277 „Und sie sagten uns, daß es dort schrecklich ist, erstens würde man nichts tun, es gebe Läuse und herrsche Hunger.“ Ebenda.

278 Ebenda.

279 „Dort vegetierten wir also [...].“ Dok. 2-10.

280 „Ich habe mich ja immer bemüht, irgendwohin zu kommen, wo man arbeiten kann, weil ich wußte, wenn ich irgendwo arbeite, komme ich vielleicht zu was.“ Dok. 2-9. Das einzige allerdings, was sie noch vor der Befreiung findet, sind Medikamente, was sie mit ihnen tat, wird nicht näher

In erster Linie bedeutet die Arbeit aber eine weitere Begegnung mit dem Tod, denn sie sieht, wie Häftlinge Leichen die Straße entlangschleifen und in ein Massengrab werfen:

„To bylo něco príšernýho, když to člověk zjistil, že to je vlastně člověk.“281 Die zwei-malige Verwendung des Begriffs ,Mensch‘ in diesem Satz ist sicherlich kein Zufall.

Einmal meint sie damit sich, das andere Mal die Toten, und wehrt sich damit gegen die sie umgebende Unmenschlichkeit.

Die Ankunft der Engländer bringt zwar die Befreiung, aber zunächst keine konkreten Veränderungen, da das Lager unter Quarantäne gestellt wird. Die Todesgefahr ist noch nicht gebannt, denn eine Typhusepidemie hat sich ausgebreitet, und die Engländer tra-gen ungewollt zu weiteren Todesfällen bei, da die ausgehungerten Häftlinge die von den Befreiern ausgeteilten Lebensmittel häufig nicht vertragen.

L. schildert ihr Entsetzen über die Zustände auf der Krankenstation und ihren erfolg-losen Versuch, Wasser für die Kranken zu organisieren. Doch immerhin zahlen sich ihre Streifzüge durch das befreite Lager aus. Sie findet Kleidung und Wäsche für sich, ihre Mutter und eine Freundin. Ihr Engagement ist also endlich wieder erfolgreich und bringt nicht nur ihr, sondern auch ihren Nächsten Erleichterung. Später, als sie erfährt, daß ihr Bruder am Leben ist, pflückt sie in den Wäldern Heidelbeeren, die sie gegen Zigaretten tauscht, um sie ihm mitbringen zu können.

Trotz der Entlausung und dem Umzug in andere Unterkünfte erkrankt L. schließlich auch an Typhus, weshalb sie das Lager bis Anfang Juli nicht verlassen kann.

Offensichtlich mißfällt ihr ihre erneute Passivität in der gerade wieder gewonnenen Freiheit sehr: „To už tady byla revoluce, to už tady byl konec, ale já jsem ještě byla v Belsenu.“282

Zusammenfassend läßt sich über L.s Darstellung der Verfolgungszeit sagen, daß zu den Themenfeldern Familie und Entmenschlichung, die Martas Erzählung dominieren, bei L. ein weiteres hinzukommt, nämlich ihr stetiges Bemühen um eine Verbesserung der Lage (Eigeninitiative). Deshalb bleibt sie auch vorwiegend in der erlebten Perspek-tive und nimmt die weitere Entwicklung seltener vorweg. Die Verfolgung beginnt für sie wie für Marta mit dem Einmarsch der Deutschen, doch den Hauptteil ihrer Erzäh-lung stellt ihre KZ-Haft, ein Prozeß der schrittweisen Entmenschlichung, dar, die mit

geschildert.

281 „Das war schrecklich, wenn man (tschech. Mensch) feststellte, daß das eigentlich ein Mensch ist.“

Dok. 2-9.

282 „Da war schon die Revolution [in Prag, Anm. H.S.], da war schon das Ende da, aber ich war immer noch in Belsen.“ Dok. 2-10.

dem Transport nach Theresienstadt beginnt und in Bergen-Belsen endet. Dank der Per-spektive des damaligen Erlebens können die einzelnen Umbruchsituationen und die zwischenzeitliche ,Gewöhnung‘ an einzelne Etappen sehr gut nachvollzogen werden.

Die einschneidendsten Erfahrungen waren sicherlich zum einen der Moment, als sie von dem sich vor ihren Augen vollziehenden Massenmord an ihrer ,Rasse‘ erfuhr und somit die Absichten des Nazi-Regimes offenlagen, und zum anderen die letzten Wochen in Bergen-Belsen, wo der Tod ebenso allgegenwärtig war wie in Auschwitz.

Das Wissen um den Ausgang des Krieges ist natürlich trotzdem in ihrer Erzählung präsent und prägt unbewußt die Darstellung. Da außer ihr auch Mutter und Bruder über-lebt haben, ist das Themenfeld Familie weniger zentral als bei Marta und wird von den Themenfeldern Entmenschlichung und Eigeninitiative überlagert.283 Die Ermordung des Vaters dagegen wird nie direkt ausgesprochen, was vermuten läßt, daß sein Verlust für sie eine Erfahrung ist, die noch immer sehr schmerzhaft ist.

Während Marta der Entmenschlichung immer wieder die Solidarität der tschechi-schen Häftlingsfrauen entgegensetzt, wehrt sich L. gegen die sie umgebende Unmenschlichkeit durch aktive Bemühungen, ihr Los und das der ihr nahestehenden Personen zu verbessern, weshalb sie wesentlich häufiger als Marta in der ersten Person Singular erzählt.

3.1.3. Nach 1945

Das vorrangigste Problem nach der Rückkehr aus dem Lager ist das Fehlen einer Wohnung (ausführlich schildert L. die Wohnungssuche ihrer Mutter und die Umstände, die zur Rückgabe der Wohnung ihres späteren Mannes führten) und die völlige Mittel-losigkeit.

L. selbst verläßt Prag bald wieder, um in einer Fabrik im Grenzgebiet zu arbeiten. Sie nennt zwar keine Gründe dafür, aber angesichts dessen, wie zentral für sie ihrer eigenen Darstellung nach im Leben das Arbeiten bzw. permanentes Engagement ist, kann man vermuten, daß sie auch jetzt wieder selbst aktiv werden wollte, um neu anzufangen und zumindest die materielle Not zu beheben. Auch nach ihrer zweiten Rückkehr nach Prag schildert sie als erstes, wie und wo sie dort eine Arbeit findet. Erst dann kommt sie auf ihren zukünftigen Mann und die Familiengründung zu sprechen. Die ersten Jahre sind

283 Allerdings wird durch die Eigeninitiative meist wiederum versucht, die Lage von Familienange-hörigen oder Freunden zu verbessern, sie ist also kein Zug von Egoismus, sondern von Fürsorge.

nicht einfach, da sie nur vom Gehalt des Mannes leben, solange die Kinder klein sind.

Aber später beginnt L. gegen den Widerstand ihres Mannes wieder zu arbeiten, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen.

Ein weiterer Einschnitt in ihrer Biographie ist die tödliche Erkrankung ihres Mannes gerade zu einem Zeitpunkt, „als wir aus dem Schlimmsten heraus waren.“284 Dadurch gerät die Familie erneut in finanzielle Nöte, und die Tochter muß ihren Wunsch zu stu-dieren aufgeben und stattdessen arbeiten gehen. L. ist überzeugt, daß die Krankheit ihres Mannes eine Spätfolge seiner KZ-Haft ist, womit die Shoah ein weiteres Mal massiv ihr Leben beeinflußt.

Über die weitere Familiengeschichte bis zur Geburt ihres Urenkels spannt sie den Bo-gen zur GeBo-genwart und kommt ebenfalls auf die so lange ausgebliebene Entschädigung zu sprechen, die ihr jetzt, in ihrem hohen Alter, nur noch wenig nütze.

Auch nach dem Krieg bleiben also die gleichen Themenfelder dominant: Fürsorge für die Familie, und zu diesem Zwecke persönliche Initiative auf der einen Seite, und die Erfahrung des Holocaust auf der anderen Seite.

3.1.4. Zusammenfassung

Auch L.s erzählte Lebensgeschichte ist also von der Shoah dominiert, doch im Gegen-satz zu Marta kann L. nach dem Krieg an die Zeit vor der Verfolgung anknüpfen, da sie nicht vollkommen allein dasteht. So gelingt es ihr, ein einheitliches Bild ihrer Persön-lichkeit zu entwerfen und Vor- und Nachkriegszeit in einen Sinnzusammenhang zu bringen, basierend auf der Verfolgungserfahrung,285 sich niemals auf andere zu verlas-sen, sondern stets durch das eigene Handeln das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Die beiden wesentlichen Erlebnisse aus der Vorkriegszeit – katholischer Reli-gionsunterricht und sportliches Engagement – stehen ebenso in diesem biographischen Kontext wie die Tatsache, daß sie nach dem Krieg als erstes zu arbeiten beginnt und sich später gegen den Willen ihres Mannes mit ihrem Arbeitswunsch durchsetzt, um die finanzielle Lage der Familie zu verbessern. Auch die Darstellung der KZ-Haft ist im wesentlichen vom Themenfeld Eigeninitiative geprägt, das der zunehmenden Ent-menschlichung mehr oder weniger erfolgreich entgegengesetzt wird. Die

trauma-284 „když jsme se z toho nejhoršího dostali.“ Dok. 2-12.

285 Und hierher gehört ihrer eigenen Interpretation nach auch der frühe Tod ihres Mannes, durch den die Familie über zwanzig Jahre nach Kriegsende noch einmal durch den Holocaust in existentielle Bedrängnis gerät.

tischsten Erfahrungen sind daher vermutlich diejenigen, die sie zu völliger Passivität zwingen und keine Handlungsmöglichkeiten mehr bieten, wie das Schicksal des Vaters und der anderen ,Arbeitsunfähigen‘ in Birkenau (was sie wohl deshalb nicht artikuliert), das Angewiesensein auf die Essensrationen im Lager in Ermangelung anderer Nahrungsquellen und schließlich das Massensterben in Bergen-Belsen, wo ihre Hand-lungsversuche erfolglos bleiben.

3.2. Soziale Identität

Auch L. sieht sich vorrangig als Tschechin. Noch stärker als bei Marta fällt auf, daß sie die Bezeichnung ,Jude‘ oder ,jüdisch‘ nie verwendet, mit Ausnahme der Erwähnung des Besuchs des jüdischen Religionsunterrichts ab der dritten Klasse, was aber auch so ge-deutet werden kann, daß die Religion eine so geringe Rolle in ihrem Elternhaus spielte, daß niemand daran Anstoß nahm, das Kind in den ersten Schuljahren in den katho-lischen Unterricht zu schicken. Vielmehr taucht ,Jude‘ nur als Schimpfwort seitens eines deutschen Aufsehers auf, der die Häftlinge als „Saujuden“286 beschimpft, d.h auch für L. ist ,Judesein‘ etwas von außen Aufgezwungenes, das für die Definition ihrer selbst bis zur Verfolgung keine Rolle gespielt hat. Im Gegenteil war sie im tschechisch-nationalen Turnverein Sokol aktiv und wuchs, wie bereits erwähnt wurde, in einem tschechisch-patriotischen Haushalt auf.

Es ist denn auch gewiß kein Zufall, daß nach der Befreiung, noch bevor sie zurück-kehrt, ihre Identifikation mit der tschechischen Nation zweimal angedeutet wird:

Einmal erklärt sie hier das ,wir‘: ,my‘ „z Čech“,287 und zum anderen nimmt sie Bezug auf die Prager Revolution,288 die, historisch wie auch immer einzuordnen, die aktive Zurwehrsetzung des tschechischen Volkes gegen die deutsche Besatzungsmacht symbolisiert.

Nach 1945 heiratet sie ebenfalls einen jüdischen Holocaust-Überlebenden. Aber sie erwähnt diese nicht unerhebliche Tatsache erst auf ein Nachfragen meinerseits, und auch hier fällt der Ausdruck ,Jude‘ nicht, vielmehr beginne ich die Frage: „Váš manžel taky byl...?“, woraufhin sie sofort ergänzt: „Můj manžel, ano“,289 und dann die Stationen seiner Lagerhaft aufzählt.

286 Dok. 2-7.

287 ,wir‘ „aus Böhmen“. Dok. 2-11.

288 Ebenda.

289 „Ihr Mann war auch [...]?“ „Mein Mann, ja.“ Dok. 2-12.

Auch wenn sie nicht wie Marta explizit erklärt, warum sie einen Überlebenden gehei-ratet hat, so ist doch zu vermuten, daß es ähnliche Gründe waren. Außerdem taucht auch in ihrer Erzählung ein ,wir‘ der Überlebenden auf, als sie sich über die so lange ausgebliebenen Entschädigungszahlungen empört.

Das ,Jüdischsein‘ ist also für sie kein freiwilliger, positiver Bestandteil ihrer Identität, sondern nur mit der Verfolgungserfahrung verknüpft, die sie in ihrem weiteren Leben für immer mit den anderen jüdischen KZ-Überlebenden verbindet.