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Niederschlag sozialer und historischer Faktoren im subjektiven Erleben

E. Abschließende Bemerkung

1. Niederschlag sozialer und historischer Faktoren im subjektiven Erleben

• Geschlecht

Von den sozialen Faktoren ist zunächst das Geschlecht zu nennen, das für das Selbstbild und die Themenwahl von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Bei den Frauen dominiert die private Sphäre, im Mittelpunkt steht die Familie und die Sorge um ihr Wohlergehen, bei Jirka hingegen der öffentliche Bereich, Beruf und Politik. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, daß die Frauen sehr ausführlich über ihre Lagererfahrungen sprechen, während Jirka diese Phase knapp und chronistisch hält. Man könnte vermuten, daß es den Frauen leichter fällt, über Persönliches zu sprechen, da sie sich vor allem darüber definieren, Jirka aber seine Lebensgeschichte gemäß seinem wissenschaftlichen Interes-se Interes-sehr nüchtern und analytisch präInteres-sentiert und daher subjektive Details und besonders erniedrigende Momente der Lagerhaft weniger thematisiert.368

• Ethnisches Umfeld

368 Er schildert im Gegensatz zu Marta und L. weder die Fahrt im Viehwaggon und die Ankunft in Auschwitz, noch seine erste Begegnung mit der Realität der Gaskammern, und auch der Todes-marsch erscheint lediglich als Datum – „Es kamen dann noch die berühmten Todesmärsche“ (Dok.

4-5) -, ohne daß näher auf die Umstände eingegangen wird.

Weiter ist das ethnische Umfeld, in dem die Interviewpartner aufwuchsen, von Bedeu-tung, denn Eva und Jirka erfahren als deutsch assimilierte Juden bereits vor der Okkupation Diskriminierungen durch die deutsche Umgebung. Damit liegt der bio-graphische Einschnitt, der die Verfolgung einleitet, bei ihnen wesentlich früher als bei den beiden tschechischen Jüdinnen, für die diese Erfahrung erst mit dem deutschen Einmarsch beginnt. Außerdem bringt die Shoah für Eva und Jirka eine völlige Abkehr von ihrer deutschen Herkunft, wenn auch in Evas Fall möglicherweise weniger als bewußte Entscheidung, denn aufgrund der Tatsache, daß mit ihrer Familie auch die Kindheit im Sudetenland unwiederbringlich verloren ist.

• Elternhaus

Was das Elternhaus anbelangt, so stammen alle aus der Mittelschicht und repräsentieren das jüdische bürgerliche Milieu von Handel- und Gewerbetreibenden einerseits oder Angestellten des öffentlichen Dienstes (Jirkas und Evas Vater waren Gymnasiallehrer) andererseits. Ihre Eltern bzw. Großeltern halten noch die großen jüdischen Feiertage, aber die jüdische Religion hat im Alltag keine Bedeutung mehr. Der erste schmerzhafte biographische Einschnitt durch die Verfolgung ist daher für alle vier der Verlust des früheren bürgerlichen Sozialstatus und die grundsätzliche Erfahrung der Ausgrenzung aufgrund ihres ,Jüdischseins‘, das für sie bisher keine wesentliche Rolle gespielt hat.

• Lokalität

Ferner hat sich gezeigt, daß Marta am stärksten die erfahrene soziale Ausgrenzung the-matisiert, was vermuten läßt, daß der soziale Druck in der Kleinstadt Tábor wesentlich größer war als in Prag. Außerdem ist sie die einzige, die neben dem Verlust des Sozial-status auch andere Verbote aufzählt. Eva hingegen, für die bereits die Flucht 1938 den Zusammenbruch der Normalität in sozialer wie materieller Hinsicht bedeutete, erwähnt die ab 1939 einsetzenden antijüdischen Maßnahmen überhaupt nicht, was deutlich die unterschiedliche Wahrnehmung historischer Wirklichkeit zum Ausdruck bringt.

• Soziale Position

Dies zeigt sich auch, wenn man vergleicht, welche Funktion Theresienstadt in den vier Biographien einnimmt, eine Erfahrung, die alle teilen: Von zentraler Bedeutung ist bei allen die soziale Stellung der eigenen Person und der Familienangehörigen im Ghetto, die durch Beruf, Privilegien oder Kontakte maßgeblichen Einfluß auf die Ernährungs-lage und den Schutz vor Transporten hatte. Nur bei Marta fehlt das Themenfeld Essen

völlig, was dadurch zu erklären ist, daß sie im Gegensatz zu den anderen nicht aktiv an der Lebensmittelbeschaffung beteiligt, durch ihren Bruder aber ausreichend versorgt war, so daß dieses Problem angesichts der permanenten akuten Bedrohung durch abge-hende Transporte kaum ins Gewicht fiel. Bei L. hingegen ist die Transportangst kein Thema, was wiederum annehmen läßt, daß ihre Familie bis zum Zeitpunkt der Deporta-tion vor Transporten geschützt war.

• Ausgeliefertsein

Trotz eines gewissen Maßes an ,Normalität‘ im Theresienstädter Lageralltag beginnt schon hier die grausame Willkür der Selektion, die zuerst die einen, dann die anderen vor Transporten bewahrt, um letztlich dann doch fast alle zu deportieren und nur mehr einen Bruchteil der Protektoratsjuden im Ghetto zurückzulassen. Insofern sind es nun rein willkürliche äußere Umstände, die das Erleben dieser Phase prägen. Eva bleibt völ-lig allein als eine der wenigen in Theresienstadt zurück. Die letzten Kriegsmonate brin-gen für sie bis kurz vor Kriegsende, als die Evakuierungstransporte das Lager erreichen und eine Typhusepidemie ausbricht, keine neuen Erfahrungen. Die Vorteile ihrer sozia-len Stellung haben für sie jeglichen Sinn eingebüßt, da niemand mehr da ist, den sie da-durch versorgen könnte, so daß aus diesem Zeitraum nichts mehr thematisiert wird. Für Marta, L. und Jirka hingegen beginnt mit der Deportation nach Auschwitz-Birkenau der eigentliche Leidensweg. Marta, an der Rampe von ihren Eltern getrennt und von nun an ebenfalls allein, versinkt größtenteils im ‚wir‘ des tschechischen Häftlingskollektivs, dessen Solidarität der äußeren Entmenschlichung entgegengesetzt wird. Auch Jirka wird durch den Transport von seinen Angehörigen getrennt, und in seiner Darstellung steht ein ,wir‘ im Vordergrund, das die Gruppe der Neuankömmlinge in Gleiwitz bezeichnet, die sich von den bereits zu ,Muselmännern‘ gewordenen dortigen Häftlingen abhebt und sich noch nicht aufgegeben hat. Durch ihre Hoffnung bewahren sie sich einen letzten Rest Menschlichkeit. L. bleibt bis zur Befreiung mit ihrer Mutter zusammen, so daß ihre Schilderung wesentlich ichbezogener ist, und sie reagiert auf Augenblicke völliger Pas-sivität und Entmenschlichung stets mit Fürsorge für Hilfsbedürftige, etwa im Familien-lager durch ihre Arbeit bei den Kindern. Solidarität, Hoffnung und zwischen-menschliche Fürsorge, so wehrt sich jeder auf seine eigene Weise gegen den Verlust der Menschenwürde.

• Einsamkeit und Mittellosigkeit nach der Rückkehr

Nach der Befreiung stehen die Überlebenden vor dem materiellen Nichts, ihr früheres

soziales Umfeld ist zerstört, die Wiedereingliederung ins Alltagsleben erfordert ange-sichts der traumatischen KZ-Erfahrungen und des Verlusts der alten Welt sehr große Anpassungsleistungen.

Hier tritt wieder die geschlechtliche Komponente zum Vorschein. Die Frauen hei-raten und gründen eine neue Familie, wenn auch L. im Gegensatz zu Eva und Marta erst 1946, Jirka nimmt unmittelbar sein Studium auf und wird in der kommunistischen Par-tei aktiv. In der Darstellung schlägt sich dieser Unterschied darin nieder, daß alle drei Frauen ihre völlige Mittellosigkeit und insbesondere das Problem, eine Wohnung zu finden, ausführlich schildern, während Jirka die materielle Not gar nicht thematisiert, sondern stattdessen intensiv auf das Themenfeld Kommunismus eingeht. Parallel dazu bleibt die weitere Schilderung der Frauen vorwiegend auf den persönlichen Bereich be-schränkt, während Jirka, gerade wegen seines politischen Engagements exponiert, nach der kommunistischen Machtübernahme im Zuge des Slánský-Prozesses erneut Opfer staatlicher Repressionen wird, was seinen weiteren Lebensweg massiv beeinflußt.

• Prager Frühling

Nach der Enttäuschung über das gewaltsame Ende des Prager Frühlings verläßt Jirka mit seiner Familie das Land. Offenbar war dieses historische Ereignis auch für Eva und L. von erheblicher Bedeutung, wenn auch wiederum weniger bezüglich der eigenen Person denn eines Familienmitglieds. So geht Evas Tochter ebenfalls in die Emigration,369 und L. verschafft ihrem Sohn eine Lehrstelle, da sie fürchtet, er könne eingezogen werden. In Anbetracht dessen, daß damals ein Drittel der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde die Tschechoslowakei verließ, kann man vermuten, daß die erneute militärische Besetzung des Landes unter den Überlebenden alte Ängste wieder hochkommen ließ und viele veranlaßte, diesmal sofort die Koffer zu packen, bevor es wieder zu spät wäre.

Hier kann man bereits erkennen, daß die Shoah diejenige Erfahrung ist, die das Er-leben der Nachkriegszeit bis heute am nachhaltigsten beeinflußt hat, weshalb sie natur-gemäß auch ausschlaggebend ist für die Gegenwartsperspektive und das Selbstbild der Biographen. Dies führt unmittelbar zu der Frage nach der Beziehung zwischen Ge-schichtserfahrung, Erinnerung und Erzählen.

369 Vgl. Eva R., Anm. 321.

2. Wechselwirkung zwischen Erleben, Erinnerung und biographischer