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5. Wahlgeographische Charakteristika 1790 bis 1947

5.2. Wahlgeographische Charakteristika von 1848 bis 1867

Auf der Grundlage der historischen Diskursanalyse gilt die Epoche nach der Niederschlagung der Märzrevolution von 1848 bis zum österreich-ungarischen Ausgleich als ein „eingefrorenes Zeitalter“. Die als Antwort auf 1848 wieder eingerichtete absolutistische Politik Wiens hatte zur Folge, dass die bis dahin in der Öffentlichkeit formulierten und diskutierten Reformgedanken einfroren, als sie 1867 im Zuge der Verhandlungen der Ausgleichsgesetze erneut zum Vorschein gelangen konnten. Da es in der Periode 1848-1867 keine Wahlen stattgefunden haben, konnten für diese Zeit keine wahlgeographischen Charakteristika definiert werden.

5.3. Wahlgeographische Charakteristika von 1867 bis 1918 Abbildung 8: „Konfliktstruktur“ der Komitate von 1867 bis 1918

Konfliktstruktur der Komitate bei den Abgeordnetenwahlen 1867-1918

Unterhaus Westernizer-Hochburgen - (Mäßige Habsburggegner), 67er550 - liberal-konservativ (eher habsburgtreu)

Traditionalisten –Hochburgen (Radikale Habsburggegner), 48er551 -

1875-1896 Deák-Partei bis 1875:

Moson, Sopron, Westliche Teile von Vas und Zala,

Baranya, Veszprém, Komárom (40-60 %)

Unabhängigkeitspartei, vorher

Beschlusspartei, Linkspartei, 48er Partei (galten als linksextrem):

Zemplén, Borsod, Heves, Fejér, Östliche Teile von Zala,

Nógrád und die Städte Esztergom, Székesfehérvár, Miskolc (50-70%)

550 Anhand der Wahlergebnisse der Deák-Partei in den Komitaten des heutigen Ungarns, nach Varga 2010, S. 34f.

551 Anhand der Wahlergebnisse der Oppositionsparteien (Unabhängigkeitspartei und ab 1896 Katholische Volkspartei,) in den Komitaten des heutigen Ungarns, nach Varga 2010, S. 34f.

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Hochburgen im Komitat Sopron und in den Städten West-Transdanubiens: Zalaegerszeg, Zalaszentgrót, Letenye, Baksa, Nagykanizsa, Keszthely, Zurány, Magyaróvár, Köszeg, Sárvár

Eigene Darstellung.

Anhand der Wahlergebnisse lässt sich ablesen, dass die habsburgfeindliche Unabhängigkeitspartei bis 1918 traditionsgemäß in einigen Komitaten in Transdanubien und auf der Ungarischen Tiefebene stark vertreten war. In Regionen mit hohem Nationalitätenanteil (Slowaken, Serben, Deutsche und Rumänen) – wie zum Beispiel in der Hauptstadt – hat sie eine mindere Rolle gespielt. Auffallend ist, dass die katholischen Regionen des damaligen Ungarns sich vielmehr für die Unabhängigkeitspartei entschieden haben. Die Katholische Volkspartei konnte sich in den Komitaten mit Bischofs- und Erzbischofssitzen wie Esztergom und Székesfehérvár nicht etablieren. Sie entwickelte sich lediglich zu einer subregionalen Partei in West-Transdanubien. Die gemäßigt habsburggegnerische Deák-Partei und die Freisinnigen552 konnten sich in den Regionen mit hohem Nationalitätenanteil; in Transdanubien, in den bergwerklichen Regionen, und in den Städten inklusive der Hauptstadt etablieren.553 Die Nachfolgepartei der Freisinnigen, die Nationale Arbeitspartei konnte später jene Regionen für sich gewinnen, die früher als Hochburgen der Freisinnigen galten. Diesen Befund bestätigt die empirische Analyse József Paps über die Wahlergebnisse der Freisinnigen und der Arbeitspartei in dem Zeitraum von 1901 bis 1910.554

Als Prägekraft im Dualismus lässt sich die Kontinuität einer von den (wenigen) politischen Eliten geprägten politischen Kultur feststellen, in der die ungarische Gesellschaft über kaum

552 Aufgrund der internen Krisen innerhalb der Deák-Partei und der durch die Politik von Kálmán Tisza ausgelöste Abmilderung der Gegensätze zwischen der Deák und der oppositionellen Mittelinks Partei (Balközép, abgeleitet nach der linken Platzierung der Partei im Parlament) kam es zur Fusion der beiden Großparteien. Am 1. März 1875 wurde die Freisinnige Partei gegründet.

553 Varga 2010, S. 41ff.

554 Vgl. József Pap: Szabadelvü és Munkapárti választási eredmények és képviselök 1901 és 1910 között, [Wahlergebnisse und Abgeordnete der Freisinnigen Partei und der Arbeitspartei zwischen 1901 und 1910], in: Zoltán Maruzsa/László Pallai (Hrsg.): Tisza István és emlékezete: Tanulmányok Tisza István születésének 150. Évfordulójára [István Tisza und seine Erinnerung: Studien über István Tisza anlässlich des 150. Jahrestages seines Geburtstages], Debrecen 2011, S. 59-78., hier. S. 78.

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einen Geltungsbereich verfügte. Der Charakter der „anonymen Gesellschaft war zudem durch das geltende eingeschränkte Wahlrecht555 gestärkt.

Für den Zeitraum von 1790 bis 1848 konnten – trotz der geringen Aussagekraft – einige wahlgeographische Merkmale festgestellt werden. Wie bereits oben aufgezeichnet, galten die westungarischen Komitate als habsburgfreundlich, jedoch nicht aufgrund einer fortschrittlichen Denkweise, sondern im Gegenteil, im Sinne der „Konservierung“ ihrer alten Vorrechte. Daher trifft auf diese Gruppe die Bezeichnung der Legitimisten zu, da sie das Herrscherhaus und die Herrscherfamilie lediglich aus eigenem Interesse anerkannten.

Infolge des österreich-ungarischen Ausgleichs 1867 änderten sich plötzlich die ideologischen Gegensätze, zumal die Bestrebung nach einem unabhängigen Ungarn im Sinne der 1848er Tradition zunächst an Aktualität verlor. Die alten Gegensätze fanden sich nun entlang des „populären“ Liberalismus wieder, und die politische Landschaft war durch den Konflikt zwischen den moderaten und den radikalen Ablehnern des Habsburghauses geprägt. Die habsburgfeindliche Stimmung wurde durch die in den Ausgleichsgesetzen festgelegte Notwendigkeit der engeren Zusammenarbeit Österreichs und Ungarns in Gesetzgebungsprozessen und wirtschaftlichen Angelegenheiten zusätzlich verstärkt. Der vor 1848 eingefrorene Konflikt zwischen Westernizern und Traditionalisten wurde nach dem Stunde Null von ´67 – zwar mit etwas verändertem Inhalt – im Konflikt zwischen den 67ern und den 48ern wiederbelebt.

Die 67er, die eine gemäßigte Politik verfolgten, konnten erneut im westlichen Teil Ungarns und in den Städten (inklusive Budapest) nennenswerte Erfolge erzielen. Die radikalen (früher linksradikalen) Kräfte in der Tradition der 48er erhielten in den östlichen Regionen und in den mittelgroßen Städten Zuspruch. Die bipolare Konfliktstruktur des Landes im Zeitraum von 1867 bis 1918 fand wiederholt ihre Ausprägung im regionalen Wahlverhalten.

Über die regionalen Hochburgen der Konservativen – nach dem heutigen Verständnis Christlich-Konservativen – um die Familie Dessewffy, die als Nachfolger der habsburgfreundlichen Legitimisten galten, sind keine Daten verfügbar. Sie konnten bei der

555 Durch das Wahlgesetz von 1848 war ca. 7-8 Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt, durch das Wahlgesetz von 1874 ist dieser Anteil auf ca. 6 Prozent zurückgefallen. Das Nachkriegswahlgesetz von 1918, das lediglich ein paar Wochen lang in Kraft war, brachte keinerlei Veränderungen. Vgl. Lajos Varga: Országgyülési választások a dualizmus korában [Unterhauswahlen im Dualismus], in: György Földes/László Hubai (Hrsg.): Parlamenti választások Magyarországon 1920-2010 [Parlamentswahlen in Ungarn, 1920-2010], 3. überarb. Aufl., Budapest 2010, S. 15-46, hier S. 16ff.

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Parlamentswahl 1865-68 21 Mandate erringen,556 und sich als dritte politische Kraft neben der Deák-Partei und den linken Kräften für eine kurze Zeit etablieren.