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Dominante Konfliktstrukturen 16-17. Jahrhundert bis 1947

4. Zusammenfassung der historischen Diskursanalyse 1790 bis 1947

4.2 Dominante Konfliktstrukturen 16-17. Jahrhundert bis 1947

Die ideologische und strukturelle Zweiteilung des Landes zog sich durch die ungarische Geschichte. Im Folgenden werden die wichtigsten dichotomen Konfliktstrukturen seit 1790 zusammenfassend aufgezeichnet.

16-17. Jahrhundert: Nach der Türkenbefreiung kam zum ersten Mal der Konflikt zwischen den Anhängern der Habsburg-Dynastie und den Habsburggegnern zum Vorschein, die in den gegnerischen Auseinandersetzungen der kaiserlichen Truppen, (Labanzen) und den Kuruzen, den Kreuzzugssoldaten von György Dózsa und später den antihabsburgischen Bauern im Königreich Ungarn (1671-1711) eskalierten.

1790-1848: Nach dem Teilerfolg der Gegenreformation und den Gegensätzen zwischen den ausländischen Absolutisten unter Joseph II. und den ungarischen Ständen kam auch der Konflikt zwischen den Habsburggegnern und den Habsburgtreuen auf der Ebene der Komitatsgesandten zum Vorschein. Während des Reformzeitalters spitzte sich der alte Konflikt zu, und im Zuge der Blütezeit der liberalen Ideologien formierte er sich zum Gegensatz zwischen den Westernizern und Traditionalisten. Dieser Konflikt fand seine

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Zuspitzung im Zuge der Märzrevolution sowie in der kritischen Auseinandersetzung über die Bedeutung des Freiheitskampfes.

1848-1867: Aus Sicht der Parteiengründungen gilt dieser Zeitraum als eine der buntesten Perioden. Dennoch, auch aufgrund des „hegemonialen“ Parteiensystems, in dem nur die Freisinnige Partei erfolgreich sein konnte, waren nach der Niederschlagung der März-Revolution (1848) die früheren Konflikte eingefroren, und innerhalb der ungarischen Gesellschaft die alten Gegensätze zunächst verklungen.

1867-1918: Der Konflikt zwischen den Habsburggegnern und Habsburgtreuen überlagerte die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern und den Gegnern von 1867 über, also in den Konflikt zwischen den 1848ern und den 1867ern. Dieser ideologische Gegensatz wirkte auch auf die Parteigründungen.

1918-1947: Der Konflikt zwischen den 67ern und den 48ern wurde im Zuge der Industrialisierung von den gegensätzlichen Interessen in den Städten und auf dem Land, vertreten zum einen durch die sozialdemokratischen Kräften, und zum anderen die christlich-konservativen Landwirten. Die Rechtsextremen bildeten den dritten Block. Die Entstehung einer Bauernromantik und die entsprechenden Parteien schwächten die Gegensätze zwischen den Traditionalisten und den Westernizern zunächst ab. Zum dominanten Konflikt avancierte jener zwischen den Agrarpopulisten und den Urbanisten.

Aber auch der Gegensatz zwischen den Traditionalisten und Westernizern, der sich weiterhin aus den kontroversen Debatten um das ungarische Staatsrecht bediente, existierte weiterhin.

1921-1939: Der Konflikt zwischen den Legitimisten und Oppositionellen, also zwischen den Monarchie-Anhängern mit König aus dem Habsburghaus und den Anhängern der freien Königswahl bestimmte das politische Leben der 20er Jahre, die vor allem zwischen der Bethlen´schen Einheitspartei und der Andrássy-Friedrich-Partei und ihrer Nachfolgeparteien sowie um die Führungsfiguren Sigray, Friedrich und Eckhardt auf der einen und Bethlen auf der anderen Seite ausgetragen wurde. Für diesen Konflikt gilt, dass die Vertreter beider Lager im Sinne der Nationsbildung als Traditionalisten anzusehen sind und den christlich-nationalen Werten treu waren.

Nach der Zentrum-Peripherie-Dichotomie Rokkans ist festzuhalten, dass die Konservativen im Prozess der Nationenbildung bis 1848 die Politik der Habsburger, die durch das die obere

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Mittel- und die Oberschicht bevorzugende Privilegiensystem bestimmt war befürworteten.

Folglich erkannten sie Wien als politisches, kulturelles und gesellschaftliches Zentrum an.

Die liberale Opposition dagegen strebte die Abschaffung des Status Quo an und konkurrierte beispielsweise durch die zunehmende Förderung von Budapester Entwicklungsprojekten mit Wien und versuchte Ungarn aus der peripheren Lage innerhalb der Monarchie in Richtung Zentrum zu bewegen. Dieser Grundkonflikt zeigte sich auch in den „Restriktionen der Allianzbildungen“528 , welcher nach den Rokkansch´en Allianzschemata dem Typus 1 zuzuordnen ist, in dem die Akteure „N“ und „D“ sowie „N“ und „P“ stets ein oppositionelles Verhältnis zueinander pflegen, womit eine Allianzbildung beider Parteien ausgeschlossen ist. Im Kampf um den Einfluss der Kirche während der Reformation, im Gefecht um die Kontrolle über die Masseneinrichtungen im Prozess der „Demokratischen Revolution“ und während der industriellen Revolution der Kampf um die Interessen der Grundbesitzer auf dem Land und den städtischen Ansprüchen definierte Rokkan die die Konfliktstrukturen bestimmenden Akteure. 529Mit Akteur „N“ bezeichnet Rokkan als den „zentrale[n] Kern kooperierender „Nationen-Erbauer“, die wesentliche Teile des „Staats“-Apparates kontrollieren“. „D“ steht für „non-konformistische religiöse Dissidenten“ und „P“ für die oppositionellen Bewegungen in der Peripherie, die sich gegen das Machtgefüge im Zentrum auflehnen.530 Im ungarischen Fall bildeten die Konservativen die „N“-, die liberale Opposition die „P“-Akteure. In seinem Akteurskonzept unterschied Rokkan zwischen der

„national-territorialen Kirche mit weitreichender Kontrolle über das Bildungswesen“531

„K“ – als eine Institution, die sich dem Volk untergeordnet hat und der „supranationalen, der Römischen Kurie und dem Papst unterstellten Kirche“532 – „R“ – , die als Staatskirche fungierte.

Insgesamt definierte Rokkan sieben Akteure, die in den drei kritischen Phasen fünf Typen von Allianzbildungen, abhängig von den historischen Ausprägungen, in den Ländern hervorbrachten. Bestimmend für die Allianzbildungen war, mit welchen Akteuren „N“ im Zentrum zum einen auf der religiösen und zum anderen auf der ökonomischen Front Allianzen eingeht. Auf der ökonomischen Achse standen die Akteure „L“, symbolhaft für

528 Vgl. Rokkan, n. Flora 2000, S. 379.

529 Vgl. ebd., S. 378ff.

530 Vgl. ebd., S. 379.

531 Ebd.

532 Ebd.

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die „kooperierenden Landbesitzer“ und „U“ als „kooperierende städtische Unternehmer in Handel und Industrie“533 zur Alternative.

Im Vorfeld der Nationalen Revolution suchten die N- Akteure in Ungarn, ähnlich zu Österreich, beeinflusst durch die antireligiöse Einstellung im Josephinismus – auf der religiösen Achse Allianzen mit dem Akteur „R“, wo Kirchen lediglich die Aufgabe hatten, Religion zu unterrichten. Sie wurden von anderen sozialen Aufgaben bewusst ferngehalten.

Die Akzeptanz dieser Art von Religiosität zeigte sich auch in der Verbreitung der Freimaurer-Logen, die mit der „Religion ohne Pfarrer“ sympathisierten. 534 An der ökonomischen Front wurden im Zentrum mit den Landbesitzern Allianzen geschlossen.

Entgegen dem sich säkularisierenden Österreich haben sich die Akteure in der ungarischen Peripherie – ebenfalls bedingt durch die historischen legacies und Interessen – als Reaktion auf die Partnerwahl im Zentrum auf der religiösen Achse den Akteuren „K“ angenähert und strebten die Ausweitung der kirchlichen Zuständigkeitsbereiche an. An der ökonomischen Front waren sie bemüht, die urbanen Interessen zu vertreten und dementsprechend Allianzen zu etablieren.

533 Ebd.

534 Vgl. István Nemeskürty: Mi Magyarok [Wir Ungarn], Budapest 1993, S. 328.

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4.2.1 Abbildung 6: Übersicht der Konfliktstrukturen bis 1947

Zeitraum Konflikte Parteien entlang den Konflikten

16-17. Jh. Kuruzen vs. Labanzen Keine Untertanen Keine

18-19. Jh. Habsburggegner vs.

1848-1867 Freezing Freisinnige Partei Anonyme

Gesellschaft, da

Gesellschaft 1867 (Männer 20. Lj, Wohnort in Ungarn, religiös, Steuer- oder

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Bildung der Allianzen und der spätere Charakter des ungarischen Parteiensystems hauptsächlich durch die Ab- versus die Zuneigung zum Habsburgerhaus bestimmt waren. Dies bestimmte auch die Koalitionsbildungen auf der ökonomischen und der religiösen Achse. Denn die Anhänger des Habsburgerhauses waren ähnlich zu dem österreichischen katholischen Herrscherhaus, Verfechter der supranationalen römisch-katholischen Kirche. Vor der Märzrevolution war es die Konservative Partei, die im Hinblick auf die Erhaltung der aristokratischen Vorrechte die Metternich-Regierung unterstützte und innerhalb der Gesellschaft sich vor allem auf den ungarischen Adel und Landbesitzer stützte. Die Konservativen zusammen mit den Habsburggegnern bildeten das Zentrum, also den Akteur „N“, für den im Prozess der demokratischen Revolution die oppositionellen liberalen Partei (ELP) den Erzfeind bedeuteten. Die ELP suchte sich Allianzen aus dem Lager der Habsburggegner und kämpften neben der Versammlungs-, Presse- auch für die Religionsfreiheit. Zugleich muss betont werden, dass die Kirche im Kampf gegen das Herrscherhaus eine eher untergeordnete Rolle spielte. Im Vergleich zum Nordwesten Europas, wo die oppositionellen Kräfte ihre gesellschaftliche Basis auf die orthodoxen Protestanten aufzubauen versuchten535, stand der religiöse Aspekt an marginaler Stelle. Auch der protestantische mittlere Adel und das protestantische Bauerntum (umkämpft vor allem von der Jakobiner-Bewegung) als gesellschaftliche Basis der Opposition, vorrangig im östlichen Teil des Landes, waren Folgeerscheinungen der allgemein verbreiteten antihabsburgischen, anti-katholischen Ressentiments. Aufgrund der anonymen Nation, insbesondere was die unteren Gesellschaftsschichten betraf, forderten die Oppositionellen die Rechtsgleichheit für die „nicht Adeligen allen voran in den freien königlichen Städten und freien Bezirken“.536

Bis 1848 gilt die Formel anlehnend an die Typologisierung Rokkans:

Zentrum: N – R – L Peripherie: P – U

N-Partei: Die Konservative Partei (KP)

P-Partei: Die Oppositionelle Liberale Partei (ELP)

535 Vgl. Flora 2000, S. 380.

536 Das Oppositionelle Manifest der ELP vom Juni 1847, in: Vida et. al. 2011, S. 49.

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Nach dem österreich-ungarischen Ausgleich von 1867 setzte sich die duale Struktur innerhalb der ungarischen Gesellschaft fort: Ein Teil der Gesellschaft galt als Befürworter der Industrialisierung mit der einhergehenden Urbanisierung und orientierte sich, geleitet von Széchenyi Istváns Reformgedanken, an dem westlichen Fortschritt,. Dagegen betrachtete sich der andere Teil als Traditionalist und Bewahrer der nationalen und kulturellen Werte und lehnte sich gegen die Industrialisierung auf. Während des Dualismus, im Zuge des Ausgleichs und nicht zuletzt durch die einleitende Industrialisierung änderten sich die machtpolitischen Konstellationen und die aus der ELP stammende Freisinnige Partei (später die Nationale Arbeitspartei) übernahm die Position des Akteurs „N“ als 67er im Zentrum. In der Peripherie dominierten die konservative Unabhängigkeitspartei und die (Katholische) Volkspartei.

1867-1918 gilt die Formel anlehnend an die Typologisierung Rokkans:

Zentrum: N – S – U Peripherie: P – L

N-Partei: Die Freisinnige Partei, später die Nationale Arbeitspartei (SZEP, NMP)

P-Partei: Die Unabhängigkeitspartei (FP), (Katholische) Volkspartei (KNP/NP95)

Nach 1918 dominierte der Konflikt zwischen den Vertretern der städtischen und der ländlichen Interessen, parteiförmig zwischen den sozialdemokratischen Kräften und der Einigung der christlich-konservativen Landwirten sowie der Rechtsextremen. Daraus lässt sich der Gegensatz zwischen den Agrarpopulisten und den Urbanisten ableiten. Die 20er Jahre waren durch die Diskurse entlang des Staatsrechts gekennzeichnet. Die Legitimisten strebten nach der Fortführung der Monarchie mit einem König aus der Habsburg-Dynastie, dahingegen wünschten sich die Oppositionellen die Einführung der freien Königswahl. Hier standen die KNEP und die Andrássy-Friedrich-Partei und ihrer Nachfolgeparteien einander gegenüber. Im Zentrum suchte sich die Einheitspartei als Sammelpartei für die christlich-konservativen und agrarischen Parteien die Annäherung mit der römisch-katholischen Kirche, die nun auch zur Nationsbildung beitragen sollte537. Dies war auch logisch, denn die

537 Vgl. Gergely o.J., S. 20.

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Anzahl der Katholiken in der Zwischenkriegszeit parallel zum Bevölkerungsanteil mit ungarischer Nationalität weiter anwuchs, und Ungarn im Hinblick auf Konfession und Nationalität zu einem homogenen Staat wurde.

Folglich gilt die Formel anlehnend an die Typologisierung Rokkans für den Zeitraum 1918-1947:

Zentrum: N-R-L

Peripherie: P-U

N-Partei: Einheitspartei (KNEP + Landwirte) P-Partei: MSZDP19, später SZDP

Kulturelle und ökonomische Konflikte auf der Zentrum-Peripherie-Achse

Resümierend lässt sich unterstreichen, dass die durch die Nationale und Industrielle Revolutionen formierten Gegensätze seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Ungarn zwei Hauptkonfliktströme hervorbrachten: auf der ökonomischen Achse – insbesondere als Folge der Industrialisierung - formierte sich der Gegensatz zwischen den Urbanisten und den

K Z

P

W Urbanisten vs.

Agrarpopulisten

Legitimisten vs.

Oppositionelle Dominante

Partei: KNEP

exkludierte Partei:SZDP

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Agrarpopulisten. Die Interessen der agrarischen Bevölkerungsschichten (insbesondere die Landbesitzer) vertrat die Christlich-konservative Einheitspartei um den Ministerpräsidenten Bethlen, die in der Gestalt einer Sammelpartei als eine Nachfolgepartei der bis dahin formierten christlich-konservativen Landwirte- und zum Teil im Sinne der 48er Unabhängigkeitsparteien anzusehen ist. Die Interessen der urbanen Wählerschichten und der industriellen Arbeiter vertrat die aus den 67er Bewegungen hervorgegangene Ungarische Sozialdemokratische Partei (MSZD90) und ihre Nachfolgeparteien MSZDP19 und SZDP.

Infolge ihrer aktiven Rolle in der Räterepublik wurde ihre Marginalität mit dem Bethlen -Peyer Pakt - gerade in der wichtigsten Phase der Parteiensystementwicklung – besiegelt und exkludiert.

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