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Fragen nach der Entstehung von Parteiensystemen weisen eine lange Tradition innerhalb der Politikwissenschaft auf. Das Testen verschiedener Hypothesen ging mit unterschiedlichen Ansätzen einher: Für die Erforschung der Herausbildung und Entwicklung der Parteiensysteme sind die drei wichtigsten Hauptansätze zu erwähnen.43 Maurice Duverger, Vertreter des Institutionalismus klassifizierte die Wahlsysteme als Mehrheits- vs.

Verhältniswahlsysteme und stellte, entsprechend dem Typ der Wahlsysteme die Kategorien Einparteien-, Zweiparteien- und Mehrparteiensysteme auf.44 Diese Kategorisierung erfuhr durch Sartori eine Weiterentwicklung, wonach der Grad der Polarisierung der Parteien und die Verortung auf der Links-Rechts-Achse bestimmt werden konnten.45 Lane und Ersson kritisierten jedoch den institutionellen Ansatz, der „run into the problem of social indeterminism“ und die historischen Eigenheiten übersieht, die die Herausbildung von Parteiensystemen ebenfalls beeinflussen.46

Der zweite Ansatz ist durch die Theorie des rationalen Handelns vertreten, die das Handeln der politischen Parteien und der Wähler aus der ökonomischen Perspektive der Nutzenmaximierung. Downs, der Hauptvertreter der ökonomischen Theorie, beschreibt die Wähler als gut informierte und rationale Bürger, die bei ihrem Wahlentscheid von ökonomischen Interessen geleitet sind, und dementsprechend ihre Votes für jene Parteien abgeben, von denen sie sich die meisten (wirtschaftlichen) Vorteile erhoffen.47

Der dritte Ansatz folgt einer historisch-strukturellen Herangehensweise, die bei der Analyse von Parteiensystemen auch die historischen Erbschaften in sozialen und kulturellen Lebensbereichen berücksichtigt.

Für die Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit eignet sich weder der institutionelle Ansatz, bei dem die formalen Eigenschaften von Parteiensystemen ins Blickfeld gerückt

43 Vgl. Daniele Caramani: Party Systems, in: Dies. (Hrsg.): Comparative Politics, New York 2008, S. 318–

348, nach Cuneyt Dinç: Societal Cleavages and the Formation of the Turkish Party System since 1950, in: CEU Political Science Journal, Jg. 7, 2012 (4), S. 454-495, hier S. 457f.

44 Vgl. ebd.

45 Vgl. Giovanni Sartori: Parties and Party Systems. A Framework for Analysis, Cambridge 1976, S. 119–

216, hier S. 156.

46 Vgl. Jan-Erik Lane and Svante Ersson: European Politics. An Introduction, London 1996, S. 16, nach Dinc 2012, S. 458.

47 Vgl. Anthony Downs: Ökonomische Theorie der Wahl, Tübingen 1968. Ferner: Dinc 2012, S. 459.

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werden, noch der ökonomische Zugang, der die Wahlentscheidungen der Wähler gänzlich entideologisiert und lediglich Momentaufnahmen im Wahlverhalten aufzeichnet.

Das Forschungsinteresse der Untersuchung richtet sich auf die soziale und wie auch die tradierte Einbettung der Wahlentscheidungen von gesellschaftlichen Gruppen. Daher wird jenes theoretische Konstrukt herangezogen, das für die Beziehung zwischen Parteien- und überzeitlichen Konfliktstrukturen Erklärungsmuster liefert, und demnach Parteien- und Parteiensystem auch als Abbild von sozialen Konstellationen aufgefasst werden können. Im ersten Schritt erfolgt deshalb eine kritische Auseinandersetzung mit dem Cleavage-Konzept und dessen Anwendung auf die postsozialistischen Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund wird der theoretische Zugangs an den Fall Ungarn angepasst.

Die Erforschung gesellschaftlich-politischer Konflikte in westeuropäischen Parteiensystemen unternahmen zuerst Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan im Jahre 1967. Lipset und Rokkan prüften auf der Grundlage von sozialstrukturellen Aggregatdaten die Wechselbeziehung zwischen den sozio-politischen Konfliktlinien und den Modernisierungsprozessen und zeigten deren Institutionalisierung entlang von politischen Parteien auf.48 Das Cleavage-Konzept, das von beiden Verfassern im ersten Kapitel von

„Party Systems and Voter Alignments“ 49 vorgestellt wird, hat den Anspruch, die Entstehung von Parteiensystemen dadurch zu erklären, dass Parteien tradierte Konfliktlinien einer Gesellschaft widerspiegeln. Das Modell fragt nach der Entstehung, Veränderung und Gewichtung von Cleavages und dem Verhältnis zwischen Parteien (-trägern) und der Wählerschaft. Die Arbeit von Lipset und Rokkan baut auf das Parson´sche AGIL-Paradigma50 auf, das im Kapitel 2.1 erläutert wird. Innerhalb der Politikwissenschaft hat das Cleavage-Modell als Schlüsselwerk einen zentralen Platz gefunden, nicht nur bei der Analyse von Parteiensystemen, sondern auch als soziologisches Modell zur Erklärung des Wählerverhaltens.51 Die Arbeit von Lipset und Rokkan wurde u.a. von Arend Lijphart,52

48 Vgl. Seymour Lipset/Stein Rokkan (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives, New York 1967.

49 Vgl. ebd.

50 Vgl. Talcott Parsons/Neil J. Smelser: Economy and Society, London 1956; Talsott Parsons, American Society – A Theory of the Societal Community, Boulder 2007, Chapter 6 insbes. Eine Zusammenfassung des AGIL-Paradigmas ist in: Talcott Parsons: General Theory in Sociology, in: Robert K. Merton et al.

(Hrsg.): Sociology Today, New York 1959, S. 39-78 zu finden.

51 Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck: Essay zu Seymour Lipset/Stein Rokkan (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives, New York 1967, in: Steffen Kailitz (Hrsg.): Schlüsselwerke der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2007, S. 251-255.

52 Vgl. Arend Lijphart: The Politics of Accommodation, Berkeley 1968.

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Ronald Inglehart53 sowie Herbert Kitschelt54 weiterentwickelt. Kitschelt wendete die Theorie erstmalig auf den ostmitteleuropäischen Raum an.

Der ursprüngliche Cleavage-Ansatz zieht „historische“ Analysen aus zwölf Regierungssystemen heran und untersucht vor dem Hintergrund der ökonomischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen das Wahlverhalten der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen. Die Länderauswahl fällt auf zehn westliche und zwei nicht-westliche politische Systeme: Den Gegenstand der Studie bilden fünf anglo-amerikanische, drei kontinental-europäische, zwei skandinavische Länder sowie Spanien - zur Zeit der Untersuchung ein autoritäres Land-, sowie Brasilien und Japan als nicht-westliche Systeme. Ferner wurde die Untersuchung durch Analysen Immanuel Wallersteins über West-Afrika ergänzt.55

Die zentrale Grundannahme von Rokkan lautet, dass sich die durch historische Ereignisse bestimmten gesellschaftlichen Konflikte in den Parteiensystemen widerspiegeln, diese prägen und verfestigen. Vor dem Hintergrund dieser Prämisse definieren die Autoren drei Fragenkomplexe, die sie näher ausführen:

Erstens geht es Lipset und Rokkan darum: „[…] the genesis of the systems of contrasts and cleavages within the national community“56 aufzudecken, zweitens die „[…] conditions for the development of a stable system of cleavage and oppositions in national political life”57 zu bestimmen und drittens „ […] the behavior of the mass of rank-and file citizens within the resultant party systems”58 zu erkunden. Die zentrale Fragestellung impliziert weitere Unterfragen, die zum einen die Existenzdauer und die Konsistenz der Konflikte und zum anderen die Polarisierungseigenschaften der Cleavages ermitteln.59

Im zweiten Fragenkomplex benennen die Autoren folgende Unterfragen: Warum begünstigten einige tradierten Konfliktlinien die Entstehung von Oppositionsparteien, und aus welchem Grund tun das andere nicht? Welche Konfliktinteressen erzeugten Widerstand innerhalb des Parteienwettbewerbs und welche Interessen waren in der Lage, sich als eine

53 Vgl. Ronald Inglehart: Traditionelle politische Trennungslinien und die Entwicklung der neuen Politik in westlichen Gesellschaften, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 24, 1983 (4), S. 139–165.

54 Vgl. Herbert Kitschelt/Zdenka Mansfeldova/Radoslaw Markowski/Gábor Tóka: Post Communist Party Systems. Competition, Representation and Inter-Party Cooperation, Cambridge 1999.

55Vgl. Seymour Lipset/Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments, in: Dies.

(Hrsg.): Party System and Voter Alignments. Cross National Perspectives, New York 1967, S. 1-65, hier S. 2.

56 Ebd., S. 1-65, hier S. 1.

57 Ebd., S. 1.

58 Ebd., S. 2.

59 Vgl. ebd., S. 1.

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Einheit im Parteienspektrum zu positionieren.60 Der dritte Fragenkomplex betrifft den Rekrutierungsprozess der Parteien von „new masses of enfranchized citizens“61, in dem der Fokus auf mikrosoziologische Aspekte gelegt wird. Hierbei werden jene Rahmenbedingungen herausgearbeitet, die den Mobilisierungsprozess der Gesellschaften begünstigten oder behinderten sowie jene ökonomische, soziale und kulturelle Veränderungen, die sich in den Parteienstrategien widerspiegeln.62

In ihrer Studie resümierten Lipset und Rokkan, dass Wähler, nachdem ein „Freezing“ des Parteiensystems stattgefunden hat, ihre Stimmen für historisch bedingte

Parteien-„Packages“ abgeben, die sich eben aus den sozialen, kulturellen und ökonomischen Identitäten im Sinne der Weber´schen Schicksalsgemeinschaft63zusammensetzen. Das Einfrieren erfolgt dann, wenn Demokratisierungsprozesse im Hinblick auf das allgemeingültige Wahlrecht sowie auf die politische Artikulation und Interessenvertretung abgeschlossen sind.64An dieser Stelle entsteht meines Erachtens im Anschluss an die Differenzierung der Freezing-These durch Peter Mair die Frage, welche Effekte des Einfrierens es im ungarischen Sozialismus gegeben hat.

Lipset und Rokkan verfolgten das Ziel, ein realistisches Modell zu entwickeln, das zum einen die Herausbildung von „historisch gegebenen Gesamtpaketen von Programmen, Bindungen, Ansichten, und manchmal sogar Weltanschauungen“65 vor dem Hintergrund unterschiedlicher sozioökonomischer Entwicklungen in den ausgewählten politischen Systemen erklärt, und zum anderen diese zur Erklärung des Wählerverhaltens heranzieht.66 In diesem Zusammenhang setzen Lipset und Rokkan das Vorhandensein von etablierten kompetitiven politischen Systemen voraus, in denen sich die „Konstellationen von Alternativen“ den Bürgern samt ihrer eigenen Geschichte präsentieren.67