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Industrielle Revolution - Konfliktstrukturen nach der Märzrevolution von 1848

Im Vorfeld des ungarischen Freiheitskampes von 1848 fehlte es in beiden politischen Lagern an einer klaren programmatischen Aufstellung der an die Ständeordnung und an den demokratischen Nationalismus gerichteten Erwartungen. Der ungarische Adel und Gemeinadel konnte jedoch der von Kossuth geforderten bürgerlichen Rolle aufgrund einer von Autoritäten geprägten Sozialisationsstruktur nur ansatzweise gerecht werden. Zudem fehlte es an einem politisch motivierbaren und aktionistischen Bauerntum entlang den in Ungarn lebenden Nationalitäten. Trotz des für die ungarische gesellschaftliche Entwicklung fruchtbaren Reformzeitalters war die ungarische Nation nicht in der Lage, das Habsburgerreich zu reformieren.365 Der Niederschlagung des Freiheitskampfes von 1848 folgten 18 Jahre Willkürherrschaft, die in der Geschichtswissenschaft als das Zeitalter als Neoabsolutismus einging. Trotz der Kurzlebigkeit jener Epoche richtete der neu aufflammende Absolutismus in der politischen Kultur Ungarns erhebliche Schäden an. Die führenden Figuren der 1848er Revolution wurden hingerichtet, in einigen Fällen zu

364 Vgl. Gyurgyák 2007, S. 27.

365 Vgl. Iván Dénes (Hrsg.): Bibó István munkái. Eltorzult magyar alkat, zsákutcás magyar történelem [Werke von István Bibó. Deformierte ungarische Gestalt, Sackgasse der ungarischen Geschichte], Budapest 2012, S. 127f.

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Gefängnisstrafen verurteilt oder in die Emigration verbannt.366 Als Ziel hat sich der Neoabsolutismus die Etablierung einer übernationalen Union des Habsburgerreiches gesetzt, dem sich Ungarn nach 1848 nicht mehr widersetzen konnte. Durch die 1848er Gesetze hat Ungarn seine verfassungsrechtlichen Institutionen mehr oder weniger aufgeben müssen. Die Systemreformierung des ungarnfeindlichen Innenministers Alexander Bach brachte erneut die Zentralisierungspolitik des Königshauses zum Vorschein. Um Ungarn noch mehr zu schwächen, wurden die Länder der ungarischen Krone aufgeteilt und in fünf Verwaltungseinheiten in das Habsburgerreich eingegliedert: Siebenbürgen zusammen mit dem Partium und Kroatien wurden abgetrennt. Folglich stand Ungarn erneut unter einer von Wien aus gesteuerten Militärdirektion. Die neuen zentralisierten Verwaltungseinheiten (auch Bundesländer der Krone genannt) verloren jegliche Autonomie: sie hatten weder miteinander noch mit dem Mutterland eine gemeinschaftsrechtliche Beziehung pflegen können. Als neue ungarische Zentren waren die Städte: Budapest, Pressburg, Sopron, Kassa und Nagyvárad bestimmt. Nach einer Art Gerrymandering kam es zu neuen Grenzziehungen in den Bezirken mit dem Ziel, den Anteil der Ungarn gegenüber anderen Nationalitäten in der Minderheit zu halten. An der Spitze der Bezirke standen die sogenannten Bezirksgespane. Einem Bezirk gehörten sieben bis zehn Komitate an, die von dem Komitatschef verwaltet wurden. Auch die Komitatsflächen sind umstrukturiert - zusammengelegt, verkleinert und neu aufgeteilt – worden. Auch hier galt die „neue“

absolutistische und zentralistische Politik Wiens, die die frühere selbstverwaltende Funktion der Komitate untergraben hat.367 Mit Hinsicht auf die Cleavage-Theorie und die Anwendung des Konzepts auf das ungarische Reformzeitalter lassen die wissenschaftlichen Diskurse über die Zeit von 1848 bis zum österreich-ungarischen Ausgleich von 1867 die Schlussfolgerung zu, dass es als ein „eingefrorenes Zeitalter“ gedeutet werden kann: In Folge der Niederschlagung des Freiheitskampfes von 1848 richtete sich Wien – nicht zuletzt aus einem machtpolitischem Kalkül - erneut auf eine absolutistische Politik ein, um die Machtposition der Habsburger im Reich zu stärken. Diese Politik führte auf der ungarischen Seite zum Verstummen von radikalen Reformgedanken. Demzufolge ist die Wiederkehr der Konflikte vor 1848 erst nach dem Ausgleich von 1867 zu erwarten. Die Unterdrückung der Konflikte zwischen den Konservativen und Liberalen wurde zudem durch das Erstarren des Parteiensystems begünstigt: Denn das ungarische Parlament war bis zur Niederschlagung

366 Vgl. Zoltán Fónagy: Modernizáció és polgárosodás [Modernisierung und Verbürgerlichung], Debrecen 2001.

367 Vgl. ebd., S. 22f.

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der März-Revolution durch eine, im Vergleich zu den deutschen, preußischen und österreichischen Parlamenten, gesellschaftliche, politische und kulturelle Homogenität gekennzeichnet, die für Parteineugründungen keinen Raum ließ. András Gergely stellt für jene Zeit fest, dass die Mitglieder des Parlaments die gleiche Sprache, nämlich die Sprache des nationalen Liberalismus sprachen und statt konfliktreiche Streitgespräche führten sie konstruktive politische Diskurse. Das Parlament, das mehrheitlich aus Mitgliedern eines national-liberalen Bürgertums bestand wurde ebenfalls durch eine homogene Wählerbasis gestützt.368

3.6.1. Konflikt zwischen 1848er und 1867er

Trotz des „eingefrorenen Zeitalters“ nach 1848 existierte der Konflikt innerhalb der Nationalitätenfrage, der bis zu den 70-80er Jahre des 19. Jahrhunderts immer wieder die politische Auseinandersetzung zwischen Wien und der ungarischen Elite – sowohl der konservativen wie auch der liberalen - prägte. Die Konservativen spielten in diesem Konflikt eine weniger bedeutende Rolle, zumal sie sich im Zuge der willkürlichen Politik der Habsburger nach der Niederschlagung der Märzrevolution weigerten, mit Wien zusammenzuarbeiten. Zudem hat die Märzrevolution die politische Linke der Landesversammlung gestärkt und sie durch das Volk legitimiert. Ihr Programm bildete der öffentlich verkündete Zwölfpunkte-Plan der Pester Revolution.369

3.6.1.1 Konflikte in Autonomiefragen

Pál Somssich, der einst das Parteiprogramm der Konservativen ausarbeitete, lehnte sich gegen die Habsburger auf und bezeichnete das in Ungarn eingeführte österreichische System sogar als revolutionär.370 Somssich warf der Regierung vor, selbst zum Revolutionär zu werden, indem sie statt an der altbewährten (Verfassungs)ordnung festzuhalten, auf der Grundlage ihrer illusorischen Pläne und gegen den Willen der ungarischen Gesellschaft einen neuen Staat aufzwingen versucht. Die Konservativen bekamen wieder eine bedeutende Rolle bei der Vorbereitung der Ausgleichsgesetze von 1867. Nach den Verhandlungen zog sich jedoch ein Teil aus der Politik zurück – wie István Szécsén -, ein anderer Teil gliederte sich in die Liberalen ein. Viele, wie auch Somssich politisierten bei den Freimaurern weiter.

371 Der Konflikt entlang der Nationalitätenfrage entlud sich zwischen den Befürwortern

368 Vgl. András Gergely: Közép-Európa és liberálisai 1848-ban [Mittel-Europa und ihre Liberalen 1848], Budapest 1987, S. 117.

369 Vgl. Bérenger/Kecskeméti 2008, S. 279.

370 Vgl. Takáts 2007, hier S. 57.

371 Vgl. ebd., S. 53f.

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eines Autonomiestatus und den Vertretern einer beschränkten Interessenvertretung für die Nationalitäten. Die Mitglieder von Ungarns liberaler politischer Elite wie József Eötvös oder Ferenc Deák strebten in ihrem Programm eine allgemeingültige Rechtsgleichheit für alle, also auch für die Nationalitäten an. Eine Extremform der Gleichsetzung aller in Ungarn lebenden Nationalitäten vertrat László Teleki, der sogar für die territoriale Autonomie in Form von lokalen Selbstverwaltungen der Nationalitäten plädierte. Kossuth dagegen strebte statt einer territorialen eine persönliche Autonomie für die Nationalitäten an.372 Wien lehnte jedoch jegliche Autonomiebestrebungen der ungarischen und auch anderer Nationalitäten wie jene der Serben, Rumänen oder Kroaten ab.373 Die Diskussionen um die Rechte der Nationalitäten ließen auch in der österreichischen intellektuellen Elite ihre Spuren zurück.

Ludwig Gumplowicz, einer der ersten Vertreter der Konfliktsoziologie, prognostizierte in seinem Werk „Der Rassenkampf“374 von 1883 das Scheitern der österreich-ungarischen Monarchie und schließlich den Beginn des I. Weltkriegs. Seine Prognosen führte er auf die unüberwindbaren Gegensätze zwischen den im Habsburgerreich lebenden Nationalitäten zurück, die sein Leben ebenfalls prägten.375 Gumplowicz ging in seinen Analysen soweit, dass er den Nationalitätenkonflikt als wichtiger einstufte als den die Zeit bestimmenden Klassengegensatz zwischen Eroberern und Eroberten.376

3.6.1.2 Slawische Konföderation versus Donaukonföderation

Zugleich dominierte der Konflikt um das Konzept einer ungarischen politischen Nation, das sich in den politischen Diskurs der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts über den Ausgleich einfügte und die Streitgrundlage zwischen den Anhängern und den Gegnern des Ausgleichs bildete. Die Frage, welches Lager im Vorverhandlungsprozess des Ausgleichs Recht behielt: die Befürworter des von Ferenc Deák durchgebrachten Ausgleichs oder die Vertreter von Lajos Kossuths Position, der im Ausgleich den Untergang Ungarns sah, beschäftigt Historiker bis heute. Von revolutionären Gedanken hat sich László Teleki, Botschafter der 1848er Regierung in Paris, als einer der ersten verabschiedet. Er vertrat die Ansicht, dass Ungarn nur innerhalb einer Konföderation mit den Kroaten, Serben und Rumänen gerettet werden kann. Vor diesem Hintergrund strebte er die Autonomie und die kollektiven Rechte der benachbarten Minderheiten sowie eine innere Föderation des

372 Vgl. Fónagy 2001, S. 38ff.

373 Vgl. ebd.

374 Siehe das Werk: Der Rassenkampf, soziologische Untersuchungen, Wien 1883.

375 Vgl. Endre Kiss: A k.u.k világrend halála – Bécsben [Der Tod der K.u.K.-Weltordnung – in Wien], Budapest 1978, S. 118f.

376 Vgl. ebd., S. 122.

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Landes an. Im Gegensatz zu Teleki bedeutete die Konföderation für Kossuth den Verzicht auf die nationale Souveränität.377 Kossuths Vision über eine Donau-Konföderation, die die Nationalitätenprobleme im Reich lösen sollte, war aus Überlegungen entsprungen, wonach die Lösung der Nationalitätenfrage auf nationaler Ebene als unlösbar erschien.378 Mit der slawischen Konföderation strebte Teleki zugleich die Reformierung des Habsburgerreiches an. Dies bedeutete jedoch die Ablehnung des von der Szemere-Regierung (von Mai bis August 1849) geforderten Konzepts einer einheitlichen ungarischen Nation. Telekis Határozati Párt (Beschlusspartei)379 wurde im Landtag von 1861 von bekannten Akteuren des politischen Lebens wie Kálmán Tisza, den Grafen Sándor und Ede Károlyi oder dem Baron Frigyes Podmaniczky gegründet, die Franz Joseph als gesetzlichen Herrscher ebenfalls nicht anerkannten. Im Gegensatz zu Deáks Adresspartei, die ihren Standpunkt in einer Adresse vor den Herrscher bringen wollten, beabsichtigte die Beschlusspartei, den Monarchen in Form eines Beschlusses über den Willen des Unterhauses zu unterrichten.

Sie schlossen jegliche Verhandlungen mit Wien aus. Teleki forderte die Auflösung des Parlaments und wünschte sich die Fortsetzung von oppositionellen Bewegungen der Nation. Für die Mitglieder der Beschlusspartei erschien Telekis Bestreben unrealistisch und führte zur Abwahl Telekis. Anschließend wurde im Landtag vom 5. Juni 1861 mit 155 gegen 152 Stimmen die Forderung der Adresspartei angenommen.380 Zwanzig Mitlieder der Beschlusspartei gründeten daraufhin eine linksradikale Fraktion, die seit 1865 in der Balpárt (Linke Partei) aktiv wurden.381 Die Mitglieder der „Szélsöbal“ (Außenlinke) innerhalb der Linken Partei, die die Vorstellungen von Kossuth teilten, gründeten 1868 die 1848-er Partei, welche den bedeutendsten Kontrahenten zu den „67-er“ bildete.

3.6.2 Zwischenfazit: Konfliktstrukturen zwischen 1848 und 1867

Im Rückblick auf die beiden Jahrzehnte nach der Märzrevolution und vor dem Ausgleich ist festzustellen, dass das Hauptdilemma der politischen Elite darin bestand, wie die ungarische Unabhängigkeit und Souveränität zu erreichen sei. Doch konnte weder eine Konföderation mit den slawischen Ländern noch eine Föderation der Donau-Länder Ungarns Unabhängigkeit garantieren.382 Die Debatte über die Zukunft Ungarns als ein

377 Vgl. Gyurgyák 2007, S. 54ff.

378 Vgl. ebd., S. 58.

379 Benannt nach Telekis programmatischer Rede als Abgeordneter von Abony am 16. März 1861. Vgl. Vida et al. 2011, S. 62.

380 Vgl. ebd., S. 62f.

381 Vgl. ebd.

382 Vgl. ebd., S. 59.

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multinationaler Staat begünstigte die Etablierung eines dauerhaften Konflikts im liberalen Lager der Parteipolitik. Zudem ging aus der Debatte die den Dualismus bezeichnende politische Kraft der 1848er383 hervor. Trotz des Einfrierens des Parteiensystems vor 1848 kristallisierte sich der Konflikt zwischen den gemäßigten und den radikalen Habsburggegnern heraus, der zunächst auf der Ebene der politischen Elite – zwischen Teleki, Deák und Kossuth – ausgetragen war.