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Parteienwettbewerb und „Funktionale Äquivalente“ als Erklärungsalternativen Erklärungsalternativen

Durch die enge Anlehnung Lipset und Rokkans an das Parsonsche Modell kann die Cleavage-Theorie zu Recht für ihren Anspruch kritisiert werden, als ein allgemeingültiges Modell für Beschreibungen von durch sozio-kulturelle Gegebenheiten bestimmten politischen Entwicklungen in „cross-cultural“ Nationen zu gelten.107 Es kann vielmehr festgehalten werden, dass die Autoren nur vordergründig den politischen Einfluss auf und die Mobilisierung von gesellschaftlichen Gruppen 108 vor dem Hintergrund ihrer sozialstrukturellen Merkmale untersuchten. Die Stabilität der entstandenen politischen Ordnung sahen sie durch den Einfriereffekt der politischen Parteien garantiert, denen es gelungen ist, die eigene Wählerschaft langfristig an sich zu binden.109 Auf der Suche nach Unterschieden der Parteiensysteme und der Wähler-Partei-Bindungen in Westeuropa anhand seines „Modells alternativer Allianzen und Oppositionen“110, bezieht sich Rokkan auf die drei „kritischen Phasen der Geschichte“; nämlich die Reformation, die Französische und die Industrielle Revolution. Die daraus resultierenden Spaltungen verknüpft er mit den Akteuren und Restriktionen der Allianzbildungen. Durch dieses Modell verortete Rokkan die Parteien Westeuropas entlang der klassischen drei ideologischen Strömungen, des chrsitlich-nationalen Konservativismus, des Liberalismus, und der linken Sozialdemokratie.111 Nach Überwindung der Schwellen und Krisen kommt es zur „eingefrorenen“ Stabilität des Parteiensystems, so die Argumentation Lipsets und Rokkans. Das „Freezing“ des politischen Systems geht mit der Einschränkung des Parteienwettbewerbs und einem geschlossenen politischen Markt einher. Dies hat zur Folge, dass neuen Parteien der Zugang zum Markt eingeschränkt wird. Auch der Parteienwettbewerb strukturiert sich in der Form neu, als die primäre Tätigkeit der Parteien darin besteht, für die Beibehaltung ihrer Wählerschaft zu kämpfen. Der Wettbewerb um neue Wähler bleibt im Hintergrund und die Cleavage-basierte Wähler-Partei-Bindung erfährt folglich eine zusätzliche Verfestigung. Jene Parteibindung schließt jedoch nicht aus, dass Wähler innerhalb eines Parteilagers Positionen wechseln, und

„ihr“ Cleavage zunächst schwächen.112 Ein ähnlicher, weniger deterministischer Zugang für die Betrachtung von Parteilagern (statt einzelner Parteien) ermöglicht die Betrachtung des

107 Vgl. Rokkan 1972, S. 55.

108 Vgl. Holländer 2003, S. 78.

109 Vgl. ebd., 79.

110 Flora 2000, S. 378.

111 Vgl. ebd., S. 281.

112 Vgl. Holländer 2003, S. 78.

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Wechsels von Schwerpunkten der Wähler innerhalb „ihrer“ Cleavages, ohne die Annahme eines Aufbrechens des Systems. Auch eine ideologische Umorientierung der Wähler bedeutet zunächst lediglich die Schwächung des ursprünglichen Cleavages, nicht aber dessen Auflösung. Das Ausmaß der Abschwächung und das Ableben der Konflikte sollten in allen Fällen vor dem Hintergrund der Anzahl der sich distanzierenden Wähler und vor allem von der Dauer der Entfernung bestimmt werden. Ebenso wie es nicht möglich ist, bei empirischen Momentaufnahmen ohne historische Rückkopplung, beispielsweise bei Wahlanalysen, von Konfliktlinien zu sprechen, ist es auch unzutreffend, bei der Feststellung von kurzfristigen Diskontinuitäten innerhalb der tradierten Konfliktstrukturen das Vorhandensein von Cleavages zu negieren. Denn durch die Pluralisierung der Parteilandschaften kommt es zu Verschiebungen im Wählerverhalten, das - wie internationale Studien zeigen - nur selten mit einem ideologischen Richtungswechsel einhergeht. Vielmehr werden Wählerströme zwischen Parteien mit der geringsten ideologischen Distanz beobachtet. Durch die Lockerung und Entideologisierung der Partei-Wählerbindungen kommt es zum härteren Kampf um die eigenen und um neue Wähler. Dies hat häufig die Pluralisierung innerhalb eines Parteilagers zur Folge; das bedeutet, dass mehrere Parteien mit ähnlichen Inhalten werben. In diesem Fall ist die Rede von einer funktionalen Äquivalenz, die besonders bei Parteien mit christlich-konservativen und säkular-konservativen Parteien in Westeuropa ersichtlich wird: Parteitypen, die über eine sehr ähnliche Wählerbasis verfügen und folglich die gleiche Wählerschaft mobilisieren wollen. In diesem Fall sind für die Wähler die christlich-konservative und die säkular-konservative Partei funktional äquivalent.

Das Phänomen der funktionalen Äquivalenz erörterte zuerst Niklas Luhmann113. Sein funktionalistischer Systembegriff und seine Kritik am klassischen Funktionalismus mündeten in den „Äquivalenzfunktionalismus“, in eine funktionale Analyse, die er als methodisches Instrument zum Entgegenwirken der analytischen Enge von kausalen Erklärungen betrachtet. Damit bricht er mit der konservativen Annahme, dass einzelne Ursachen mit einzelnen Wirkungen verknüpfbar sind und diese in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden müssen. Vielmehr betont Luhmann die Kontingenz von Ursachen- und Wirkungsprozessen und prophezeit damit die Zufälligkeit und die

113 Niklas Luhmann: Funktion und Kausalität, in: ders.: Soziologische Aufklärung , Opladen 1970, S. 14ff.

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Vorhersehbarkeit des menschlichen Handelns.114 Laut Luhmann erfahren folglich unsere Handlungen im Gegensatz zum Parsonschen Modell einen legitimierbaren Zufälligkeitscharakter, der den Teilen der Ursache-Wirkungsfunktionen statt dem „Muss-„

den „Kann-Zustand“ ermöglicht. Zwar wird somit das Konzept an seinem funktionalen Beitrag und durch die losen Verbindungen der Systeme zueinander auch in seiner Stabilität geschwächt, dennoch bietet der Äquivalenzfunktionalismus bei den Ableitungen mehr Flexibilität.

Insbesondere gilt die analytische Breite, wenn es um die „unintendierten Handlungen“ und die „unintendierten Handlungsfolgen“ nach Anthony Giddens geht, wo Raum und Zeit nicht als Randerscheinungen betrachtet und nicht zwingend auf ihre Funktionen geprüft werden.

In seiner Studie „Capitalism and Modern Social Theory“115 widerspricht Giddens der Theorie der „Social Action“ von Parsons und bricht mit dem Mainstream der soziologischen Auffassungen der Zeit. Statt der AGIL-Schemata schlägt er die Strukturierung von Klassen vor und verbindet somit die Klassentheorie von Marx mit dem bipolaren Gesellschaftskonzept Webers. 116 Er selbst bezeichnet seinen Zugang als „creative appropriation from Max Weber as well as from Marx […] which owes much more to Marx than to Weber“117. In seiner Strukturanalyse stützt er sich auf das Klassenmodell von Marx, erlaubt jedoch die “hierarchische Differenzierung von Klassenlagen”118, indem er in der Marx´schen Klassenstruktur von Besitzern und Nicht-Besitzern auch den Arbeitern - je nach Qualifikation und Verhandlungskompetenz - Eigentumsrechte zuschreibt.119

Giddens betrachtet funktionale Erklärungen von Handlungsmustern als zu einseitig und deterministisch, da diese darauf abzielen, Handlungen einzuschränken und zu vereinfachen.

Stattdessen schlägt Giddens einen prozedualen Strukturbegriff vor und betont, dass:

114 Vgl. Andreas Reckwitz: Der verschobene Problemzusammenhang des Funktionalismus. Von der Ontologie der sozialen Zweckhaftigkeit zu den Raum-Zeit-Distanzierungen, in: Jens Jetzkowitz/Carsten Stark (Hrsg.): Soziologischer Funktionalismus: Zur Methodologie einer Theorietradition, Opladen 2003, S. 57-81, hier S. 65f.

115 Vgl. Anthony Giddens: Capitalism and Modern Social Theory. An analysis of the writings Marx, Durkheim and Max Weber, Cambridge, London, New York, Melbourne 1971.

116 Vgl. Hans Joas: Giddens Theorie der Strukturbildung. Einführende Bemerkungen zu einer soziologischen Tranformation der Praxisphilosophie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 15, 1986 (4), S. 237-245, hier S.

238.

117 Anthony Giddens: New Roles of Sociological Method: A Positive Critique of Interpretative Sociologies, London 1976, n. Reinhard Kreckel: Klassenstrukturanalyse zwischen Marx und Weber, in: Soziologische Revue, 1980 (3), S. 251-259, hier. S. 254.; Vgl. auch Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London/Basingstoke 1979, S. 109f.

118 Reinhard Kreckel 1980, S. 254.

119 Vgl. ebd.

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„structural properties of social systems are both the medium and the outcome of the practices that constitute those systems. The theory of structuration, thus formulated, rejects any differentiation of synchrony and diachrony or statics and dynamics. […] structure is both enabling and constraining […]“.120 Damit gelangen Prozesse der Strukturbildung in den Fokus seiner Handlungstheorie, die zugleich dem Voluntarismus und dem Determinismus zu begegnen versucht. Mit seiner dualen Handlungsstruktur wiedersetzt sich Giddens der voluntaristischen Handlungstheorie von Parsons, „by which he (Parsons, Ergänzung, M.B.) refers primarly to the purposive character of human conduct, and to the capability of actors to choose between different goals or projects.”121 In der voluntaristischen Denkweise erkennt Giddens den Grund dafür, dass das von Parsons beschriebene „Hobbesian problem of order“ in dem Modell ungelöst bleibt und stellt die kritische Frage, „how purposiveness or a diversity of wills is compatible with order“122. Auf diese Weise spricht Giddens auch das häufig mit Kritik versehene normative Schweigekonzept von Parsons an, das die unintendierten Handlungsfolgen unberücksichtigt lässt. Gerade die unbeabsichtigten Handlungskonsequenzen bilden den Kern von Giddens Strukturationstheorie, in der im Unterschied zu Parsons System und Struktur klar voneinander unterschieden werden. Als System bezeichnet Giddens die Summe der reproduzierten unbeabsichtigten Handlungen, die er von den determinierten Strukturen befreit.123 Hierfür greift Giddens auf die geschichtlichen Kontinuitäten der Handlungen zurück: „We may agree, in the sense that every process of action is a production of something new, a fresh act; but at the same time all action exists in continuity with the past, which supplies the means of its initiation.”124 Struktur versteht Giddens als Produktionsbestandteil von Handlungen, „even in the most radical processes of social change which, like any others, occur in time“.125

Wie lassen sich die Funktionalismuskritik und die Äquivalenztheorie mit dem Vorhaben der vorliegenden Arbeit verbinden? Der Argumentationslinie Luhmanns und Giddens folgend, führen die Handlungen einschränkende Strukturen zur Enthistorisierung (näher erläutert im Kapitel 2.6.2) und Destrukturation und somit zur Destabilisierung des Systems, das ohne die Reproduktion seiner Elemente zerfällt. Dabei verhalten sich die Elemente des Systems im Hinblick auf ihre systemerhaltende Funktion gegenseitig als funktionale Äquivalente, um

120 Vgl. Giddens 1979, S. 69.

121 Vgl. ebd., S. 253f.

122 Ebd. 254.

123 Vgl. Joas 1986, S. 240.

124 Giddens 1979, S. 70.

125 Ebd.

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das System aufrechtzuerhalten. Doch allein die auf Normen und Ressourcen basierten Interaktionen reichen zur Aufrechterhaltung der Systemstabilität nicht aus. Giddens erteilt der „pragmatic acceptance of normative prescriptions as ´facts´ oft the circumstances of action“126 von Parsons eine Absage und betont, dass die Reproduktionsabläufe durch die

„(dialectic) control of the setting“ in Raum („front/back regions“) und Zeit gesichert werden.

Dadurch wird auch die Systemstabilität gewährleistet. Besonders relevant werden im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit der Zugang der analytischen Breite und die Distanzierung vom klassischen Funktionalismus in den Fällen, wo die funktionale Achse in dem Cleavage-Konzept nicht erklärbar ist. In diesem Fall stellt sich zum einen die Frage, inwiefern die funktionale Äquivalenz, also die Aufhebung der funktionalen Differenzierung die Erklärungen auf ihrer Achse relativiert und die Cleavages auf der ökonomischen Dimension schwächt. Zum anderen wird danach gefragt, inwiefern die Konflikte auf der kulturellen Achse samt ihren historisch-kulturellen Ausprägungen Erklärungsalternativen bieten können.

Der historische Zugang soll auf dem von Max Weber definierten Weg erfolgen, der die „ […] (hypothetischen) Gesetze und Faktoren […] lediglich als Mittel zur Erreichung des Erkenntnisinteresses betrachtet. Als Aufgabe der Soziologie sieht Weber die

„Verständlichmachung“ der Bedeutung von historischen Prägungen auf die Gegenwart, um

„Zukunftskonstellationen“ abschätzen zu können. Dabei soll die Zurückverfolgung der historischen Eigenheiten „so weit in die Vergangenheit als möglich“ erfolgen, und zu der Erkenntnis des „so-und-nicht-anders-Gewordenseins“ beitragen.127