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Ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts kristallisierte sich eine neue Strömung entlang den parlamentarischen Diskussionen über die Zukunft des Landes heraus. Es kam zu einer Parteigründung mit dem Leitspruch: „Heimat und Fortschritt“ (haza és haladás).296 Der Konflikt zwischen den konservativen Anhängern des absolutistischen Status quo und den Befürwortern der Ständeordnung verleitete den liberalen, aufgeklärten Geist zu einem neuen Paradigmenwechsel. Die Konflikte verlagerten sich auf die Ebene des Liberalismus, der auch in Ungarn des 19. Jahrhunderts als Sammelbecken für verschiedene, auch für konservativ-liberale Denkströmungen diente. Innerhalb den unterschiedlichen liberalen Denkweisen bildete die ablehnende Einstellung gegenüber dem Habsburgerhaus den gemeinsamen Nenner.

293 Zit. in: Károly Kecskeméti: Notes, rapports et témoignages français sur la Hongrie, 1717-1809, Paris/Budapest,/Szeged, n. Kecskeméti 2008, S. 30.

294 Vgl. ebd.

295 Im Vergleich zu den Märzrevolutionen in anderen Teilen Europas, wo im Vordergrund eine Systemreform stand, zielte der ungarische Aufstand die Abschaffung der Monarchie an.

296 István Schlett: A politikai gondolkodás története, II./1., A liberalizmus Magyarországon [Die Geschichte des politischen Denkens, II./1, Der Liberalismus in Ungarn], Budapest 1999, S. 15.

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Als der wichtigste Vertreter von liberalen Gedanken jener Zeit galt Graf István Széchenyi297, der durch seine Schriften im ungarischen politischen Denken erstmalig liberale Denkanstöße einleitete, die nicht den gewohnten Argumentationen folgten.298 Széchenyi hat bereits am 3.

November 1825 auf der einberufenen Diät Bekanntheit erlangt, als er verkündete, sein Jahreseinkommen für die Gründung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA)299 bereitzustellen.300 In seinem bekannten Werk „Hitel“ (Kredit) aus dem Jahr 1830 setzte sich Széchenyi mit der ungarischen Gesellschaft auseinander und arbeitete ein Lösungsmodell aus, das offen mit dem feudalen System brach und den Vorschlag unterbreitete, den Feudalismus als geschlossenes Institutionensystem möglichst schnell abzubauen.301 Dabei bezog er sich auf den aufklärerischen Geist des Josephinischen Zeitalters. Das ungarische Reformzeitalter ist mit dem Erscheinen von Széchenyis Hitel angebrochen. Bereits auf dem Landtag von 1830 sind die Liberalen als eine politische Einheit aufgetreten. Durch die Unorganisiertheit der ideologisch gegensätzlichen Kräfte konnten sie gleich die dominante Stellung im politischen Leben einnehmen. Von 1832 an bildeten sie in der Ständetafel die Mehrheit. Von 1840 an verfügten sie zudem mit der von Lajos Kossuth gegründeten Pesti Hírlap auch in den Komitaten über ein liberales Sprechorgan302.

3.4.1 Konflikte zwischen den Liberalen und den Konservativen

Als liberaler Fortschrittsdenker formulierte Széchenyi als erster eine allgemeingültige Systemkritik, die auf dem Umstand der verarmten Landbesitzer basierte. Da das ungarische Ackerland sogar für die Versorgung von anderen Nationen geeignet gewesen wäre, fühlte sich Széchenyi vom Elend der Landbesitzer im besonderem Maße betroffen: „Der ungarische Landbesitzer ist ärmer als er gemessen an seinem Besitz sein sollte“. 303 Dies führte er auf den Mangel von Kreditvergaben zurück.304 Eine Lösung suchte Széchenyi in der Reform des Staatsrechts und des Gesellschaftssystems anstelle der bis dahin dominanten und konfliktgeladenen Dichotomie zwischen Regierung und Adel.305 Der Drang nach

297 István Széchenyi gilt als der Initiator der liberalen Reformbewegungen in Ungarn. Mehr über Széchenyis Wirken und seine ideologische Entwicklung Siehe: András Gergely: Széchenyi eszmerendszerének kialakulása [Entstehung von Széchhenyis Ideologiesystem], Budapest 1972.

298 Schlett 1999, S. 16.

299 Die MTA wurde am 17. November 1830 gegründet.

300 Bérenger/Kecskeméti 2008, S. 212.

301 Vgl. Schlett 1999, S. 16.

302 Vgl. Dénes 2001, S. 107.

303 István Széchenyi: Hitel [Kredit], Neudruck, Budapest 1984, S. 21.

304 Vgl. Schlett 1999, S. 17.

305 Vgl. ebd., S. 22.

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Reformen, die von der „antiliberalen Verfassung“ blockiert würden306, bestimmte seine Denkweise: Ohne Reformen würde das System untergehen. Zudem lehnte er den von Dessewffy und anderen konservativen Denkern propagierten Status quo der Adelsrechte ab, der – laut Széchenyi – dem Fortschritt im Weg stehe. Ferner würden die Privilegien der Stände die Entstehung einer „einheitlichen Nation“ verhindern.307 Im Gegenzug zu Desewffy, der für die Rückstände in der Gesellschaft die Regierung verantwortlich machte, betonte auch Széchenyi ebenso wie andere liberale Denker, dass nur die Nation ihre Probleme lösen kann. Auch wenn es dem ungarischen Liberalismus auf der Ebene des ideengeschichtlichen Diskurses über das feudale System an eigenen Ideen mangelte, sind insbesondere die wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlungen der liberalen Intellektuellen zu beachten. Die „grand-tour“308-Reiseberichte der aristokratischen Intellektuellen 309 setzten sich zum Ziel, die „Inkompatibilität des Staatsrechts und der gesellschaftlichen Ordnung mit dem Fortschrittsgeist“310 aufzudecken. Dies erreichten sie am besten, indem sie in ihren Abhandlungen die Klassiker des liberalen Denkens wie Smith und Young berücksichtigten. Széchenyi weist in seinem Werk Hitel (Kredit) explizit auf die Arbeiten von Smith und Young hin und stellt das Individuum in den Mittelpunkt: „Jeder muss sich bewusst machen, dass der Erfolg nur von ihm selbst abhängt.“311 Für ihn war eine Erstarkung der ungarischen Nation nur dann möglich, wenn jeder Einzelne im Bewusstsein seiner Verantwortung und seinen Pflichten handelt. Die Handlungen sollten schließlich mit der festen Verkettung der Einzelnen, eine „kluge“312 Nation formen.313 Széchenyis Hitel inspirierte auch József Dessewffy, den wichtigsten ideologischen Gegner Széchenyis dazu, dem Reformer mit seiner konservativen Sichtweise zu entgegnen.314 Dessewffy, der die

306 Zit. n. ebd., S. 52.

307 Ebd.

308 In den Aristokratenfamilien gehörten die Reisen in Westeuropa, also die „grand tour“ (Deutschland, Frankreich, England, Österreich, Schweiz, Italien) zur aufgeklärten Erziehung und zur Vorbereitung zum öffentlichen Leben. Vgl. Kecskeméti 2008, S. 117.

309 Der erste ideengeschichtlicher Reisebericht stammt von Farkas Sándor Bölöni aus dem Jahr 1834 mit dem Titel: Utazás Észak-Amerikában [Reise in Nord-Amerika], in dem er über die Demokratie des 19.

Jahrhunderts berichtet. Aber auch viele andere Mitglieder der aristokratischen Familien nahmen an einer

„grand tour“ teil. So auch beispielsweise József Eötvös; József Irinyi; Menyhért Lónyai: Bertalan Szemere, István Széchenyi usw. Vgl. ebd., S. 118.

310 Ebd.

311István Széchenyi: Hitel [Kredit], o.O. o.J., S. 265., zit. n. Gyula Andrássy/Zsolt Beöthy et al. (Hrsg.):

Széchenyi Eszmevilága I. [Széchenyis Ideologiewelt I. ], Budapest 1912, S. 75.

312 Anspielung auf den Wunsch von Széchenyi, das deutsche Wort „Klugheit“ ins Leben der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) und somit in die ungarische Nation zu integrieren. Vgl.

Eröffnungsrede von Széchenyi am 24. November 1842 anlässlich der feierlichen Eröffnung der MTA.

Vgl. Andrássy et al. 1912, S. 77 in der Fußnote.

313 Vgl. ebd.

314 Vgl. Andrássy et al. 1912, S. 35.

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Regierung für das Elend verantwortlich machte, lehnte Széchenyis Urteil über das Ungarntum unmissverständlich ab. 315 Széchenyis in die Zukunft gerichtete, eine melancholische Opferrolle ablehnende Denkweise stieß bei den konservativen Denkern auf heftigen Widerstand. Der Konservativismus galt in Europa während des 19. Jahrhunderts – mit Ausnahme von Großbritannien und den Niederlanden – zusammen mit dem (königlichen) Absolutismus als das Konfliktpaar zum Liberalismus; so auch in Ungarn.

3.4.2 Parteipolitische Konflikte zwischen den Liberalen und Konservativen

In Ungarn bezeichneten sich die Konservativen selbst als Traditionalisten und Realisten, dagegen galten sie im Kreise der Reformisten als altmodisch, Verteidiger ihrer Sonderrechte und als Beamte der fremden Mächte.316 Auf der politischen Ebene meldeten sich die „Neu“-Konservativen erstmalig bei der parlamentarischen Versammlung von 1839/40 zu Wort; zu einem Zeitpunkt, an dem es für beide Lager offensichtlich wurde, dass das „unbiegsame“

System des Regierens nicht länger zu halten war. In der parlamentarischen Praxis verkörperten die Konservativen eine eher zurückhaltende Politik: Ihre Strategie bestand darin, sich der Reformpartei mit allen Kräften zu widersetzen. Unter Leitung von Aurél Dessewffy, Sohn von József Dessewffy entstand der neue konservative Flügel, der mit der bisherigen Politik der Konservativen brach. Dessewffy erkannte, dass in Zeiten, als die alten Systeme Europas nicht mehr überlebensfähig waren, der Fortschrittsgeist akzeptiert werden musste. Im Gegensatz zu den Urkonservativen, die sich als Erbe des Metternich-Regimes betrachteten, inszenierte sich der neue Flügel daher als Vertreter eines „überlegten Fortschritts“ („fontolva haladás“). 317 Zwar stellten die Konservativen auf der parteipolitischen Ebene mit der 1846 gegründeten Konzervatív Párt (Konservative Partei) einen Gegenpol zu den liberalen Parteiformationen dar, konnten sich allerdings nur für eine kurze Zeit als politisch bedeutendste Kraft etablieren. Die Konservative Partei ist auf die Initiative von Sándor Lipthay318 und mit der Parteiführung von Emil Dessewffy319 und Antal Szécsen320 als „die Partei der Regierung“321 entstanden. Mit der Einschränkung der

315 Vgl. Gábor Vaderna: Dessewffy József válasza Széchenyi István Világára [Die Antwort József Dessewffy auf Széchényi´s Kredit], in: Gábor Ujváry/Réka Lengyel (Hrsg.): Lymbus. Magyarságtudományi Közlemények [Lymbus. Mitteilungen zu Wissenschaft über das Ungarntum], Budapest 2010, S. 189–

240, hier S. 209.

316 Vgl. Dénes 2001, S. 50.

317 Vgl. ebd., S. 53.

318 Chefredakteur der Nationalen Zeitung (Nemzeti Újság).

319 Sohn von József Dessewffy.

320 Historiker, Mitglied der MTA. Wurde mit der Ausarbeitung des Parteienprogramms beauftragt.

321 Schlett 2009, S. 651.

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Pressezensur seit den 1830er Jahren konnte sich eine Zeitschriftlandschaft herausbilden, in der politische Diskussionen abliefen.322 Somit war den Konservativen die Möglichkeit geboten, in den Komitaten und in der Presse eine Gegenoffensive zu den liberalen Positionen zu starten. Im Landtag von 1847 verfügten die Neu-Konservativen sowohl auf der Magnatentafel (ung. förendiház) als auch in der Ständetafel (ung. alsóház) über die politische Mehrheit.323 Sie verfolgten das Ziel, Kossuth zu marginalisieren und Deák, Széchenyi und Batthyány auf ihre Seite zu ziehen. Damit die Konservativen die politische Führung übernehmen konnten, spielte die von Metternich, dem Beauftragten des „geheimen Staatsrats“, durchgeführte konservative Offensive gegen die liberalen Reformer eine zentrale Rolle: Die Hauptfiguren der Opposition (u.a. Miklós Wesselényi und Lajos Kossuth) wurden zu einer drei- und vierjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Als stellvertretender Kanzler und später Hauptkanzler wurde Graf György Apponyi zur Führungsfigur der Konservativen Partei ernannt. Außerdem erhielt er den Posten des geheimen internen Beraters der Regierung.324 Apponyi wurde beauftragt, die liberale Opposition in den Hintergrund zu drängen und die Geheimpolizei zu stärken. Um die Popularität der Regierung zu erhöhen, suchte Apponyi zunehmend die Nähe Széchenyis, der für seine Reformen die (finanzielle) Unterstützung325 der Regierung dringend benötigte.

Széchenyi konnte ferner sicher sein, dass durch Apponyi die ungarische Verfassung unangetastet blieb.326 Die liberale Reformopposition reagierte auf das Erstarken der Konservativen, indem sie sich 1847 zur Ellenzéki (Liberális) Párt (Oppositionelle Liberale Partei/ELP) formierten. Es ist den Liberalen sogar gelungen, ihr Programm im Landtag von März 1848 anerkennen zu lassen. Einen Monat später stimmten sowohl die Wiener Staatskonferenz wie auch Ferdinand V. dem Programm zu. Die Konservativen waren damit endgültig in den Hintergrund gedrängt worden.327 Die ELP ist als eine Art Protopartei zu betrachten.328 Sie entstand aus der Verschmelzung der oppositionellen Bewegungen des 1841 gegründeten Nemzeti Kör (Nationaler Kreis) und des radikaleren Pesti Kör (Pester

322 Vgl. Bérenger/Kecskeméti 2008, S. 220.

323 Vgl. Dénes 2001, S. 107.

324 Vgl. Szilvia Czinege: Gróf Apponyi György közéleti pályája a reformkorban – egy hivatalnok-politikus portré [Laufbahn von Graf György Apponyi. Portrait eines Beamtenpolitikers], Dissertationsschrift,

Debrecen 2013, online-Veröffentlichung unter:

https://dea.lib.unideb.hu/dea/bitstream/handle/2437/169673/DisszCzinege-t.pdf?sequence=7&isAllowed=y, abgerufen am 23.7.2014, S. 17.

325 So auch bei der Regulierung der Theiß. Vgl. ebd.

326 Vgl. ebd.

327 Vgl. Dénes 2001, S. 108.

328 Vgl. István Vida et al. (Hrsg.): Magyarországi politikai pártok lexikona 1846-2010 [Lexikon der ungarischen politischen Parteien 1846-2010], Budapest 2011, S. 49.

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Kreis). Die Gründung der ELP wurde noch durch die Gründung der Konservativen Partei 1846 beschleunigt. Die Gegensätze innerhalb der liberalen Bewegungen in den Komitaten wurden beiseitegeräumt, um in Pest auf der nationalen Oppositions-Konferenz am 15. März 1847 die ELP ins Leben rufen zu können. Als Vorsitzender der Partei wurde Graf Lajos Batthyány gewählt. Das Parteiprogramm wurde von Lajos Kossuth ausgearbeitet und von Ferenc Deák fertiggestellt; als Ellenzéki Nyilatkozat (Oppositionsmanifest) ging es in die Geschichte ein. Das Manifest beinhaltete die wichtigsten Forderungen der Regierungsgegner. Sie postulierten unter anderen eine verantwortliche Regierung, Garantien der Presse-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit, die Auflösung der Leibeigenschaft, Gleichheit vor dem Gesetz, die Einführung einer allgemeinen Steuerpflicht, das Recht für Kreditanspruch und Erwerb von Landbesitz auch für Nicht-Adelige und die Union Ungarns mit Siebenbürgen. Zudem bestanden sie auf der im Jahre 1790 erkämpften Unabhängigkeit Ungarns innerhalb des Habsburgerreichs.329 Sie berufen sich also auf den Artikel 10 der 1790er Gesetze.330 Die Forderungen lehnten sich stark an die von Széchenyi im Hitel formulierten Reformen an.

Im Gegensatz zu den klaren und mutigen Forderungen der Liberalen erschien der ungarische Konservativismus bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als schwach und wirkungslos.331 Im allgemeinen Bewusstsein galten die Konservativen als die sturen Verfechter adeliger Privilegien, außerdem als die kriecherischen Anhänger der Habsburger, die nicht einmal in Ungarn lebten. Der vorzeitige Tod von Aurél Dessewffy, dem wichtigsten und ehrlichsten Verfechter des Konservativismus Anfang der 1840er Jahre wirkte sich negativ auf die weitere Entwicklung des ungarischen Konservativismus aus.332 Mit dem Tod von Dessewffy verlor Ungarn den bedeutendsten politischen Anführer des Konservativismus, der im Gegenzug zu Széchenyi und Kossuth eine alternative konservative Politik der Nation vertrat.

Das Fundament sollte dabei eine konstitutionelle Monarchie bilden, in der die „überlegten“

Reformen von der Regierung und nicht von der Aristokratie und auch nicht von den Burgkomitaten eingeleitet werden.333 Der Konservativismus konnte jedoch zu jener Zeit

329 Vgl. ebd.

330 Siehe Fn 272.

331 Vgl. Gyurgyák 2007, S. 51.

332 Vgl. ebd.

333 Vgl. ebd., S. 52f.

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nicht überleben, da offenkundig wurde, dass die ungarische Gutsherrschaft keine Zukunft mehr hatte.334

3.4.3 Konflikte innerhalb der politischen Elite: Széchenyi versus Kossuth

Nach dem Landtag von 1839/40 ging der Begriff Fortschritt als Schlüsselwort in die politischen Diskussionen ein. Der Fortschrittsgeist dominierte sowohl das rechte wie auch das linke politische Lager. Baron Alajos Mednyánszky baute eine lockere Pressezensur aus.

Mit Zustimmung der Behörden gelang es ihm, ein halb freies Pressezentrum auszubauen, das die Verbreitung von Tageszeitungen begünstigte. 335 Nach der Freilassung von Kossuth wurde er mit der redaktionellen Leitung des Pesti Hírlap (Pester Nachrichtenblatt) beauftragt, das sich als erstes erfolgreiches Presseorgan etablieren konnte. Die ersten Exemplare wurden am 2. Januar 1841 gedruckt. Innerhalb von kürzester Zeit erreichte das Blatt mehrere Tausend Leser und stärkte Kossuth als zentrale Figur der liberalen Opposition.

3.4.4.2 „Aristokratieliberalismus“versus „Adelsliberalismus“

Die politische Pfadsuche ab 1841 führte zu Konflikten innerhalb des oppositionellen Lagers.

Einen der bedeutendsten Konflikte bildete der sogenannte Manierstreit zwischen Széchenyi und Kossuth, in dessen Zentrum die Beschleunigung der Reformpolitik stand. Für Széchenyi vertrat das Pester Nachrichtenblatt ähnliche politische Werte wie jene, die zu jener Zeit in Frankreich ihre Blütezeit erlebte. Széchenyi´s Enttäuschung richtete sich weniger gegen den Inhalt des Blattes als vielmehr gegen dessen Stil. Seine Denkweise basierte nämlich auf einer Grundeinstellung, wonach das Leben ein dauerhafter Fortschritt und ewige Perfektionierung ist.336 In dem Buch „A Kelet Népe“ (Das Volk des Ostens) von 1841 formuliert er auf 400 Seiten seine Kritik gegenüber dem Pester Blatt: Die konfliktgenerierende und Leidenschaften erweckende Rhetorik des Blattes würde die Etablierung einer neuen, von feudalen Elementen befreiten Interessenvertretung erschweren – so Széchenyi im Kelet Népe.337 Diese Studie leitete den bis 1848 andauernde Streit zwischen ihm und Kossuth ein.

Kossuth entgegnete Széchenyi, indem er darauf aufmerksam machte, dass die Etablierung eines liberalen Staates in einem absolutistischen System, in dem der Adel auf seinen Privilegien beharrt, nur durch die politische Mobilisierung der Gesellschaft – und vor allem des Gemeinadels – zustande kommen kann. Vor diesem Hintergrund sah Kossuth die von

334 Vgl. Kecskeméti 2008, S. 120.

335 Vgl. Bérenger/Kecskeméti 2008, S. 249.

336 Vgl. István Apáthy et al.: Széchenyi Eszmevilága II. [Ideenwelt von Széchhenyi II.], Budapest 1914, S.

39.

337 Vgl. István Széchenyi: A Kelet Népe [Das Volk des Ostens], Budapest 1985, S. 114.

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seinem Blatt behandelten Themen von Elend, Ungerechtigkeiten, Rückständen und dem Hochmut der Aristokratie und den provozierenden journalistischen Stil durchaus als angemessen an.338 Mit dem Streit wurde offenkundig, dass sich auch innerhalb des liberalen Lagers des 19. Jahrhunderts verschiedene Strömungen herausbildeten. Im Gegensatz zu Kossuth, der auf die Rhetorik eines unschuldigen Nationalismus setzte, vertrat Széchenyi einen Liberalismus, der von Lern-, Anpassungsfähigkeit und Selbstkritik sowie von dem Willen zum ständigen Fortschritt geprägt war. Im Kompromiss zwischen dem Habsburgerhaus und dem ungarischen Adel von 1840 sah er den ersten Schritt in Richtung eines „aristokratischen Liberalismus“ 339 , der im Gegensatz zu Kossuths

„Adelsliberalismus“340 stand: Széchenyi träumte nämlich von einer Reform, die von oben, mit der Führung der Aristokratie initiiert wird. Kossuth hingegen sah die stützende Kraft im Adel und in den Burgkomitaten,341 zumal die Adelsgemeinschaften der Burgkomitate zwei Gesandte in die Ständetafel entsenden konnten. Alle Komitate und mit ihnen alle gleichberechtigten Verwaltungseinheiten (Bezirke, in Siebenbürgen Stühle) hatten die Möglichkeit, mit zwei Gesandten - unabhängig von der Größe und der Bevölkerungszahl der Verwaltungseinheiten mit jeweils einer Stimme – am Gesetzgebungsprozess teilzunehmen.342 Im Zuge der Reformdebatten der ungarischen Gesellschaft erwartete Kossuth von „seinem“ Adel und Gemeinadel eine Art Metamorphose, sowohl politisch wie auch gesellschaftlich. Damit hat er das Ziel verfolgt, eine ungarische Mittelschicht zu schaffen. Dabei lag die Betonung auf dem Wort „ungarisch“. Eine Mitwirkung aus Wien lehnte er vehement ab. Er strebte sogar die Magyarisierung der deutschsprachigen Städte an und in seinen Aufsätzen über „Zwinkern Richtung Zollunion“ und „Aussichten der Zollunion“343 griff er die von Széchenyi unterstützte deutsche Zollunion an. Vielmehr vertraute er in das ungarische System der Burgkomitate, die für ihn „die Lebenskraft der Nation“ darstellten.344

338 Schlett 1999, S. 168.

339 Schlett 2009/I., S. 521.

340 Ebd.

341 Ákos Egyed: Széchenyi István hatása Erdélyben [Einfluss von István Széchenyi in Siebenbürgen], in:

Ders. et al.: Széchenyi és Erdély. Tanulmányok [Széchenyi und Siebenbürgen. Studien], Cluj 2002, S.

13.

342 Vgl. Zsuzsanna Boros/Dániel Szabó: Parlamentarizmus Magyarországon (1867-1944). Parlament, pártok, választások [Parlamentarismus in Ungarn 1867-1944. Parlament, Parteien, Wahlen], 2. verbesserte Aufl., Budapest 2008.

343 Ferenc Kossuth (Hrsg.): Kossuth Lajos hírlapi cikkei [Artikel des Lajos Kossuth Nachrichtenblattes], Budapest o. J., nach Gyurgyák 2007, S. 45.

344 Nach Gyurgyák 2007, S. 45.

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In der aufgeheizten revolutionären Atmosphäre der 1840er Jahre konnte Széchenyi die damalige intellektuelle Elite wie Deák und Wesselényi - trotz enger Freundschaft - von seiner pragmatischen Politik nicht überzeugen. 345 Die ablehnende Haltung seiner intellektuellen Weggefährten und sein schlechter Gesundheitszustand führten letztlich zur eigenen politischen Marginalisierung. Dahingegen genoss Kossuth zunehmend größere Beliebtheit und zeigte sich politisch immer stärker und konnte schließlich zur führenden Figur des ungarischen Liberalismus, später des konservativen Liberalismus avancieren. Der Ansehensverlust Széchenyis wurde zudem dadurch verstärkt, dass die Führung des gegen die Habsburger gerichteten Freiheitskampfes Lajos Kossuth übernahm.346 Széchenyi blieb im ungarischen Bewusstsein als der wirtschaftliche Führer hinter dem politischen Freiheitskämpfer Kossuth zurück.

Neben den Meinungsverschiedenheiten in Sachen Nationenbildung gab es weitere deutliche Unterschiede, insbesondere den Status quo des Zivilrechts und des Privatrechts betreffend.

Széchenyi war um eine Reform des Privatrechts bemüht und strebte die Abschaffung des unzeitgemäßen Privilegiensystems an, welches das Fortbestehen der Ständeordnung stärkte.347

Ende des 18. und während des 19. Jahrhunderts waren also auch in Ungarn die verschiedenen Strömungen des Liberalismus, der klassische angelsächsische und auch der kontinentale Liberalismus vertreten. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass im 19. Jahrhundert der Liberalismus in Ungarn auf die Forderung nach einer allgemeingültigen Rechtsgleichheit ausgerichtet war.348 Dies sollte nicht mit der Aufhebung der adligen Vorrechte erreicht werden. Vielmehr strebte die Mehrheit der Liberalen den weitreichenden Ausbau der Adelsrechte an, der Széchenyi vorwurfsvoll als „Adelsliberalismus“ bezeichnete.

3.4.5. Parteipolitische Konflikte: Die Konservativen und die Liberalen

Im nächsten Schritt ist zu prüfen, inwiefern sich der Konflikt innerhalb der politischen Elite zum einen im Kreise der Vertreter des Nationalismus und der Anhänger des Liberalismus

345 Siehe beispielsweise den Briefwechsel mit seinem engen Freund Miklós Wesselényi Anfang des 19.

Jahrhunderts, Vgl. Sándor Maller: Széchenyi István – Wesselényi Miklós. Feleselö Naplók. Egy barátság kezdetei [István Széchenyi – Miklós Wesselényi. Freche Tagebücher. Anfänge einer Freundschaft], Budapest 2004, insbesondere die Analyse von Maller ab S. 47ff.

346 Vgl. Elek Csetri: Széchenyi István szabadságfelfogása [István Széchenyis Freiheitsbegriff], in: Ebd., S.

49f.

347 Tamás Vécsey: Széchenyi és a magyar magánjog [Széchenyi und das ungarische Privatrecht], Budapest 1895, S. 56.

348 Vgl. Takáts 2007, S. 27.

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abgebildet hat, und zum anderen wie der Konflikt entlang den unterschiedlichen Vorstellungen über zivilrechtliche Fragen die Herausbildung von Parteienbündnissen und -programmen bestimmt hat. Darüber hinaus werden die ersten „Spiegelungen“ der Konflikte innerhalb der Bevölkerung beleuchtet, indem die regionalen349 Wählerpräferenzen der beiden parteipolitischen Blöcke aufgelistet werden. Dies soll dazu dienen, die ersten historischen wahlgeographischen Charakteristika der Komitate aufzuzeigen.

Die Gemeinsamkeit der Vertreter beider Strömungen: des Liberalismus und des Nationalismus bestand darin, dass beide Gruppen die Modernisierung des Landes anstrebten, wenn auch mit unterschiedlichen Vorstellungen. Beispielsweise gaben im Landtag von 1840 sowohl das rechte wie auch das linke Lager ihre Zufriedenheit kund. Auf diese

Die Gemeinsamkeit der Vertreter beider Strömungen: des Liberalismus und des Nationalismus bestand darin, dass beide Gruppen die Modernisierung des Landes anstrebten, wenn auch mit unterschiedlichen Vorstellungen. Beispielsweise gaben im Landtag von 1840 sowohl das rechte wie auch das linke Lager ihre Zufriedenheit kund. Auf diese