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3.2.1 Konflikt zwischen dem Herrscherhaus und den ungarischen Ständen

Die nationalen Selbstbestimmungsbestrebungen und die territorialen Entwicklungen innerhalb des Habsburgerreiches waren durch seine eigenen geoethnischen, geoökonomischen und geopolitischen Gegebenheiten sowie von den Umständen beeinflusst, die auf das Reich Einfluss ausübten. So war das Habsburgerreich gezwungen, bedingt durch seine geoökonomische Lage und die weite Entfernung von den bedeutendsten Handelsrouten entlang des Mittelmeers, ein eigenes territoriales Zentrum mit der Stadt Wien zu errichten.

Von Wien aus versuchten die Habsburger eine monokephale Struktur des Reiches auszubauen, in dem sich die militärischen, administrativen und kulturellen Ressourcen in Wien konzentrieren. Im Gegensatz zu Österreich, entwickelte sich Spanien, das sich ebenfalls als ein katholisches Kreuzzugs-Imperium gegen den Islam präsentierte, zu einem Territorium mit polykephaler Struktur, zumal sich dort durch die Nähe der Handelszentren die militärischen und ökonomischen Ressourcen auf mehreren Städte – wie beispielsweise Madrid und Barcelona – verteilten. 248 Diese geopolitische Lage beeinflusste die Außenpolitik der Habsburger und folglich die Bestrebungen der Ungarn nach eigener Nationenbildung als Reaktion auf die österreichische Assimilierungspolitik im aufgeklärten Absolutismus249. Diese nahm unter Maria Theresia – durch die Ansiedlung von Schwaben in Ungarn - ihre Anfänge und erlebte unter der Herrschaft von Joseph II. ihre Blütezeit. In die Zentrum-Peripherie Dichotomie übersetzt befand sich Wien in geopolitischen Zentrum und Budapest in der Peripherie des Habsburgerreichs. Entgegen zu Frankreich, das geschafft hat, seine nationale Identität auf dem eigenen Territorium – von der keltischen Bretagne bis in den germanischen, nördlichen Gebieten - erfolgreich aufzubauen, war Wien auf die Ressourcen in den peripheren Territorien angewiesen250 und – im Sinne der Herausbildung eines homogenen Reiches – darauf ausgerichtet, die eigenen Standards in Sprache und Kultur auf seine „Kolonien“ aufzuzwingen.

247 Vgl. Rokkan 1981, n. Flora 2000, S. 179ff.

248 Vgl. ebd., S. 194ff.

249 Die Geschichte datiert den Anfang des aufgeklärten Absolutismus auf das Jahr 1765.

250 Vgl. ebd., S. 205.

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1765 brachte mit der Politik von Maria Theresia eine Kehrtwendung, denn seitdem berief sie die ständischen Diäten nicht mehr. Vielmehr regierte sie mithilfe von Verordnungen.251 Das hatte zur Folge, dass es zwischen den Ständen und der Regierung nach einer langen Friedenspause erneut zu Konflikten gekommen ist, denen erst der 1790-1791 von Joseph II.

initiierte Kompromiss – wenn auch nur kurzzeitig – ein Ende setzte. Während seiner Herrschaft schränkte Joseph II. insbesondere die Macht der Kirchen und des Adels ein, die sich gegen die aufgeklärten Ideen ihres absoluten Herrschers auflehnten. Aufgrund des enormen Drucks von außen und der Ablehnung seiner Politik war Joseph vor seinem Tod gezwungen, die erlassenen Reformmaßnahmen (mit Ausnahme von drei Reformen), welche seine ungarischen Untertanen gegen ihn aufbrachten, zu widerrufen.252 Die Joseph´sche Politik gestaltete sich härter als jene seiner Mutter, und seine Regierung dynamischer: Er hat die Leibeigenschaft und das Rechtsinstrument der Grundherren, das Patrimonialgericht abgeschafft und mit der Einführung des Deutschen als Amtssprache die Assimilierungspolitik von Maria Theresia fortgesetzt. Er verfolgte das Ziel, das Reich in eine „Gesamtmonarchie“ mit einer einheitlichen (deutschen) Amtssprache, sowie einem einheitlichem Verwaltungs- und Rechtssystem umzugestalten. 253 Die absolutistische Vorstellung einer Gesamtmonarchie war jedoch neben dem aufklärerischen Geist auch aufgrund der kulturellen und geschichtlichen Heterogenität und den unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen innerhalb der Monarchie zum Scheitern verurteilt.254 Jene Situation fügte sich in den Jahrhunderte anhaltenden Kampf zwischen dem fremden,

„ausländischen“ Absolutismus und den „ungarischen“ Ständen ein.255 Die Joseph´sche Regierungszeit diente zudem zur Verfestigung der bereits im 16. Jahrhundert entstandenen Konfliktlinie zwischen Links und Rechts256 - damals zwischen Kuruzen und Labanzen257, die sogar zu einer doppelten Königswahl geführt hat -.

Nach dem Tod von Joseph II. 1790 bedeutete der Wiederruf der Joseph’sche Reformen zunächst den Sieg des ungarischen Adels. Mit dem Ende des Joseph´schen

251 Schlett, 2009, S. 272.

252 Vgl. Helmut Reinalter: Joseph II. Reformer auf dem Kaiserthron, 2011 München, S. 29ff.

253 Vgl. István Hoffman: Közjogi viták 1848-49-ben [Rechtsstaatsdiskurse 1848-49], online-Publikation, abrufbar unter: http://www.jogiforum.hu/publikaciok/44, S. 1.

254 Vgl. ebd.

255 Vgl. Schlett, 2009, S. 272.

256 Vgl. Kecskeméti 2008, S. 311.

257 Mit dem Wort „kurucz“ bezeichnete man die antihabsburgischen Aufständischen, die „labancok“, die Perücken trugen galten als die Habsburgtreuen. Der Konflikt zwischen den Kuruzen und Labanzen spitzte sich in den Aufständen 1671-1711 zu.

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Reformabsolutismus kamen dennoch die Konflikte im Habsburgerreich erneut zum Vorschein. Das gegenseitige Misstrauen zwischen Wien und der ungarischen Opposition verstärkte sich zunehmend und Ungarn bereitete sich auf einen Aufstand vor. Ein Teil der oppositionellen Fraktion begann mithilfe von Preußen, die Pläne für die Loslösung Ungarns vom Habsburgerreich und für die Ausrufung der ungarischen Unabhängigkeit auszuarbeiten.

Für die Besetzung der ungarischen Krone war sogar ein englischer Herzog in Erwägung gezogen.258 Statt jedoch, die extremen Pläne durchzusetzen, ist es gelungen, das Konzept eines umstrukturierten Dualismus zu beschließen, der vermutlich von Rakóczi Ferencs259 Politik inspiriert wurde. Rákoczis Freiheitskampf organisierte sich nämlich unter dem Leitsatz: „Freiheit der Nation“ und versuchte auch die titellosen Leibeigenen, also die Nicht-Adligen für den Kampf gegen die „deutsche Nation“ zu gewinnen. Nach dem Plan des umstrukturierten Dualismus wollte der ungarische Adel die Kontrolle der Exekutivmacht auf einen vom Parlament gewählten Senat übertragen und somit die Entscheidungsbefugnisse dem ungarischen „politicum corpus“ überlassen.

3.2.2 Konflikte zwischen dem liberalen Nationalismus vs. Absolutismus und zwischen Ungarisch vs. Deutsch als Amtssprache

In der ungarischen Gesellschaft brachte das Joseph´sche Jahrzehnt neben den bestehenden Pro-Habsburg- und Anti-Habsburg-Lagern und den religiösen Konflikten eine neue, die dritte Konfliktdimension hervor, die sich insbesondere nach 1790 durch die eingeführte Pressefreiheit in den latein-, deutsch- und ungarischsprachigen katholischen, protestantischen und weltlichen Schriften verfestigt hat.260 In das Blickfeld rückte immer mehr der gegen den Absolutismus gerichtete Fortschrittsgeist, der sich sowohl im gesellschaftlichen Leben wie auch im Parlament entfaltete. Gergely Berzevicky 261 formulierte die Zeit charakterisierend: „Heterogence tendentice fermentabant, buliebant in regno“262, deren Vertreter die Lösung jeweils vom Parlament erwarteten. Der ungarische Adel nahm bis zur Verbreitung des Fortschrittsgeistes der Aufklärung die Macht ihrer Sprache nicht zur Kenntnis. Mit der Zeit entwickelte sich die Sprache als thematischer

258 Kálmán Benda (Hrsg.): Berzeviczy. De dominio Austriae in Hungaria, 1952-1957, nach Kecskeméti 2008, S. 25.

259 Ferenc Rákoczi II. war seiner Zeit einer der reichsten Adligen in Ungarn. Mit seinem Namen ist der gegen die Habsburger geführte Aufstand zwischen 1703 und 1711, der Rákoczi-Aufstand verbunden.

260 Vgl. ebd.

261 Berzeviczy war ein aufgeklärter Denker und Schriftsteller der Zeit (1763-1822).

262 „Verschiedene Ideologien brausten und kochten im Land“, in: Éva Balázs: Berzeviczy Gergely. A reformpolitikus 1763-1795 [Gergely Berzeviczy. Der Reformpolitiker 1763-1795], Budapest 1967, S.

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Schwerpunkt zunehmend zum Gegenstand und sogar zum Ziel des kollektiven politischen Widerstandes des Adels.263 Die Aufklärung sorgte für die Umerziehung des ungarischen Adels, der folglich einen liberalen Nationalismus vertrat. Der liberale Nationalismus bedeutete eine nationale Kultur, welche das „Herder´sche“ Völkische in sich trug.264 Die Forderung nach einem liberalen, bürgerlichen Nationalstaat mit der Schaffung und Modernisierung einer nationalen Sprache heizte erneut neue Gegensätze zwischen dem ungarischen Parlament und dem Habsburger Haus an. Die Konflikte fanden ihre Einbettung in den zentralen Streitpunkten innerhalb der Entscheidungsfindungen der ungarischen politischen Elite: Den einen Streitpunkt bildete der politische Wille nach der nationalen Freiheit (nemzeti szabadság), der andere war durch das Konzept des „regimen commixtum“

dominiert. Das Streben nach der nationalen Freiheit implizierte das Erhalten einer nationalen Ständeordnung mit einem übergeordneten Adelsbewusstsein nach dem westeuropäischen Muster.265 Nach dem aquinschen regimen commixtum sollte das Königreich formal zwar aufrechterhalten bleiben. In der Praxis sollte jedoch eine eingeschränkte Monarchie mit gemischter Verfassung etabliert werden, in der das Gemeinwohl durch die Regierungsbeteiligung aller Gesellschaftsschichten – jedoch nicht mit Gleichberechtigung aller – erreicht wird. Den ungarischen corpus politicum sollte dabei der Adel bilden.