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Im vorliegenden Gerichtsgutachten wird nun in überzeugender Weise dargelegt, daß die Versicherte — jedenfalls im Zeitpunkt des ablehnenden

Im Dokument Jahrgang 1965 ZAK (Seite 196-200)

Invalidenversicherung Eingliederung

2. Im vorliegenden Gerichtsgutachten wird nun in überzeugender Weise dargelegt, daß die Versicherte — jedenfalls im Zeitpunkt des ablehnenden

Beschlusses der IV-Kommission bzw. ihrer Hospitalisierung — im wesentli-chen eine affektiv-bedingte, jedoch besserungsfähige Leistungsschwäche auf-wies, die in ihrer praktischen Auswirkung auf den Schulbesuch, die spätere Berufsbildung und Erwerbsfähigkeit dem echten Schwachsinn gleichkam.

Sie war im Jahre 1963 nicht fähig, eine Volksschule, auch nicht in einer Förderklasse zu besuchen. Ihre Leistungsschwäche hätte damals eine Son-derschulung erfordert. Auch machte die psychische Fehlentwicklung ihre Hospitalisierung notwendig, nachdem die jahrelangen psychiatrischen Be-ratungen der Pflegeeltern und die ambulanten psychiatrischen Untersuchun-gen des Kindes zu keiner entscheidenden Besserung geführt hatten. Die geistige Gesamtbeeinträchtigung des Kindes war 1963 derart groß, daß es im Sinn des IVG und der Rechtsprechung des EVG als invalid betrachtet werden mußte (vgl. EVGE 1961, 327/328).

Nachdem schon die Kinderpsychiatrin den Zustand der Versicherten als besserungsfähig bezeichnet hatte, weist nun der Gerichtsgutachter darauf hin, daß solche Störungen nur während einer gewissen Zeitspanne der psy-chischen Entwicklung des Kindes heilbar sind, bei längerem Bestehen jedoch nicht mehr geheilt werden können, daß die Aussichten auf eine erfolgreiche Behandlung also mit zunehmendem Alter geringer werden und daß in schwe-ren Fällen die Störungen überhaupt nur in der Kindheit, spätestens im Vor-schulalter behoben werden können. Der Gutachter vertritt die bestimmte Auffassung, daß das Kind bereits im Jahre 1963 psychiatrisch habe be-handelt werden müssen und daß ihre Entwicklung ohne solche Behand-lung zu einem irreparablen Defektzustand geführt hätte. Im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Einschulung sei ihre Hospitalisierung in einer Anstalt dringend geboten gewesen. Dieser Aufenthalt habe zwar vorerst der Diagnose gedient; gleichzeitig mit der Abklärung habe aber von allem An-fang an eine intensive psychotherapeutische Beeinflussung des Kindes ein-gesetzt, die ihm voraussichtlich gestatten werde, im Frühjahr 1965 in eine normale erste Primarklasse der Volksschule einzutreten.

Steht somit fest, daß die Betreuung in der Kinderpsychiatrischen Klinik während der ganzen Zeit in erster Linie der Behebung des schweren psychi-schen Defektes der Versicherten diente, der ohne entsprechende Vorkehr binnen kurzem irreversibel geworden wäre und deshalb die Berufsbildung und später auch die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt hätte, so rechtfertigt es sich, diese Betreuung als medizinische Eingliederungsmaßnahme zu be-trachten und deren Kosten der IV aufzuerlegen.

3. Der Gerichtsgutachter weist darauf hin, daß das Kind am 3. Septem-ber 1964 versuchsweise den Pflegeeltern habe zurückgegeben werden können.

Da noch ungewiß ist, ob das erzielte Ergebnis auf die Dauer erhalten werden kann, ist es angezeigt, daß die IV-Kommission im Zeitpunkt der Einschulung, d. h. im Frühjahr 1965 den Fall einer erneuten Prüfung unterzieht und allen-falls neu beschließt.

Urteil des EVG vom 23. Oktober 1964 i. Sa. M. W.

Art. 12 und Art. 21 IVG. Bezüger einer halben oder ganzen IV-Rente haben auch Anspruch auf medizinische Maßnahmen und Hilfsmittel, wenn diese Eingliederungsmaßnahmen eine — auch nur teilweise — Tätigkeit mit oder ohne Einkommen zum Ziele haben und wenn zwischen Kosten und Nutzen der Eingliederungsmaßnahmen ein vernünftiges Verhältnis besteht.

Die im Jahre 1928 geborene Versicherte leidet an arteriovenösen Aneurysmen (lokalisierte Erweiterungen von Hirnarterien und -venen) mehrerer Hirn-gefäße. Wegen dieses Gebrechens kam es seit 1951 verschiedentlich zu Gehirn-blutungen. Trotzdem konnte die Versicherte auch nach der 1950 erfolgten Verheiratung erwerbstätig bleiben und in einer Metzgerei als Verkäuferin arbeiten. Im Jahre 1956 mußte sie jedoch die Erwerbstätigkeit gesundheits-halber aufgeben und sich auf leichtere hausfrauliche Arbeiten beschränken.

Die Ausgleichskasse teilte der Versicherten, die sich im Februar 1962 bei der IV angemeldet hatte, in zwei Verfügungen mit, die IV-Kommission habe be-

schlossen, ihr vom 1. November 1961 an eine ganze einfache Invalidenrente zu gewähren, weil sie als Verkäuferin zu 100 Prozent erwerbsunfähig sei;

dagegen sei das Gesuch um Zusprechung einer Hilflosenentschädigung abge-wiesen worden. Im Juni 1962 mußte sie sich einer Hirnoperation unterziehen, als deren Folge eine linksseitige Hemiplegie auftrat. Ende September 1963 begab sich sodann die Versicherte auf ärztlichen Rat hin in das Inselspital Bern. Ein Assistenzarzt teilte der IV-Kommission mit, sie bedürfe physika-lischer Therapie. Eine geringe Besserung des Gesundheitszustandes sei mög-lich. Der Versicherten könnten aber inskünftig nur noch Arbeiten im Haus-halt zugemutet werden. Die Ausgleichskasse eröffnete der Versicherten mit Verfügung vom 12. November 1963, die IV-Kommission habe beschlossen, die physikalische Therapie nicht zu übernehmen, da sie als Heilbehandlung zu bewerten sei.

Gegen diese Verfügung beschwerte sich der Ehemann der Versicherten.

Das kantonale Obergericht wies den Rekurs am 19. Juni 1964 mit der Be-gründung ab, die umstrittenen medizinischen Vorkehren verbesserten nicht die Erwerbsfähigkeit der Beschwerdeführerin, sondern lediglich deren Arbeits-fähigkeit als Hausfrau.

Das EVG hieß die eingereichte Berufung dahin gut, indem die Sache an die IV-Kommission zurückgewiesen wurde, damit sie im Sinne der folgenden Erwägungen verfahre:

2.

3. Nach Art. 12, Abs. 1, IVG hat der Versicherte Anspruch auf medizini-sche Maßnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und überdies geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren.

a) Die Vorinstanz hat die Beschwerde, wie aus den Entscheiden vorn 19. Juni 1964 bzw. 30. Mai 1963 hervorgeht, im wesentlichen aus folgenden, auch von der IV-Kommission geteilten Gründen abgewiesen: Die Versicherte beziehe eine ganze Rente, weil sie als Erwerbstätige, d. h. als Verkäuferin im entsprechenden Ausmaß invalid sei. Die beanspruchten Maßnahmen dienten nicht der Behebung der Erwerbsunfähigkeit, sondern der Verbesserung der hausfraulichen Arbeitsfähigkeit. Nun sei die Versicherte aber für alle mög-lichen Leistungen der IV als Erwerbstätige zu betrachten. Würde man sie übrigens als Hausfrau qualifizieren, so wäre vielleicht nur eine halbe Rente auszurichten und selbst dann, wenn sie auch als Hausfrau mindestens zu zwei Dritteln invalid wäre, könnten Eingliederungsmaßnahmen wohl bloß in Betracht fallen, falls damit eine die Rentenhöhe beeinflussende Verbesserung erzielt würde.

b) Das EVG hat sich in einem Entscheid zu diesen Fragen hinsichtlich der Abgabe von Hilfsmitteln wie folgt grundsätzlich geäußert: Der Umstand, daß das Gesetz den Eingliederungsmaßnahmen die Priorität vor den Renten-leistungen zuerkennt, bedeutet nicht, daß die Ausrichtung einer Rente die spätere Gewährung von Eingliederungsmaßnahmen ausschließt. Es ist zu-lässig, dem Bezüger einer halben oder ganzen Rente Eingliederungsmaß-nahmen zuzusprechen, die eine auch nur teilweise Tätigkeit zum Gegenstand

haben, welche sich von der Tätigkeit, die der Rentenberechnung zugrunde-gelegt wurde, unterscheidet. Nicht einmal dann besteht ein absolutes Hinder-nis, wenn ein Rentenbezüger, der vor dem Eintritt seiner Invalidität eine Tätigkeit mit Einkommen ausübte, in eine Tätigkeit ohne Einkommen ein-gegliedert wird; denn der Begriff des Erwerbslebens (vie professionnelle) umfaßt nach dem Gesetz in seinem erweiterten Sinne auch die Tätigkeit der Hausfrau. Doch muß in einem derartigen Fall zwischen Kosten und Nutzen der Eingliederungsmaßnahmen ein vernünftiges Verhältnis bestehen.

c) Diese Grundsätze gelten auch für die Gewährung oder Verweigerung medizinischer Maßnahmen, wobei der Abwägung zwischen Aufwand und praktischem Erfolg naturgemäß noch mehr Beachtung zu schenken sein wird als bei der Abgabe von Hilfsmitteln. Die von der IV-Kommission und der Vorinstanz vorgenommene formalrechtliche Einschränkung findet in Art. 9, Abs. 1, und Art. 10, Abs. 1, IVG keine Stütze. Wo das Gesetz fordert, daß die beanspruchte Maßnahme auf die Erwerbsfähigkeit oder das Erwerbsleben positiv einwirken müsse, ist unter diesem erweiterten Begriff sowohl die eigentliche Erwerbstätigkeit als auch die Tätigkeit im «Aufgabenbereich» im Sinne des Art. 5, Abs. 1, IVG zu verstehen. Die in dieser Bestimmung ent-haltene Gleichstellung von Erwerbstätigkeit und Tätigkeit im Aufgaben-bereich gilt nach dem Wortlaut allerdings für die primären Leistungen, ist aber in sinngemäßer Auslegung auch auf spätere Leistungen zu beziehen.

Aus den Revisionsvorschriften des Art. 41, Abs. 2, IVG, zweiter Satz und des Art. 87, Abs. 2, IVV ist unter diesem Gesichtspunkt nicht allgemein zu schlie-ßen, daß Eingliederungsmaßnahmen überhaupt nur zulässig wären, wenn sie auf die der Rente zugrundeliegende Invalidität einzuwirken vermögen.

4. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die formalrechtlich begründete Abweisung der Beschwerde nicht haltbar ist. Ob die in den Akten enthaltenen Angaben für die materielle Entscheidung der Streitfrage ausreichen, kann dahingestellt bleiben. Nachdem die materielle Beurteilung, insbesondere die Abwägung zwischen Aufwand und praktischem Erfolg bisher nicht durch-geführt wurde, ist es nämlich angezeigt, die Sache an die IV-Kommission zurückzuweisen.

Urteil des EVG vom 15. Oktober 1964 i. Sa. L. B.

Art. 13 IVG. Die Hyperopie (Weitsichtigkeit) stellt nur dann eine hochgradige Refraktionsanomalie im Sinne von Art. 2, Ziff. 158, GgV dar, wenn sie mindestens sechs Dioptrien (Brechkrafteinheiten des Lichtes) beträgt.

Der Vater meldete im April 1961 seine im Jahre 1955 geborene versicherte Tochter bei der IV zum Leistungsbezug an, weil sie seit 1957 schiele. Seit 1958 trage sie eine Brille und seit 1960 habe sie Sehschulung genossen. Der behandelnde Arzt hoffe, das Auge ohne Operation korrigieren zu können Der Chefarzt einer Augenklinik stellt im Bericht folgende Diagnose: Strabismus concomitans convergens, beträchtliche Amblyopie (Sehschwäche), mittel-starke Hyperopie. Im Februar 1962 sei eine Schieloperation vorgenommen worden. Die Versicherte unterziehe sich einer Sehschulbehandlung. Der Arzt empfiehlt die «Übernahme wegen Geburtsgebrechen Nr. 161 mit großem

Schielwinkel und Geburtsgebrechen 139». Mit Verfügung vom 10. August 1962 teilte die Ausgleichskasse dem Vater der Versicherten mit, die medizinische Behandlung und die Sehschule könnten nicht übernommen werden, weil kein Geburtsgebrechen vorliege. Nachdem sich der Vater des versicherten Kindes gegen diese Verfügung beschwert hatte, veranlaßte die Rekursbehörde eine Begutachtung durch einen weiteren Augenarzt. Dieser gelangte im wesent-lichen zu folgenden Ergebnissen: Das Schielen sei erst nach dem zweiten Lebensjahr aufgetreten, die Refraktionsanomalie betrage 3-4 Dioptrien, und die Amblyopie sei mit größter Wahrscheinlichkeit nicht angeboren, sondern durch das einseitige Schielen nach dem zweiten Lebensjahr entstanden. Die Rekursbehörde wies hierauf die Beschwerde ebenfalls mit der Begründung ab, daß die Augenleiden im vorliegenden Fall keine Geburtsgebrechen darstellten.

Der Vater des versicherten Kindes reichte gegen diesen Entscheid beim EVG Berufung ein. Er macht geltend, daß nicht das Gutachten des zweiten Arztes, sondern der vom ersten erstattete Bericht maßgebend sei, weil die Beurteilung durch diesen Arzt auf jahrelanger Behandlung seines Kindes gründe. Die Ausgleichskasse trägt auf Abweisung der Berufung an. Da-gegen beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung in seinem Mitbericht die Gutheißung der Berufung. Es bestreitet zwar die Schlußfolgerungen des gerichtlichen Gutachtens nicht, weist aber darauf hin, daß es schwierig sei, in jedem Fall scharf zwischen angeborener und erworbener Sehschwäche zu trennen. Für den Augenarzt sei es beim erstmaligen Untersuch eines mehr als zweijährigen Kindes selten möglich, retrospektiv mit Sicherheit festzu-stellen, seit wann das Schielen bestehe. Bei einem neunjährigen Mädchen, das an Strabismus convergens sinister mit einem Schielwinkel von + 200 bis 250 und einer Sehschwäche von 0,1-0,2 am linken Auge sowie an mittelstarker Hyperopie beidseits leide, sei ein Geburtsgebrechen gemäß Art. 2, Ziff. 139 und 161* GgV anzunehmen.

Das EVG wies die Berufung aus folgenden Erwägungen ab:

Nach Art. 13 IVG hat der minderjährige Versicherte Anspruch auf alle zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Maßnah-men, sofern diese Gebrechen ihrer Art nach zur Beeinträchtigung seiner Erwerbsfähigkeit führen können. Unter Geburtsgebrechen im Sinne dieser Be-stimmung sind Gebrechen zu verstehen, die bei vollendeter Geburt vorhanden und in der Geburtsgebrechenliste (Art. 2 GgV) aufgeführt sind (Art. 1, Abs. 1, GgV).

Nach den Ausführungen des Bundesamtes soll es zwar selten möglich sein, nachträglich festzustellen, seit wann ein Kind schielt. Im vorliegenden Fall jedoch hält es der zweite Arzt für ausgeschlossen, daß das versicherte Kind schon vor dem dritten Lebensjahr geschielt haben konnte, ohne daß dies den Eltern aufgefallen wäre. Dies ist umso glaubwürdiger, als auch eine ältere Schwester der Versicherten mit 2-3 Jahren zu schielen begann, was die besondere Aufmerksamkeit der Eltern auf die Augenstellung der jüngern. Tochter gelenkt haben muß. Nach Ansicht des Gerichtsgutachters ist es unmöglich, daß der erst im dritten Altersjahr aufgetretene Strabismus schon bei vollendeter Geburt bestanden hat. Da keine Veranlassung besteht, an der Zuverlässigkeit und Fachkenntnis des Gerichtsgutachters zu zweifeln, ist anzunehmen, daß der Strabismus des versicherten Kindes in der Tat nicht unter den Begriff des Geburtsgebrechens im Sinn des IVG fällt.

Im Dokument Jahrgang 1965 ZAK (Seite 196-200)