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Bundesstellen und Ausgleichskassen versichern die Angehörigen des in den besten Jahren so jäh Abberufenen ihrer herzlichen Anteilnahme

Im Dokument Jahrgang 1965 ZAK (Seite 98-124)

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GERICHTSENTSCHEIDE

Alters- und Hinterlassenenversicherung Beiträge

Urteil des EVG vom 20. Juni 1964 i. Sa. P. B.

Art. 10, Abs. 1, AHVG; Art. 28 AHVV. Ausdruck der sozialen Ver-hältnisse im Sinne von Art. 10, Abs. 1, AHVG bilden das Vermögen und das Renteneinkommen. Das jährliche Renteneinkommen wird mit 30 multipliziert (Kapitalisierung zu 31/3 Prozent) und dem übri-gen Vermöübri-gen hinzugerechnet. (Erwägung 1)

Art. 28, Abs. 1 und Art. 29 AHVV. Der Vermögensertrag darf nicht wie ein Renteneinkommen kapitalisiert werden, wenn die Höhe des Vermögens, aus dem er fließt, bekannt ist oder von der Ausgleichs-kasse ermittelt werden kann. (Erwägungen 1 und 2)

Art. 28 AHVV. Der Vermögensvorteil, den das Recht auf unentgelt-liche Benützung einer Wohnung darstellt, bildet Renteneinkommen.

Maßgebend ist dabei der tatsächliche wirtschaftliche Nutzen für den Versicherten. (Erwägung 2)

Der Versicherte, ehemaliger Polizeioberst seines Heimatlandes, hat sich in der Schweiz niedergelassen, wo er mit seiner Frau und seinen drei Kindern unentgeltlich in einer Villa wohnt, die ihm von einem Landsmann zur Ver-fügung gestellt wurde. Er erklärt, vom Ertrag aus einem Grundstück in seinem Heimatland zu leben, und wurde für die Jahre 1958 bis 1963 von der Steuerbehörde nach seiner Lebenshaltung für ein jährliches Pauschaleinkom-men von 20 000 Franken eingeschätzt. Die Ausgleichskasse setzte die Bei-träge gemäß Art. 10 AHVG und Art. 28 AHVV fest, indem sie dieses Pau-schaleinkommen als ein Renteneinkommen betrachtete und mit 30 multi-plizierte, um das mutmaßliche Vermögen des Versicherten zahlenmäßig zu ermitteln. Nachdem die kantonale AHV-Rekurskommission seine Beschwerde gegen diese Beitragsverfügung abgewiesen hatte, griff der Versicherte seine Beweisgründe in der Berufung wieder auf, wobei er überdies einige nähere Angaben über die Buchungen auf einem Bankkonto machte, das an seinem schweizerischen Wohnsitz auf seinen Namen besteht. Gemäß der Anregung des BSV hat das EVG die Akten zu neuer Einschätzung an die Ausgleichs-kasse zurückgewiesen, wobei es sich von folgenden Erwägungen leiten ließ:

1. Es ist weder zu bestreiten noch bestritten, daß der Versicherte der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung unterstellt ist (vgl.

Art. 1, Abs. 1, Buchst. a; Art. 1, Abs. 2, Buchst. c, AHVG und Art. 2, Abs. 1 AHVV). Anderseits steht fest, daß er keine Erwerbstätigkeit ausübt. Er fällt somit unter Art. 10, Abs. 1, AHVG, der die Beiträge nichterwerbstätiger Ver-sicherter auf 12 bis 600 Franken im Jahr festsetzt, und unter Art. 28 AHVV, der einerseits eine Beitragsskala auf Grund des Vermögens der Versicherten aufstellt (Abs. 1), und anderseits anordnet, daß, wenn ein Nichterwerbstätiger

gleichzeitig über Vermögen und Renteneinkommen verfügt, der mit 30 multi-plizierte jährliche Rentenbetrag zum Vermögen hinzugerechnet wird (Abs. 2).

Art. 29 AHVV regelt schließlich das Verfahren für die Bestimmung des Ver-mögens der Nichterwerbstätigen durch die Steuerbehörden, deren Mitteilun-gen für die Ausgleichskassen verbindlich sind (vgl. Art. 23, Abs. 2 am Ende, AHVV, der kraft Art. 29, Abs. 1, AHVV analog anwendbar ist).

Wie das EVG bereits hervorgehoben hat, werden für die Beurteilung der

«sozialen Verhältnisse» der nichterwerbstätigen Versicherten einerseits ihr Vermögen (und nicht das Einkommen aus diesem Vermögen) und anderseits ihr Einkommen in Form von Renten, Pensionen, Ruhegehältern und mehr oder weniger regelmäßigen freiwilligen Leistungen, die zu kapitalisieren sind, in Betracht gezogen. Diese Kapitalisierung erfolgt aber nur deshalb, weil zum Unterschied von den Zinsen, die Einkommen aus einem bestimmten, geliehe-nen oder geschuldeten Kapital darstellen, die erwähnten Einkommen nicht aus einem Vermögen stammen, dessen Betrag bekannt ist oder mühelos ge-schätzt werden kann. Es handelt sich demzufolge darum, das mutmaßliche Kapital zu ermitteln, das, zu 31/3 Prozent angelegt, die genannten Einkommen ergäbe. Daraus folgt, daß man das in Art. 28, Abs. 2 am Ende, AHVV vor-geschriebene Kapitalisierungsverfahren nicht anwenden kann, wenn die Höhe des Vermögens bekannt ist oder mit Hilfe von Angaben, die sich die Aus-gleichskassen verschaffen können, bestimmt werden kann (vgl. Art. 23 AHVV, der kraft Art. 29, Abs. 1, AHVV anwendbar ist). Andernfalls könnte die Kapitalisierung der Einkommen zu einer unbilligen Höherschätzung des Ver-mögens führen (vgl. EVGE vom 11. April 1953 i. Sa. H. M., ZAK 1953, S. 230).

2. Im vorliegenden Fall konnte der Berufungskläger anscheinend seiner Treuhandfirma ziemlich genaue Angaben liefern Es dürfte somit nicht un-möglich sein, das tatsächliche Vermögen zu schätzen (über das übrigens die Steuermeldungen keinen Aufschluß geben). Wenn dies zutrifft, so obliegt es der Ausgleichskasse, das Vermögen des Versicherten selbst zu schätzen. Nur wenn sich diese Schätzung als unmöglich erweist, kann die Berufungsbeklagte das von der kantonalen Steuerbehörde angenommene Einkommen unbestimm-ter Herkunft wie einen Rentenbetrag im Sinne von Art. 28, Abs. 2 am Ende, AHVV kapitalisieren. Sie muß jedoch auch den Vermögensvorteil schätzen, der in der Benützung der Villa besteht, die dem Berufungskläger unentgelt-lich zur Verfügung gestellt worden war. Hierauf hat sie diesen Vermögens-vorteil wie eine Rente zu behandeln, deren kapitalisierter Betrag dem eigent-lichen Vermögen hinzuzurechnen ist. Bei der Schätzung dieser Leistung ist jedoch der tatsächliche wirtschaftliche Nutzen zu berücksichtigen, den die Wohnung für den Versicherten hat. Hätte er nämlich statt der unentgeltlichen Unterkunft eine Rente in Geld erhalten, so hätte er im Hinblick auf seine verhältnismäßig schwierige Lage ohne Zweifel eine bescheidenere Wohnung als jene gewählt, die er jetzt bewohnt. Daher muß in Betracht gezogen wer-den, daß der tatsächliche Nutzen für den Berufungskläger nicht den Miet-zins erreichte und erreicht, den Dritte für diese Villa bezahlt hätten und bezahlen würden.

Unter diesen Umständen können weder der an das urteilende Gericht weitergezogene Entscheid noch die angefochtenen Verfügungen aufrecht-erhalten werden.

Verfahren

Urteil des EVG vom 25. August 1964 i. Sa. H. J.

Art. 84 AHVG. Eine Verfügung, mit der die Ausgleichskasse eine von einer Revisionsstelle an Ort und Stelle durchzuführende Arbeit-geberkontrolle anordnet, kann durch Beschwerde angefochten wer-den. (Erwägung 1)

Art. 68 AHVG und Art. 167 AHVV. Der Arbeitgeber, bei dem die Ausgleichskasse an Ort und Stelle die Durchführung einer Arbeit-geberkontrolle angeordnet hat, kann die damit beauftragte Revisions-stelle nur ablehnen, wenn er wenigstens glaubhaft macht, daß diese ihm gegenüber befangen sei. (Erwägung 2)

Art. 50 AHVG. Die mit einer Arbeitgeberkontrolle beauftragte Re-visionsstelle ist nicht befugt, dem kontrollierten Arbeitgeber oder dessen Arbeitnehmern Einsicht in den Bericht zu geben.

(Erwägung 2a)

Der Abrechnungspflichtige hatte von März bis Dezember 1960 als Inhaber einer Schuhsohlerei Arbeitnehmer beschäftigt und von April bis Dezember 1961 in A. ein Buchhaltungsbüro (anscheinend ohne Arbeitnehmer) geführt.

Seit Januar 1962 befindet sich sein Buchhaltungsbüro in B. und ist er nicht mehr der Zweigstelle A., sondern der Zweigstelle B. angeschlossen.

Gestützt auf Art. 162 AHVV hatte die kantonale Ausgleichskasse im Februar 1961 eine Revisionsstelle beauftragt, beim Abrechnungspflichtigen eine Arbeitgeberkontrolle (Art. 68, Abs. 2, AHVG) über den Zeitraum von März bis Dezember 1960 durchzuführen, worauf die Gesellschaft gemeldet hatte, er habe Briefe vom August und Oktober 1961 sowie vom Januar und Februar 1962 unbeantwortet gelassen und jegliche Kontrolle verunmöglicht.

Im Juli 1963 von der Ausgleichskasse ersucht, die Arbeitgeberkontrolle

«umgehend nachzuholen», erstattete die Revisionsstelle am 2. August 1963 folgenden Bericht:

«Die Kontrolle konnte nicht durchgeführt werden ... Am 24. Juli 1963 setzte uns der Abrechnungspflichtige telephonisch in Kenntnis, daß er unsern Revisor zur angekündigten Zeit (26. Juli) nicht empfangen kön-ne ... Im übrigen lehkön-ne er unsere Firma als Revisionsinstanz ab ... Beim Abrechnungspflichtigen handelt es sich um einen typischen Querulanten».

Mit Verfügung vom 16. August 1963 sandte die Ausgleichskasse dem Abrechnungspflichtigen eine Kopie des Berichts vom 2. August und ersuchte ihn, innert Monatsfrist der Revisionsstelle seine Buchhaltung zur Verfügung zu stellen, widrigenfalls er sich strafbar machen würde (Art. 88, Abs. 2, AHVG). Dieser beschwerte sich am 22. August und forderte, daß die Aus- gleichskasse in seinem Fall eine andere Kontrollstelle beauftrage.

Mit Urteil vom 19. Dezember 1963 wies der kantonale Richter die Be-schwerde ab und auferlegte dem BeBe-schwerdeführer 20 Franken Verfahrens-kosten, da er «leichtsinnig und mutwillig» prozessiert habe.

Der Abrechnungspflichtige hat rechtzeitig Berufung eingelegt mit dem Antrag, die Sache zu nochmaliger Prüfung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das EVG wies die Berufung mit folgender Begründung ab:

1. Mit Recht ist der Richter auf die Beschwerde des Berufungsklägers vom 22. August 1963 eingetreten. Gemäß Art. 84 AHVG kann jede auf Grund des AHVG ergangene Verfügung einer Ausgleichskasse von den betroffenen Personen durch Beschwerde angefochten werden. Die Frage, ob ein Ge-schäftsinhaber eine Arbeitgeberkontrolle durch ein bestimmtes Kontrollorgan dulden müsse oder das vorgesehene Organ im Sinne von Art. 167 AHVV als befangen ablehnen dürfe, ist für einen richterlichen Entscheid sehr wohl geeignet.

2. Die betreffende Revisionsstelle hat vom BSV die Ermächtigung zur Durchführung von Arbeitgeberkontrollen (Art. 68 AHVG und Art. 166 AHVV) erhalten. Daß sie ihm gegenüber befangen sei und darum nach Art. 167 AHVV in den Ausstand treten müsse, hat der Berufungskläger nicht glaubhaft ge-macht. Das ergibt sich aus folgendem:

a) Der Berufungskläger rügt zu Unrecht, die Revisionsstelle habe ihm den Bericht der Arbeitgeberkontrolle beim Spital vorenthalten. Freilich heißt es, wie die Ausgleichskasse mitteilt, in jenem Bericht, der Berufungskläger sei vom 13. Februar bis 8. September 1961 halbtagsweise Büroangestellter des Spitals gewesen und habe dafür insgesamt 3200 Franken Lohn bezogen. Wer eine Arbeitgeberkontrolle durchführt, darf aber seinen Bericht nur dem BSV und der beteiligten Ausgleichskasse zustellen (Art. 169, Abs. 4, AHVV), und es ist ihm gemäß Art. 50 AHVG verboten, dem kontrollierten Arbeitgeber oder dessen Arbeitnehmern Einsicht in den Bericht zu geben.

b) Der Berufungskläger beklagt sich, als er der Revisionsstelle gesagt habe, die Zweigstelle schreibe die vierteljährlich eingehenden Beiträge erst im folgenden Jahre den Versicherten gut, habe die Gesellschaft nichts hievon zu wissen erklärt. Einen Ausstandsgrund bildet auch dieser Sachverhalt nicht.

Wer Arbeitgeberkontrollen durchführt, muß einzig prüfen, ob der zu kontrol-lierende Arbeitgeber während der Kontrollperiode seine AHV-rechtlichen Pflichten richtig erfüllt habe (Art. 68, Abs. 2, AHVG und Art. 163 AHVV), und darf sich nicht um die bei der Ausgleichskasse erfolgende Beitragsver-buchung kümmern. Nur die Revision einer Ausgleichskasse hat sich unter anderem auf die Buchhaltung zu erstrecken (Art. 68, Abs. 1, AHVG und Art. 160 AHVV) Hievon abgesehen sind die Ausgleichskassen berechtigt, mit einer jeweiligen gesamthaften Verbuchung der für ein Beitragsjahr be-zogenen Beiträge bis zum 31. Oktober des folgenden Jahres zuzuwarten

(Art. 139 AHVV; Rz 75 der seit Januar 1962 geltenden Wegleitung des BSV über Versicherungsausweis und individuelles Beitragskonto).

Weil eine Arbeitgeberkontrolle mit der Buchführunz bei der Ausgleichs-kasse nichts zu tun hat, hätte sich die Revisionsstelle mit dem IBK des rufungsklägers gar nicht befassen dürfen. Vielmehr wäre es Sache des Be-rufungsklägers gewesen, bei der Ausgleichskasse einen entsprechenden

Rech-nungsauszug

zu verlangen (Art. 141 AHVV; Rz 91 ff. der hievor erwähnten — äht Wegleiturig).

c) In ihrem Bericht vom 2. August 1963 hat die Revisionsstelle den Be-rufungskläger als «typischen Querulanten» bezeichnet. Mit dem kantonalen Richter und dem BSV ist hierin zwar eine unnötige Schärfe, aber kein Aus-

standsgrund im Sinne von Art. 167 AHVV zu erblicken. Da bei einer Arbeit-geberkontrolle nur zu untersuchen ist, ob während der vorausgegangenen Kontrollperiode die AHV-rechtlichen Arbeitgeberpflichten erfüllt worden seien (Buchst. b hievor), darf und wird eine Kontrollstelle durch ein eigenartiges später es Verhalten des Arbeitgebers sich nicht von einer streng objekti-ven Prüfung seiner Bücher und Belege abhalten lassen.

Invalidenversicherung

Eingliederung

Urteil des EVG vom 6. August 1964 i. Sa. S. T.

Art. 12, Abs. 1, IVG. Sind die medizinischen Maßnahmen bei Athetose, die durch eine im Alter von '7 Monaten durchgemachte Encephalitis verursacht wurde, von unbestimmter Dauer und müssen sie eventuell bis zur Beendigung der Wachstumsperiode des Versicherten durch-geführt werden, so handelt es sich nicht uni «während begrenzter Zeit» wiederholte Maßnahmen im Sinne von Art. 2, Abs. 1, IVV.

Die 1956 geborene Versicherte leidet namentlich an einer ausgeprägten Athe-tose (langsame, wurmartige Bewegungen der Extremitäten). Dieses Gebre-chen ist auf eine Encephalitis (Hirnentzündung) zurückzuführen, die das Kind im Alter von 7 Monaten befiel. Infolgedessen kann das Mädchen vor-läufig weder stehen, gehen noch sprechen.

Die Ausgleichskasse eröffnete der Mutter der Versicherten am 4. Januar 1961, die IV-Kommission habe das Gesuch, es seien medizinische Maßnahmen zu gewähren, abgewiesen. Auf Beschwerde hin entschied die kantonale Re-kurskommission am 22. November 1961, die IV habe vom 1. Januar 1960 an alle Kosten zu tragen, welche auf die durchgeführte Behandlung zurück-gingen.

In der Folge gewährte die Versicherung außer diesen Leistungen noch Hilfsmittel, ferner die Behandlung durch eine private Physiotherapeutin und die entsprechenden ärztlichen Kontrollen. Hingegen beschloß die IV-Kommis-sion am 24. August 1962, keine medizinischen Maßnahmen mehr zuzuspre-chen, weil das Gesetz die Übernahme der dauernden ärztlichen Behand-lung, deren die Versicherte bedürfe, nicht zulasse. Diesen Beschluß eröffnete die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 27. September 1962.

Die Mutter der Versicherten beschwerte sich gegen diese Verfügung. Mit Urteil vom 1. April 1964 wies die kantonale Rekurskommission die Beschwerde ab, im wesentlichen aus folgenden Gründen: Dem Entscheid vom 22. Novem-ber 1961 liege die Annahme zugrunde, die spätere Eingliederung der Ver-sicherten könnte durch eine zeitlich b es chränkte Therapie gefördert werden. Inzwischen habe es sich jedoch gezeigt, daß die umstrittenen Maß-nahmen voraussichtlich bis zum Ende der Wachstumsperiode, d. h. bis zum 20. Altersjahr weiterzuführen seien. Dafür biete das Gesetz keinen Raum.

Das EVG wies die von der Versicherten gegen den kantonalen Entscheid eingereichte Berufung aus folgenden Gründen ab:

1. Streitig ist, ob die Berufungsklägerin weiterhin medizinische Maß-nahmen beanspruchen könne. Da sie nicht an einem Geburtsgebrechen leidet, ist diese Frage gemäß Art. 12 IVG und Art. 2 IVV zu beurteilen. Maßgebend sind dafür die Verhältnisse, wie sie in dein Zeitpunkt gegeben waren, in welchem die IV-Kommission den umstrittenen Beschluß faßte.

Nach Art. 12, Abs. 1, IVG hat der Versicherte Anspruch auf medizinische Maßnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern un-mittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und überdies geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. In Art. 2, Abs. 1, IVV hat der Bundesrat außerdem angeordnet, daß als medizinische Maßnahmen unter den in Art. 12, Abs. 1, IVG genannten Voraussetzungen «einmalige oder während begrenzter Zeit wiederholte Vorkehren» gewährt werden. Diese Umschreibung hält sich im Rahmen von Art. 12 IVG. Ob eine Vorkehr nur während «be-grenzter Zeit» wiederholt werde, läßt sich lediglich auf Grund einer Ab-wägung der Verhältnisse im Einzelfall ermitteln. Jugendlichen gegenüber ist der Begriff der begrenzten Zeit nicht eng auszulegen.

2. Auszugehen ist hier vom Umstand, daß der Versicherten eine kon-sequente Therapie schon seit dem Sommer 1957 zuteil geworden ist. Trotzdem konnte die Berufungsklägerin laut ärztlicher Feststellung noch im Februar 1964 nur angelehnt und mit fixierten Füßen sitzen sowie Speisen bloß mit der Faust zu sich nehmen. Weil die Feinmotorik der Sprechorgane nicht funktioniert, fehlt nach wie vor die sprachliche Äußerungsfähigkeit. Wie lange die therapeutischen Maßnahmen, womit «dem schwer beeinträchtigen-den Restzustand» die optimale Bewegungsfähigkeit abgewonnen werbeeinträchtigen-den soll, weiterzuführen sind und ob sie erfolgreich sein werden, läßt sich zur Zeit nicht voraussehen. Möglicherweise sind die Vorkehren bis zum Ende der Wachstumsperiode, also noch während Jahren, durchzuführen. Spätestens in diesem Zeitpunkt sollen sie eingestellt werden, weil Funktionen, die bis dann nicht eingeübt sind, später kaum noch erlernt werden können.

Bei diesen Verhältnissen läßt sich auch dann, wenn man Art. 2, Abs. 1, IVV weit auslegt, nicht sagen, die beantragten medizinischen Maßnahmen seien Vorkehren, die bloß während «begrenzter Zeit» wiederholt würden.

Urteil des EVG vom 31. August 1964 i. Sa. B. S.

Art. 16 IVG. Ist ein in der beruflichen Ausbildung begriffener Ver-sicherter wegen Platzmangels der Ausbildungsstätte außerhalb des elterlichen Haushalts bei der Großmutter untergebracht und wird er dort verköstigt, so gehört dieser Aufwand zu den Kosten der erst-maligen beruflichen Ausbildung. Bei ferneren Verwandten nämlich ist der «familieneigene Haushalt» dann zu verneinen, wenn diese nur wenig bemittelt sind und ihnen die unentgeltliche Verpflegung nicht zumutbar ist.

Der Versicherte ist unter der Aufsicht seines Vormundes bei den Großeltern aufgewachsen. Die Eltern haben seit Jahren an seinen Unterhalt nichts bei-zutragen vermocht.

Laut augenärztlichem Zeugnis trotz Brille seit Jahren erheblich schwach-sichtig, hatte sich der Jüngling nach neun Jahren Primarschule bei ver-schiedenen Firmen erfolglos auf eine Erwerbstätigkeit vorzubereiten gesucht, weshalb der Vormund am 28. Juni 1961 die IV um «Beiträge an die Mehr-kosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung» gebeten hat. Hernach ist der (rechtshändige) Versicherte, als er es als Bauhandlanger versuchte, am 17. Juli 1961 mit der linken Hand in eine Fräse geraten, wobei der Mittelfinger im Mittelgelenk abgerissen worden und es an Zeigefinger und Ringfinger zu Frakturen gekommen ist. In der Folge nahm sich die IV-Regionalstelle des jungen Mannes an und empfahl — nach längern Erhebungen — eine vorläufig einjährige Anlehre in einer Metallwerkstatt. Die IV-Kommission stimmte zu, und am 27. März 1963 verfügte die Ausgleichskasse, die IV übernehme «die Kosten» dieser Anlehre «gemäß Tarifvereinbarung mit dem BSV».

Am 9. Mai 1963 schrieb der Vormund der IV-Kommission, der Ver-sicherte besuche nun seit einer Woche eine Schulungsstätte, müsse aber aus-wärts zu Mittag essen und weiterhin bei der Großmutter wohnen, weil man wegen Platzmangels ihn nicht als internen Schüler aufgenommen habe. Darum möge die IV das Bahnabonnement vom Wohnort zum Arbeitsort und zurück zahlen und die Großmutter, die in ärmlichen Verhältnissen lebe, für das Zimmer, das Frühstück und das Nachtessen ihres Enkels entschädigen, an-sonst ihr die Armenpflege des Wohnorts einen «Teilpensionspreis» ausrichten müßte. Auf diese Meldung hin ergänzte am 4. Juli 1963 die Ausgleichskasse (laut Kommissionsbeschluß) ihre Verfügung vom 27. März dahin, die IV zahle außerdem das Bahnabonnement sowie 3.50 Franken je Mittagessen, aber keine Entschädigung «für Kost und Logis am Wohnort», weil das Gesetz eine solche Vergütung nicht erlaube.

Als der Vormund des Versicherten sich beschwerte, entschied die zu-ständige Rekurskommission mit Urteil vom 5. März 1964, außer den Lei-stungen gemäß Verfügung vom 4. Juli 1963 schulde die IV für die Zeit vom Mai 1963 bis April 1964 für Verpflegung und Unterkunft 2 Franken im Tag.

Mit rechtzeitiger Berufung fordert der Versicherte, daß die monatliche Entschädigung für Verpflegung und Unterkunft am Wohnort laut folgender Rechnung von 60 auf 152.50 Franken erhöht werde:

Kosten in der Schulungsstätte: Fr.

30 x 8 Franken 240.—

Abzug:

Vergütung für Mittagessen (25 Arbeitstage zu 3.50 Franken) 87.50

verbleiben 152.50

Die Ausgleichskasse beantragt, die Berufung abzuweisen, während das BSV in seinem Mitbericht vom 17. Juli 1964 erklärt, die IV müsse die Verpfle-gungs- und Unterkunftskosten übernehmen, die während des Lehrjahres ent-standen seien. Die IV-Kommission habe entschieden, auf welchen Betrag der auf den Wohnort entfallende Teil zu bemessen sei. Maßgebend sei hier einzig, auf wieviel die am Wohnort genossene Verpflegung und Unterkunft des Ver-sicherten zu veranschlagen sei.

Das EVG hieß die eingereichte Berufung gut und wies die IV-Kommis-sion aus folgenden Erwägungen an, einen ergänzenden Beschluß zu fassen:

1. Verursacht die erstmalige berufliche Ausbildung eines Versicherten, der noch nicht erwerbstätig gewesen ist, wegen Invalidität wesentliche zusätz-liche Kosten, so muß die IV diese Aufwendungen ersetzen, sofern die Aus-bildung den Fähigkeiten des Invaliden entspricht (Art. 16 IVG). Dabei ist unter anderem jede Berufslehre oder auch bloße Anlehre als erstmalige beruf-liche Ausbildung zu betrachten (Art. 5, Abs. 1, IVV).

2. Mit Recht bezeichnet die Vorinstanz die erfolgte Anlehre als erst-malige berufliche Ausbildung im Sinne von Art. 16 IVG. Von einer voraus-gegangenen Erwerbstätigkeit kann beim Versicherten nicht gesprochen wer-den. Wie die IV-Regionalstelle darlegt, sind von Frühjahr 1960 bis Frühjahr

2. Mit Recht bezeichnet die Vorinstanz die erfolgte Anlehre als erst-malige berufliche Ausbildung im Sinne von Art. 16 IVG. Von einer voraus-gegangenen Erwerbstätigkeit kann beim Versicherten nicht gesprochen wer-den. Wie die IV-Regionalstelle darlegt, sind von Frühjahr 1960 bis Frühjahr

Im Dokument Jahrgang 1965 ZAK (Seite 98-124)