42. Wir haben bis jetzt das Auftreten der Vocalharmonie in den verschiedenen Türk-Dialecten beobachtet und haben gesehen , wie die Palatal -Attraction die spontane Entwickelung aller auf die Stammsilbe folgenden Vocale aufhebt , während die Labial -Attrac¬
tion bei weitem nicht zu solchem Einflüsse gelangt . Wir haben aber alle diese Erscheinungen als rein phonetische Erscheinungen auf-gefasst , ohne ihren Einfluss auf die Sprachbildung , den Sprach¬
mechanismus der Türksprachen zu beachten . Wir können aber ein richtiges Urtheil über die Vocalharmonie nur dann gewinnen , wenn wir uns klar werden , welche Stellung diese so charakteristische phonetische Eigenthümlichkeit der türkischen Vocalisation zu den sprachbildenden , morphologischen Elementen der türkischen Sprachen einnehmen . Um diese Stellung zu verstehen , müssen wir dreierlei beobachten : 1) wie verhält sich die Vocalharmonie zu grammatischen Portbildungen einzelner Wörter ? 2) Wie verhält sie sich zu Zu¬
sammensetzungen , 3) wie zu den in der Sprache aufgenommenen Fremdwörtern ?
A. Die Vocale in Zusatzsilben .
43 . Die türkischen Sprachen gehören , wie alle ural -altaischen Sprachen zu den agglutinirenden Sprachen , d . h .zu denjenigenSprachen , die die einzelnen Wörter und ihre grammatischen Fortbildungen , durch Anleimen von Silbenreihen an eine Stammsilbe entstehen lassen. So bildet z. B. der Stamm aq (weiss ) durch Hinzufügung der Silbe ar ein Zeitwort ay -ar (weiss werden ), durch Hinzufügung von t ent¬
steht das factitive Zeitwort ay -ar-t (weiss machen). Zu diesem Ver -bum kann man die Silben ygy hinzufügen und so ein nomen agentis bilden : ay -ar - d -ygy (der Weisser ), mit der Pluralendung tar ent¬
steht ay -ar - d -ygy -lar (die Weisser), dann durch Hinzufügung der Pronominalendung ay -ar- d -ygy -lar -ym (meine Weisser ), und an
28 I.Abschn . Vocale . Cap .II. A.
dieses können natürlich wieder Casus -Zusätze treten ay-ar - d -ygy -lar -yni -a (meinen Weissem). Alle auf diese Weise an den Stamm tretenden Silben nenne ich Zusatzsilben oder Formsilben . Diese Zusatzsilben gehen eine mehr oder weniger enge Verbindung mit der Stammsilbe ein . Wir können drei Stufen des Anschlusses der Zusatz¬
silben beobachten :
1) Das Zusatzwort tritt einfach hinter den Stamm , ohne mit ihm eine engere Verbindung einzugehen . Da bei solcher Verbindung nur eine örtliche Nebenstellung stattfindet , will ich solche an den Stamm tretende Formsilben Apposita nennen .
2) Das Zusatzwort wird zum Theil verstümmelt und verliert auch einen Theil seiner Vocal-Selbständigkeit , verschmilzt aber doch nicht vollkommen mit dem Stamme . Solche Formsilben will ich Anlehn -Wörter oder Encliticae nennen .
3) Die Zusatzsilbe verschmilzt ganz mit dem Stamme , so dass sie vollständig als Endung erscheint . Solche Formsilben nenne ich Affixe .
I. Die Affixe .
44 . Die Affixe zerfallen nach den ihnen eigenthümlichen Vocalen in zwei Gruppen : in Affixe mit weiten Vocalen und in Affixe mit engen Vocalen . Diese Eintheilung ist durchaus nothwendig , da der Vocalwechsel , den wir in den Affixen beobachten , sich in einer dieser beiden Vocalgruppen bewegt .
45. Verzeichniss der hauptsächlichsten Affixe mit weiten Vocalen.
a) Affixe mit reinen Vocalen .
Die Pluralendung lar ; die Dativendung qa ; die Locativendung da ; die Ablativendung dan , dan ; die Endung des Casus congruentiae ca ; das Comparativ -Affix raq ; das Distributiv-Zahlen bildende aar , ar ; das Adverbien bildende ia ; die Verbal -Genuscharaktere qaz , ma , äl , qala etc .; das Verba denominativa bildende la ; die Participial -Affixe qan , ar , gan , attan , qalaq , qac . Ausserdem eine grosse Menge amorpher Nomina und Verba bildender Affixe . Auch einzelne Par¬
tikeln , z. B. das Fragewort ba , ma und die Conjunctionen ta -ta , ma -ma etc.
b) Affixe mit engen Diphthongen , deren erster Bestandfheil ein weiter Vocäl ist .
Die Endung des Casus adverbialis dai , die Imperativ-Endungen aini , ain , ai , aiq , die Endung des Concessivus qai u.a. m .
c) Affixe mit labialen Diphthongen . Das Sammelzahlen bildende au .
Die Vocale in Zusatzsilben§§ 44 — 47. 29
46. Die Veränderungen der Vocale, die die obengenannten Affixe beim Anschluss an Wortstämme erleiden , sind streng durch die Ge¬
setze der Vocalliarmonie geregelt , d. h. der weite Vocal des Affixes unterliegt der Palatal - oder Labial -Attraction des letzten Stanim -vocales , wie dies die Vocalgesetze der einzelnen Dialecte fordern . Als Richtschnur für die Veränderungen der weiten Vocale der Affixe möge uns die schematische Zusammenstellung des Labial -Einflusses in den verschiedenen Dialecten , wie ich sie §§ 35, 38 auf¬
geführt habe , dienen.
47. Wenn der letzte Vocal des Stammes ein weiter ist , ist das Dialect -Schema § 35 maassgebend .
a) Dialecte , wo auf einen weiten labialen Vocal stets derselbe weite labiale Vocal folgenmuss .
Hier werden die Vocale des Affixes einem vierfachen Wechsel unterworfen : a, o, ä, ö, z. B. im Altai-Dialecte
a 0 ;i ö
at (Pferd ) ot (Feuer) ät (Fleisch ) köl (See )
at -tar ot -tor ät -tär köl
at -qa ot -qo ät -
kä
köl -yöat -taii ot -ton ät-täii köl -dö d
al (nehmen ) pol (sein ) käl (kommen ) tök (giessen )
al -yan pol -yon käl -yän tök -kön
al -attan pol -otton käl -ättän töy -öttön al -ain pol -oin käl -äin töy -öin
b) Dialecte , wo o die Lubialitäts -Attraction verlorenhat , aber ö stets ö nach sich fordert.
Hier ist der Wechsel des Affix -Vocals ein dreifacher : a, ä, ö,
B. im Kasak -Kirgisischen :
a a ä ö
at ot et köl
at -tar ot -tar et -tär köl -dör
at -qa ot -qa et -kä köl -gö
at -tan ot -tan et -tän köl -dön
al bol kel böl (theilen )
al -yan bol -yan kel -gän böl -gön
at -ain bol -ain kel -äin böl -öin
30
I. Abschn . Vocale . Cap . II. A.c. d) Dialecte, wo weite Vocale Iceine Labial -Attraction auf weite Vocale ausüben .
Hier ist der Wechsel des weiten Affix -Vocals nur ein zwei¬
facher a, ä, z. B. im Tarantschi-Dialecte
a a ä ä
at ot ät köl
at -
lar
ot -lar
ät -lär
köl -lär
at -
qa
ot -qa
ät -kä
köl -gä
al bol käl böl
al -
yan
bol -yan
käl -gän
böl -gän
al -
ai
bol -ai
käl -äi
böl -äi
48. Wenn der letzte Stammvocal ein enger Vocal ist , so ist das Dialect-Schema von § 38 maassgebend .
a) Didlecte, wo der enge labialeVocal ü stetsden weiten labialen Vocal ö nach sich fordert.
Hier ist der Wechsel der weiten Vocale des Affixes ein drei¬
facher : a, ä; ö; z. B. im Altai -Dialecte