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Cap . III

Im Dokument NÖRDLICHEN TÜRKSPRACHEN . (Seite 102-108)

Das Wesen der Vocalharmonie

.

77 . Die Vocalharmonie , wie ich sie in den vorhergehenden Capiteln in ihrem Erscheinen in den Türk -Dialecten geschildert habe , tritt im Allgemeinen in ganz ähnlicher Weise in den meisten Sprachen des ural -altaischen Sprachstammes auf , so dass wir dieselbe wohl mit Recht als eine den ganzen Sprachstamm charakterisirende Laut¬

erscheinung zu betrachten haben . Wie sollen wir uns nun das

Auf-Das WeBender Vocalhamionie §§ 76 — 77. öl treten so auffallend gleichartiger Vocalgesetze ,die den übrigen Sprachen fremd sind , bei einer so weit verzweigten Sprachenfainilie erklären , deren Glieder in grammatischer und lexicalischer Beziehung so weit von einander abweichen , dass man sie kaum als nahe Verwandte zu bezeichnen wagt ? Da drängt sich uns die Frage auf : ist diese Vocal -harmonie eine dem ural-altaischen Sprachstamme ursprünglich inne¬

wohnende Eigenschaft , oder hat sie sich (wie die Assimilation oder der Umlaut in den indo -germanischen Sprachen ) erst später entwickelt und verbreitet ? Böhtlingk (Die Sprache der Jakuten , p. 11 ) neigt sich zu der Ansicht , dass die Vocalharmonie eine den ural -altaischen Sprachen ursprünglich innewohnende Eigentümlichkeit sei , und hält es für wahrscheinlich, dass jene strengen Gesetze der Vocalharmonie auf einer eigenthümlichen Organisation der Sprachorgane aller ural -altaischeu Völker beruhe und diese nur mit der Zeit , vielleicht durch vielfache Berührungen mit Völkern anderen Stammes , wieder auf¬

gehoben werden können ." Für diese Annahme spricht nach Böhtlingk 's Ansicht grade der geringe Grad von Uebereinstimmung der verschie¬

denen Glieder dieses Sprachstammes in grammatischer und lexicalischer Beziehung . Dieser Ansicht Böhtlingk's steht die Meinung LucienAdam 's

( L 'harmonie des Voyelles dans les langues Oural-Altaiques . Paris

1874 ) diametral gegenüber . Letzterer behauptet nämlich , gestützt auf das Studium sehr alter magyarischer Sprachdenkmäler , dass sich in früherer Zeit die Affixe inharmonisch mit den Stammsilben verbunden haben , und dass erst später allmählich der harmonische Zusammen¬

hang entstanden sei .

Die Meinung Böhtlingk' s , dass die Vocalharmonie auf einer eigen¬

thümlichen Organisation der Sprachorgane der ural -altaischen Völker beruhe , wird durch meine frühere Auseinandersetzung über die anthro -pophonetische Bedeutung der Vocalharmonie widerlegt . Es ist weder die eigenthümliche Organisation der Sprachorgane , die den Uralaltajer bewog , die Wörter mit gleichmässiger , passiver Stellung des Ansatz -rohres hervorzubringen , noch ist es eine geistige Trägheit , wie Stein¬

thal annimmt (Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des mensch¬

lichen Sprachbaues . Berlin 1860 , p. 180 ), ebenso wenig wie es eine allmählich erst in letzter Zeit eingedrungene Angewöhnung ist, wie Lucien Adam meint . Nein , der Grund der Entstehung der Vocal¬

harmonie ist ein morphologischer , der mit der inneren Sprachform der ural -altaischen Sprachen im innigsten Zusammenhange steht . Die morphologische Bedeutung der Vocalharmonie schildert uns Baudouin de Courtenay in seiner Abhandlung : Pesta h Peswme "

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52 I. Abschn . Vocale . Cap . III . C.

(GiaiwniCKiäcöopHHKt, iowb III . ct . I pag .323 ) in folgender Weise : In den mehrsilbigen Wörtern ario -europäischer Sprachen tritt stets eine Silbe hervor und wird durch den ihr zugehörigen Wortton ausge¬

zeichnet . Obgleich die übrigen Silben nun dieses Nachdrucks ent¬

behren , den die Tonsilbe besitzt , so bewahren sie dennoch ihre in¬

dividuelle Eigenthümlichlceit und verändern diese der herrschenden Silbe zu Gefallen nicht . In den turanischen Sprachen hingegen assi -miliren sich alle Silben der herrschenden Silbe , d. h. sie ordnen sich ihr im vollen Sinne des Wortes unter . In den ario-europäischen Sprachen kann man nicht von wirklichen Wörtern reden , bis die einzelnen Silben- und Lautcomplexe (Stämme , Suffixe und überhaupt Anfügungen,Endungen ) sich durch den einer Silbe zugehörigen Accent zu einem Ganzen verbunden haben . Ebenso entsteht hier die Zu¬

sammensetzung zweier Wörter (Wurzeln , Themata ) zu einem einzigen Worte dadurch , dass das eine derselben den ihm eigenthümlichen Ton verliert , und dass es sich in solchen Wörtern dem gemeinschaft¬

lichen Accente unterwirft , der eine der Silben des andern Wortes begleitet . In den turanischen Sprachen müssen die einzelnen Wörter und Silben als selbständige Wörter angesehen werden , sobald sie in einem bestimmten Ausdrucke , den Gesetzen der Vocalharmonie zu¬

wider , die ihnen eigenthümlichen Vocale bewahren . Wenn sie hin¬

gegen durch den Cement der Vocalharmonie verknüpft werden , so bilden sie mit einigen einsilbigen Wörtern ein mehrsilbiges Wort . Ebenso entsteht in den turanischen Sprachen die Zusammensetzung zweier Wörter zu einem Ganzen , wenn die Vocale des einen sich mit den Vocalen des andern in Harmonie setzen." Diese Auseinander¬

setzung Courtenay 's entspricht vollkommen der wahren Bedeutung der Vocalharmonie . Es ist das Wesen der agglutinirenden Formen¬

bildung , das aufs engste mit der Vocalharmonie zusammenhängt . Sobald in nebensetzenden Sprachen der Agglutinationstrieb erwacht war , die sich an einander reihenden Wurzeln zu wirklichen Wörtern zu verschmelzen , bedurften sie eines äusserlichen Bindemittels , und dieses Bindemittel fanden die Völker des ural -altaischen Stammes in der gleichmässigen Stellung des Ansatzrohres beim Aussprechen der Wörter , deren Folge die Erscheinungen der Vocalharmonie sind . Diese Ansatzrohrstellung erlaubte den Affixen , ihre ursprüngliche Form möglichst beizubehalten , und nüancirte nur die Vocale , den beweg¬

lichsten Bestandtheil derselben . Um den Zusammenhang von Agglu¬

tination und Vocalharmonie uns deutlich zu machen , wollen wir die Entwicklung der agglutinirenden Formeubildung an einigen Beispielen

Das "Wesen der Vocalharmome § 77. 53 verfolgen , wie sie uns die Vergleicliung der grammatischen Formen einzelner Türkdialecte darbietet .

In allen Türkdialecten existirt ein Gerundium , das aus dem Verbalstamm durch Anhängung eines weiten Vocals gebildet wird ,

z. B. in den Wolga -Dialecten: kil -ä (kommen ), al -a (nehmen ), ter -a

(stehen ), kel -ä (lachen ), qus-a (befehlen ), kür -ä (sehen ). An dieses Gerundium können zwei Formen des als Hülfszeitwort gebrauchten Zeitworts ter , tur treten : 1) der Verbalstamm ter , tur , der allein¬

stehend die Bedeutung der zweiten Person des Imperativs (also : stehe !)

hat . 2) das Participium perfecti teryan , turyan . Tritt tur als selbständiges Wort an das obengenannte Gerundium , so bleibt es ganz unverändert , und beide Wörter bilden zusammen eine begriff¬

liche Vereinigung , z. B. im Kirgisischen : tura -tur (bleibe stehen !),

[wörtl . stehend stehe !], külö -tur (lachend stehe !), [lache !], körö -tur

(schaue !) [schauend stehe !], ala -tur (nimm !). In einigen anderen Dialecten wird dieses ter , tur als Hülfszeitwort (nicht in seiner eigent¬

lichen Bedeutung als Imperativ ) an dasselbe Gerundium gehängt , um die Bedeutung des als Verbum finitum gebrauchten Gerundiums her¬

vorzuheben , oder zu modificiren . Und zwar erscheint es als Appo -situm in der Form tyr , dyr , als ala -dyr , kälä -dyr , tura -dyr , külä -dyr , körä -dyr , oder im Tarantschi -Dialecte verstümmelt in der Form ali - , kälä -dü , turü - , külä -du, körä -. In den Wolga -Dialecten wird es zur Enclitica und modificirt das als dritte Person des Praesens gebrauchte Gerundium , indem es ihm die Be¬

deutung wohl ; wahrscheinlich " beilegt , also : dyr und dir ; also: kilä -dir , ala -dyr , tera -dyr , kelä -dlr , qusa -dyr . Im Kirgisischen endlich ist das Hülfszeitwort tur zur vollkommenen Endung der dritten Person des Praesens in der Form ady (Kkir .) odü , ädi , ödu herabgesunken , z. B.kelädi , alady , bolo du (Kkir .) bolady (Kir .) körödü . Das Participium teryan , turyan wird an dasselbe Gerun¬

dium gehängt , um Adjectiva verbalia zu bilden , die ungefähr dem lateinischen Gerundivum entsprechen . In den verschiedenen Dialecten tritt diese Verbindung ebenfalls in drei Stufen auf , erstens als reine begriffliche Zusammenstellung , z. B. in den Wolga -Dialecten ala -teryan , kilä -teryan , tera -teryan , kelä -teryan , kürä -teryan . Im Kirgisischen ist turyan zu einem Formwort tüyün verstümmelt und schliesst sich als Appositum an das vorhergehende Wort an , z. B. ala -tüyün , kelä -tüyün , tura -tüyün , külö -tüyün , körö -tüyün . Im Altaischen endlich ist es vollständig zum Affixe herabgesunken und zwar in der Form ttan , ttän , tton , ttön , z. B. alattan ,

54 I. Abschn . Vocale . Cap . III. C.

kälättän , polotton , kör 'öttön und das Letztere kann als neu¬

gebildeter Stamm wieder Affixe annehmen : z. B. alattan -ymda , köröttön -dor . Wir sehen hieraus, wie in den einzelnen Türkdialecten die Intensivität der Vocalharmonie sich mit dem Fortschritte des Ag -glutinationsprocesses auf gleicher Stufe hält . Ebenso ergiebt die Ver -gleichung der Türk -Dialecte unter einander , dass diejenigen Türk¬

sprachen die strengste Vocalfolge zeigen , die am meisten im An¬

leimen der Endungssilben leisten . Ich glaube nun keineswegs , dass das Auftreten strenger Gesetze der Vocalharmonie Schlüsse über das Alter eines Türkdialectes zu machen gestattet , denn das Aggluti¬

nationsbestreben hat sich in den ural -altaischen Sprachen verschieden¬

artig entwickelt und verschärft und hat in vielen Idiomen wieder abgenommen und mit ihm ist auch die Intensivität der Vocalharmonie allen diesen Schwankungen unterworfen gewesen. Wohl aber bin ich der Ansicht , dass auf dem türkischen Sprachgebiete , Sprachen wie die altaische , kara -kirgisische oder jakutische , die eine so aus¬

geprägte Vocalharmonie zeigen , als die Vertreter derjenigen Periode der Sprachentwicklung angesehen werden müssen , wo die Ausbildung des türkischen Sprachgeistes sich iu seiner ganzen Eigenartigkeit ent¬

faltet hatte . Diese Periode ist aber, wenn wir die Gesammtheit der jetzt gesprochenen Türksprachen in 's Auge fassen, als eine vergangene zu betrachten , da die Vocalharmonie fast überall mehr und mehr an ihrer Intensivität verliert .In diesem Sinne kann man denErscheinungen des kara-kirgisischen und altaischen Vocalismus eine gewisse Alter -thümlichkeit nicht absprechen .

78 . Weitere Schlüsse über die Entstehung der Vocalharmonie überhaupt können wir durch Erforschung des türkischen Sprach¬

gebietes nicht erlangen . Um diese Seite der Frage zu beantworten , müssen wir uns zu vergleichenden Forschungen im ganzen Sprach¬

gebiete des ural -altaischen Stammes wenden , und zwar ist zu diesem Zwecke eine genaue Vergleichung der Erscheinungen der Vocalhar¬

monie , wie wir sie in den verschiedenen Sprachen dieses Sprach¬

gebietes antreffen , mit der Intensivität des Agglutinationsprocesses der entsprechenden Sprachen nöthig , d. h. eine Zusammenstellung der phonetischen Erscheinungen mit ihrer morphologischen Verwendung . Eine solche Zusammenstellung auszuführen , ist für jetzt unmöglich ; dazu bedarf es noch vieler Vorarbeiten und besonders einer genauen vergleichenden Untersuchung der sprachlichen Erscheinungen , der jetzt gesprochenen Dialecte in allen Gebieten des ural -altaischen

Sprachstammes . Um aber wenigstens ein Bild der Verbreitung und

Das Wesen der Vocalharmonie §§ 77 — 79. 55 Erscheinungen der Vocalharmonie zu geben, will ich hier eine all¬

gemeine Uebersicht über die Mittel der Vocalharmonie und ihrer Ver¬

wendung in den verschiedenen Zweigen des ural -altaischen Sprach -stammes zusammenstellen , da eine solche Uebersicht am Besten das Verhiiltniss der türkischen Vocalgesetze zu denen der übrigen ver¬

wandten Sprachfamilien zu fixiren im Stande ist .

79 . Je nach den Erscheinungen der Vocalharmonie zerfallen die Sprachen des Ural -altaischen Sprachstammes in drei Gruppen :

I. Sprachen , die in den Wortstiimmen keine Vocalattraction zeigen .

a) Sprachen , in denen beim Antreten lebenskräftiger Affixe der Endungsvocal dem Vocale der letzten Stammsilbe sich in ganz unregelmässiger Weise assimilirt . Hier ist die Assimilation eine rein phonetische Erscheinung und findet durchaus keine morphologische Verwendung [Samojedische Sprachen* ), Ost¬

jakische Dialekte ]. (Es möge genügen , eine kurze Uebersicht der Vocalattraction der Samojedischen Dialecte zu geben , wie wir sie bei Castren [Samojedische Sprachlehre . Petersburg

1854] finden ).

1. Wenn ein auf h anlautendes Affix an einen vocalisch aus¬

lautenden Stamm tritt , so nimmt es denselben Auslauts -Vocal an (vollständige Vocalattraction ) [im Jurakischen (dass .,

p . 25 ) ], z . B. höla -had , warne -hed , ~ano -hod , habi -hid ,

paeidu -hud .

2. Ein vierfacher Vocalwechseldes Endungsvocales findet statt :

a, o, e, ö [Ostjak-Samojedisch (ebend ., p. 35 )] sebr selten , bei einzelnen Casusaffixen : marg -an , tob -on , pylb -on , tib -en , cel -en , üg -ön , ög -ön .

u, u, e, i [Tagwi -Samojeden ( p . 27) ]. Selten , in einzelnen Possessiv -und Adjectivaffixen , jedoch ist dieser Wechsel nicht durch den Stammvocal beeinflusst , z. B. juntä -jur , juntä -jur , juntä -jer , juntä -jir .

3. Zweifacher Wechsel des Endungs-Vocals findet statt :

ä — ea [Tagwi -Samojeden ( p. 28 )] der Einfluss des letzten Stamm

-*) Ausser dein Kamassiner -Dialecte,der deutlicheSpuron einerdurchgeführten Vocalharmonie zeigt ; jedoch ist diese Vocalharmonie durch türkischen Einfluss hervorgebracht, wie der ganze Dialect unsdeutliche Spuren einer schon ziem¬

lich fortgeschrittenen Türkisirung darbietet .

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L Abschn . Vocale . Cap . III . C.

vocals ist nicht zu erkennen , satu - , jua -, kaku -lea , die -lea .

a — e [Jurak -Sainojeden ] in abgeleiteten Verbalformen : pise - l -eu , pireu , jiend -eu aber paro -läu , teamd -äu. [Jenissei -Samojeden ], koru -maro ', ugge -maro', nohi -maro ', ori -mero', josi -hebo , josu -nabo .

a _ o [Jenissei -Samojeden ( p . 32)] in Affixen die mit h beginnen : jaha -hane , libe -hone .

o _ e [Jenissei -Samojeden ( p. 33 ) ]. Objectiv-Affixe der dritten Per¬

son des Singulars nach gutturalen Vocalen ro -do , nach pala -talen re -de . [Ostjak-Samojeden ( p. 34 )] lab -ond , kob -ond , mün -ond , aber ög -end , üd-end .

u — e [Tagwi -Samojeden ] ~oa -du , kam -tu , samu -du , aber -de , bua -de, -de . (Also auch hier ist kein Einfluss des Stammvocals zu erkennen ),

b) Sprachen , in denen beim Antreten einzelner lebenskräftiger Endungen ein mehr regelmässiger , durch die Palatal-Attrac -tion des letzten Stammvocals veranlasster doppelter Wechsel des Endungsvocals stattfindet ; also erste Spuren morpholo¬

gischer Verwendung der Vocal -Attraction . [Ugrische Spra¬

chen .] (Es wird genügen , wenn ich hier Alquist 's Angaben über die Vocalfolge im Mordwinischen aufführe ). (Alquist , Versuch einer mokscha -mordwinischen Grammatik).

Die palatalen Vocale e und i in der letzten Silbe des Wort¬

stammes veranlassen meist das Auftreten palataler Vocale

(ä — e — i) in den Beugungs -Endungen , z . B . pe - , virgä , pile - , vir -indi , vir -ftemä . Nach anderen Stamm -vocalen treten gutturale Vocale auf : (a — i — u) kud -jn, kut -ta , kut -ftima . Jedoch ist die Scheidung noch nicht durchgeführt , da viele Endungen auch bei palatalen Stamm -vocalen guttural sein können .

II

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Sprachen

, die in

den

Wortstiimmen und Endungen überall deut¬

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