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Vereinfachter psychopathologischer Befund und Ausschluss von psychiatrischen Erkrankungen

1. Wachheit/Vigilanz

2. Orientierung: Person/Ort/Zeit 3. Auffassung (inkl. Sprichworttest) 4. Konzentration (100–7)

5. Merkfähigkeit (3 Begriffe über 10 min) 6. Gedächtnis (Zeitgitter, Langzeit) Abb.1: Vereinfachter psychopathologischer Befund und Ausschluss von

psychiatrischen Erkrankungen

Zumindest meinen Studierenden bringe ich immer bei: Wenn eine Person notfallmäßig in die Klinik kommt, dann müssen sie prüfen »Ist die Person wach, ist die orientiert und versteht die, was Sie sagen?«, ansonsten besteht, so haben wir es zumindest früher genannt, ein »akutes hirnorganisches Psy-chosyndrom«, und der Patient ist vital gefährdet und muss akut behandelt werden (vergleiche Abb. 1). Heute läuft das unter der Diagnose Delir, und wenn Sie an Jaspers (1946) denken, dann hat er betont, dass man immer zuerst die schwersten Krankheiten ausschließen sollte, und wenn eine schwere Erkrankung gegeben sein sollte, solle man nicht über andere Erkrankungen spekulieren. Heute haben wir dagegen Komorbiditätsmo-delle, da können Sie unzählige Krankheiten hintereinander montieren

wie einen Zug, der immer länger wird und immer unübersichtlicher. Ich mag eher dieses alte System: Es war und ist sinnvoll, immer zuerst ein Delir auszuschließen oder eine andere Form der akuten hirnorganischen Probleme, etwa ein Durchgangssyndrom.

Und dann haben wir beim vereinfachten pathologischen Befund gesagt:

Bitte Konzentration, Merkfähigkeit und Gedächtnis prüfen – wenn das in Ordnung ist, hat man keine Demenzerkrankung (vergleiche Abb. 1, S. 65).

Ich brauche für die klinische Diagnose einer Demenzerkrankung also nicht notwendigerweise ein organisches Korrelat, wenn Konzentration und Merk-fähigkeit beeinträchtigt sind, um eine Demenz zu diagnostizieren. Ich finde ein solches Korrelat bei der Demenz häufig, aber das muss nicht sein. Dia-gnostisch leitend ist nach wie vor die psychopathologische Einschränkung:

»Ich kann mir nichts merken«. Es gibt selbst mit den schärfsten Kritikern der Psychiatrie keinen Dissens, dass die hier genannten Leitsymptome Einschrän-kungen lebensrelevanter Funktionsfähigkeiten sind, deren Manifestation eine Erkrankung anzeigt.

Allerdings wurden in der Zeit, als ich als Neurologe tätig war, die De-menzen oft noch nicht wirklich als Erkrankungen verstanden. Da gab es noch das Konzept der »Altersvergesslichkeit«. Aber wenn die zunimmt und man wirklich in seinem Alltag eingeschränkt ist, dann gab es immer schon das Gefühl, dass eine Erkrankung besteht. Es haben sich damals allerdings nur oft wenige Ärzte dafür interessiert, weil es keine Behandlung gab – das ist heute anders.

Vereinfachter psychopathologischer Befund zum Ausschluss psychischer Erkrankungen

Bei der Definition der lebensrelevanten Funktionsfähigkeiten, deren Ein-schränkung aus medizinischer Sicht eine Erkrankung anzeigt, geht man, wenn Sie sich die großen psychischen Erkrankungen anschauen, schon bei den Psychosen und den affektiven Erkrankungen über das reine Überleben hinaus. Wenn ich mich etwa auf Grund eines Delirs immer verlaufe, weil ich desorientiert bin, dann ist mein nacktes Überleben gefährdet. Wenn ich hingegen im Rahmen einer Psychose Stimmen höre, die mir irgendetwas sagen, wonach ich handele, kann ich meist trotzdem überleben. Aber was dann wirklich schwierig ist, ist das Leben mit anderen, weil die nicht wissen:

Handelt der jetzt aus eigenem Antrieb oder weil die Stimmen etwas sagen oder seine Gedanken von außen »eingegeben« sind.

Andreas Heinz

Damit vergleichbar ist die Frage, wann eine depressive Verstimmung ein Krankheitssymptom sein kann? Wir alle kennen Traurigkeit. Ich glaube, dass die Abgrenzung aller möglichen Formen von Depression vom Alltagsleiden unscharf geworden ist. Aber das eigentliche Kennzeichen einer Depression ist die Affektstarre. Die Unfähigkeit sich zu freuen. Und die Affektstarre ist, denke ich, auch das Schwierige an einer Manie. Den Patienten, denen es in der Manie ausgesprochen gut geht, ist oft schwer verständlich zu machen, dass es vielleicht hinterher Probleme geben könnte, wenn sich die Sichtweise geändert hat. Aber wenn ich nicht trauern kann und ich habe in meinem Umfeld Freunde oder Angehörige, die einen guten Grund haben zu trauern, und ich kann das trotzdem nicht, dann schränkt das starre Hochgefühl mein Leben mit anderen in einer geteilten Mitwelt sehr ein.

Wenn Sie mir zustimmen, dass auch diese Symptome Einschränkungen lebensrelevanter Funktionsfähigkeiten sind, dann setzen wir hier voraus, dass wir Menschen immer mit Anderen leben. Es gibt bezüglich der lebensrele-vanten Funktionsfähigkeiten aber keine ein für alle Mal festgeschriebenen Grenzen, hier entscheidet immer auch das Menschenbild.

Diagnosen

Exogene Psychosen (hirnorganische

Psychosyndrome)

Endogene Psychosen Variationen

Akut

z. B. Delirium Die Gruppe der

Schizophrenien Neurosen

(Trauma & konfliktbezogen) Chronisch

z. B. Demenzen Majore affektive Erkrankungen (unipolar & bipolar)

Persönlichkeitsstörungen (traits)

Abb. 2: Diagnosen

Das heißt aber, dass quasi nur die ersten vier Diagnose-Gruppen, die in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD)-10 enthalten sind (im ICD-11 wird anders sortiert), also die Kapitel F0, F1, F2 und F3, zu den Erkrankungen im engeren Sinn gehören (siehe Abb. 2).

Bei Jaspers finden wir noch eine Besonderheit: Zu den endogenen Psycho-sen gehörten damals noch die Epilepsien, weil man zu seiner Zeit – also zumindest als er 1912 die erste Auflage seiner Psychopathologie geschrieben hat – noch kein EEG hatte. Wenn man sich das vergegenwärtigt, versteht

man, was Jaspers unter einer Erkrankung verstand: Sie bricht unvorherge-sehen über die betroffenen Menschen herein, die Leitsymptome wirken sehr organisch, und selbst, wenn die Ärzte noch nicht verstehen, was die Erkran-kung auslöst, sind die Symptome nicht einfach als übliche Reaktionen auf zwischenmenschliche Konflikte verständlich (wie eine seelische Verletzung nach Kränkung oder Ähnliches). Über die F4 und F6 Kategorien, also über Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, kann man lange diskutieren. Meines Erachtens kann man einfach das Kriterium anlegen und fragen: »Können wir uns einigermaßen konsensuell darauf einigen, dass hier lebensrelevante Funktionsfähigkeiten vorliegen oder nicht?« Und da kann man sich dann sicherlich streiten, beispielsweise über die Frage: Ist die soziale Phobie nur eine ausgeprägte Schüchternheit oder schränkt sie das Leben doch so ein, dass sie Krankheitswert hat?

Abb. 3: Klinisch relevante Krankheit

Zur Diagnose einer Erkrankung reicht es aber nicht, aus medizinischer Sicht allgemein lebensrelevante Funktionsstörungen zu beschreiben. Das bezeichnet nur das Eingangskriterium, das erfüllt sein muss, wenn etwas eine klinisch relevante Erkrankung sein könnte. Aber warum genügt das nicht? Warum reicht das nicht, dass ich sage: »Das ist eine lebensrelevante Funktionsstörung«? Weil es zum Beispiel die »Stimmenhörer« und andere gibt, die bezüglich ihrer Erfahrungen bzw. Symptome sagen: »Ich bin damit glücklich und komme gut klar, bitte lassen Sie mich in Ruhe«. Dann kann

Andreas Heinz

ich zwar als Arzt immer noch betonen, dass die Stimmen aus medizinischer Sicht akustische Halluzinationen sind und ein Krankheitssymptom darstellen.

Aber, wenn die Leute damit klarkommen, wieso muss ich da eine klinisch relevante Erkrankung diagnostizieren? Letzteres macht nur Sinn, wenn die betroffene Person auch darunter leidet oder im Alltag nicht mehr klarkommt (siehe Abb. 3). Das betrifft also die in Abb. 3 bezeichneten Teilbereiche, in dem eine medizinisch relevante Funktionsstörung mit individuellem Leid oder einer wesentlichen Einschränkung der Alltagsfunktionen überlappt.

Dazu ein Beispiel: Aus medizinischer Sicht ist es generell lebenswichtig, Halluzinationen von der Wahrnehmung äußerer Ereignisse unterscheiden zu können. Individuell krankheitsrelevant ist ein solches Symptom aber nur, wenn es Leiden verursacht oder wenn die betroffene Person ihre Alltagstä-tigkeiten (Körperpflege, Ernährung etc.) nicht mehr ausüben kann.

Zur Kritik evolutionärer Krankheitsmodelle

Eine Abgrenzung ist mir beim Krankheitsbegriff wichtig: Wir brauchen meines Erachtens einen Krankheitsbegriff, der nicht evolutionär argumen-tiert. Evolutionäre Konstruktionen sind gerade wieder beliebt. Die Thesen von der Evolution des menschlichen Gehirns und Seelenlebens waren aber historisch mit der Degenerationsidee verbunden. Wenn Sie beispielsweise die Buddenbrooks lesen, finden solche »degenerativen« oder »dekadenten«

Prozesse über Generation hinweg statt – es beginnt mit kleinen Nachlässig-keiten und Ausschweifungen, bringt irgendwann immer größere Einschrän-kungen mit sich und am Schluss zerfällt die ganze Familie. Bezüglich der Symptome könne es in den verschiedenen Generationen einen Formwandel geben: Aus Nervosität und Ausschweifungen könnten Suchterkrankungen und schließlich schwere geistige Beeinträchtigungen werden. Dieses De-generationsmodell war das beherrschende Krankheitsmodell im 19. Jahr-hundert – wahrscheinlich getriggert durch die Syphilis. Im Rahmen einer moralischen Verfehlung stecken Sie sich an und infizieren, wenn Sie Pech haben, nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Kind. Wenn es im Uterus infiziert wird, kommt es mit sogenannten Degenerationszeichen wie einer

»Sattelnase« zur Welt. Es gibt also offenbar einen Gestaltwandel über die Generationen hinweg (siehe Abb. 4, S. 70). Bis Anfang des 20. Jahrhun-derts hat man aber den Erreger der Syphilis nicht erkannt und wusste nicht, wie diese unterschiedlichen Verhaltensweisen und Symptome miteinander zusammenhängen. Man dachte, dass hier ein eigenständiger

Degenerations-Abb. 4: Degeneration (Morel, 1857)

prozess stattfindet, der die Verfehlungen der Eltern mit den Missbildungen der Kinder verknüpft.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieses Modell der Degeneration leider auch noch mit der Idee einer phylogenetischen (stammesgeschicht-lichen) Regression verknüpft: Je stärker Sie degenerieren, d. h. je tiefer sie angeblich in der evolutionären Entwicklung zurückschreiten, desto primi-tiver soll die Manifestation des jeweiligen Abbauniveaus werden. Diesen Evolutions- und Degenrationstheorien wurde eine rassistische Hierarchie untergelegt. Das geht bis auf Anthropologen des 18. Jahrhunderts zurück.

So stammt der wenig sinnvolle Begriff der »Kaukasier« von Blumenbach – sie sind angeblich die am wenigsten »degenerierte« Menschen-»Rasse«, während andere Populationen stärker degeneriert seien (Abb. 5).

Am Ursprung solcher Spekulationen stand noch der Gedanke, dass die Arche Noah am Berg Ararat strandet und Jafet, der Sohn Noahs, nach Norden geht und der Stammvater der Europäer wird. Und im Norden liegt eben der Kaukasus. Nun hat Blumenbach zumindest betont, dass die von ihm konstruierten »Rassen« nicht unterschiedlich wertvoll, aber unterschied-lich schön seien – und die Schönsten seien eben die von ihm sogenannten Kaukasier (für eine detaillierte Darstellung siehe Heinz, 2014). Dass die Amerikaner den Begriff der »Kaukasier« jetzt als politisch korrekt verste-hen, leuchtet auf dem Hintergrund dieser Geschichte nicht ein und ist nur historisch erklärbar.

Morel, 1857 Degeneration

Nervosität, Ausschweifungen

Neurosen, Alkoholismus, Stroke

Geistige Störungen, Suizidneigung

Schwachsinn, Missbildungen Andreas Heinz

Der perfekt geschaffene Mensch

Kaukasier

Mongoloide

Äthiopier Degeneration

Blumenbach,1774

Abb. 5: Degeneration (Blumenbach, 1774)

Diese ganzen Spekulationen sind leider allzu oft auch in unseren biologischen Psychiatrietheorien noch enthalten – und zwar bei den Psychoanalytikern ebenso oft wie bei den modernsten Neurowissenschaftlern (Abb. 6 S. 72).

Fast immer suchen wir noch im frontalen Kortex als evolutionär jüngstem Hirnzentrum nach der Rationalität und der Hemmung der primitiven Triebe oder des wunsch-orientierten Primärprozesses. Und weiter »unten« im Ge-hirn, in den älteren Hirnzentren, verorten wir die vermeintlich primitiven Emotionen, wobei wir ganz vergessen, dass auch diese Hirnzentren sich in der Evolution verändert haben, und dass es hemmende Prozesse nicht nur von »oben nach unten« gibt, sondern dass das Gehirn ein komplexes Netz-werk mit vielfältigen Interaktionen ist.

Wenn ich das ignoriere und fälschlicherweise davon ausgehe, dass meine älteren Hirnzentren die Evolution unverändert überstanden haben und dass psychische Erkrankungen immer zuerst die jüngeren Hirnzentren und Funkti-onen abbauen (was nicht zutrifft), dann führt mich dieser angeblich einheitliche Krankheitsprozess, diese »Degeneration«, »Dissolution« oder »Regression«, individualgeschichtlich auf das Niveau von Kindern und stammesgeschichtlich auf das der vermeintlich »Primitiven« zurück. Und hier unterscheiden sich klas-sische Psychoanalytiker wie Freud oder Jung nicht substanziell von biologisch orientierten Psychiatern wie etwa Eugen Bleuler. Vermeintlich »Primitiv« sind immer die anderen – die Kinder, die Kranken und die »Primitiven«, zu denen man kurzerhand die Bewohner der eigenen Kolonien erklärte.

Traditionen

Wer war‘s?

Erster Kaiserlicher Kommissar der Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1885–1890

Traditionen

Die hier skizzierten Traditionen – das sei hier nur kurz angemerkt, weil die Rassismus-Diskussion auch auf dem DGPPN-Kongress ein Schwerpunkt ist – sind leider nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch wirksam ge-worden.

Ich weiß nicht, ob sie wissen, wer der erste kaiserliche Kommissar in Deutsch-Südwestafrika war (Abb. 7).

Abb. 6: Evolution

Evolutionär höhere Zentren: Rationalität

Evolutionär „primitive“

Zentren: Emotionen hemmt

Jackson, 1884 Freud, 1911 Weinberger, 1987

Heinz, Evolutionäre Modelle 2002 Evolution

informiert

Abb. 7: Traditionen

Andreas Heinz

Das war Heinrich Ernst Göring, seines Zeichens der Vater von Hermann Gö-ring, der uns heute viel geläufiger ist. Der Sohn hat sich dann auch spezifisch darum gekümmert, dass die wenigen schwarzen Deutschen, die Kinder von Besatzungssoldaten aus dem Rheinland, in der Nazi-Zeit zwangssterilisiert wurden (Abb. 8).

Traditionen

1933„Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses“, ca. 300.000 Opfer 1935„Reichsbürgergesetz“

1936„Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“

ab 1937 Sterilisierung der als „Rheinlandbastarde“

verunglimpften Kinder französischer

Besatzungssoldaten aus dem 1. WK, ca. 400 Opfer

Abb. 8: Traditionen

Es sind in der Zeit des Nationalsozialismus mehrere hundert Menschen wegen ihrer aus Afrika stammenden Elternteile zwangssterilisiert worden. Aber es ist kein Zufall, dass die auf vermeintlich primitiver Ebene rassistisch verorteten Kinder afrikanisch-stämmiger Soldaten genauso zwangssterilisiert wurden wie die vermeintlich auf eine primitive Ebene regredierenden Psychotiker: Hier trifft sich der Versuch der Vernichtung der Menschen, die angeblich krank-heitsbedingt einen Rückfall in der Evolution darstellen, mit der »Ausmerze«

der angeblich auf einer primitiven Stufe der Evolution arretierten »Primitiven«.

Hermann Göring hat hier wahrscheinlich von seinem Vater gelernt. Es gab eine strikte Rassentrennung in Deutsch-Südwestafrika und es gab zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Aufständen gegen die Kolonialtruppen auch einen ersten Genozid, die versuchte Vernichtung der aufständischen Herero und Nama. Das sind schwierige historische Diskussionen, aber sie haben Bezüge zu dem, was später zum Teil vermittelt durch solche Traditionsketten oder durch ehemalige Kolonialoffiziere dann auch in Weimar und in der Nazi-Zeit an kolonialen Herrschaftstechniken auch in Deutschland umgesetzt wurde. Bis ungefähr 1950 waren diese Traditionen im Bereich der Theoriebildung wie der praktischen Versorgung handlungsleitend, dann hat man unter dem Einfluss

der zeitgenössischen sozialen Anthropologie den ganzen Begriff der »Primi-tiven« verworfen (für eine detailliertere Beschreibung siehe Heinz, 2014). Auch im Bereich der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie wurden diese euro-zentristischen Sichtweisen weitgehend verlassen und kulturelle Diversität wird in ihrer ganzen Vielfalt gewürdigt.

Erkrankungen im sozialen Kontext

Ich möchte abschließend noch auf die Einschränkung der sozialen Teilhabe eingehen. Wie bereits angesprochen muss zu den generell relevanten Funk-tionsstörungen ein dadurch verursachtes, individuelles Leid hinzukommen oder eine so bedingte Einschränkung der Alltagsfunktionen als Vorausset-zung sozialer Teilhabe. Ich habe jetzt das Titelbild der APK-Tagungsbände vor Augen, das eine sehr schöne, sehr harmonische Stadt zeigt, in der die Inklusion der psychisch erkrankten Personen stattfinden soll. Ich will dies kontrastieren mit der nicht ganz so harmonischen Stadt Berlin, in der es erhebliche soziale Unterschiede und ausgeprägte Armut gibt (Abb. 9).

Abb. 9: Armut in Berlin

Andreas Heinz

Der blaue Kreis kennzeichnet in etwa unseren Versorgungsbezirk in Mitte.

Sie sehen, der ist ähnlich arm wie Teile von Hohenschönhausen, Marzahn und Neukölln. Wir wissen leider auch, dass Armut in der Nachbarschaft das psychische Wohlbefinden beeinträchtigt. Gut bekannt ist, dass individuelle Ar-mut die psychische Gesundheit einschränken kann. Das erklärt man meistens damit, dass man sagt: »Die Menschen sind durch ihre Armut benachteiligt, sie können sich Teile der medizinischen Versorgung nicht leisten oder sind nicht ausreichend informiert über das Hilfesystem, haben weniger Ansprache und Ressourcen und sorgen sich um ihre Existenz. Das interessante daran ist, dass auch relative Rangunterschiede unter gutverdienenden Personen mit Unterschieden in der psychischen und körperlichen Gesundheit verbunden sind: Michael Marmot hat herausgefunden, dass sogar die Hierarchiestufen im britischen Beamtensystem (civil service) dazu führen, dass die Menschen umso gesünder sind, je weiter oben sie stehen, und dass die in der Hierarchie weniger begünstigten Personen auch eine erhöhte Sterblichkeit haben, obwohl das alles relativ gut gestellte Beamte sind.

Armut & psychische