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3. Anforderungen an die Prävention

3.3 Tertiärprävention vernetzen

Eine erfolgreiche betriebliche Reintegration von Menschen nach längeren Erkrankungen verlangt eine frühzeitige Planung der Rückkehr, deren zeit-gerechte Umsetzung, den Aufbau von Vertrauen und die Etablierung von stabilen Prozessen. Hilfreich ist dabei die Vernetzung bzw. enge Kooperation der verschiedenen innerhalb des Versorgungssystems zuständigen Akteure, also der Ärzte, Therapeuten, der Betriebsärzte und weiteren Akteure des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BAuA 2018). Insbesondere bei psychischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen ist es sehr wichtig, die Beschäftigten im Betrieb wieder auf- und anzunehmen und sie zu unterstüt-zen. Das betriebliche soziale Umfeld, die Kolleginnen und Kollegen sind gut mit einzubeziehen, damit Menschen die Rückkehr in die Arbeitswelt gemeinsam miteinander bewältigen können.

Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) Stressreport 2019

4. Literatur

BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2018): Psychische Er-krankungen in der Arbeitswelt und betriebliche Wiedereingliederung. Kolloquium vom 13. bis 14. Juni 2017 in Berlin. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (im Druck): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2019. Unfallverhütungsbericht Ar-beit, 1. Auflage. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2020): Stressreport Deutschland 2019 – Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dort-mund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

Brauner, C., Wöhrmann, A. M. & Michel, A. (2018): BAuA-Arbeitszeitbefragung:

Arbeitszeitwünsche von Beschäftigten in Deutschland. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

Rose, U., Schiel, S., Schröder, H., Kleudgen, M., Tophoven, S., Rauch, A., Freude, G. & Müller, G. (2017): The Study on Mental Health at Work: Design and sampling, Scandinavian Journal of Public Health, 45, 584 – 594.

Rothe, I., Adolph, L., Beermann, B., Schütte, M., Windel, A., Grewer, A., Lenhardt, U., Michel, J., Thomson, B. & Formazin, M. (2017): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung. Berlin, Dresden, Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

Stock Gissendanner, S., Weiss, C., Herten, B., Wrage, W., Stegmann, R., Dietrich, D. E., Stark, H. & Krähnke, U. (2020): Eine psychosomatische Sprechstunde für die regionale betriebsnahe Versorgung, Arbeitsmedizin, Sozial-medizin, Umweltmedizin : ASU, Zeitschrift für medizinische Prävention, 55, 43-49.

Isabel Rothe

Psychisch krank – psychisch gesund Andreas Heinz

Psychische Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Erkrankungen Die Thematik Psychisch krank – psychisch gesund ist einerseits für die Frage der Allokation der Ressourcen – Wem soll eigentlich mittels der Kranken-kassen geholfen werden? – wichtig, und andererseits schaffen wir mit unseren Krankheitsbegriffen auch eine soziale Realität. Also nicht nur der Zugang zu den Ressourcen ist die Frage, sondern auch die Frage, wie man Krankheit definiert und wo die Stigmatisierung oder die Beeinträchtigung durch die Begriffe selbst erfolgen könnte.

Die Gesundheit ist, wenn Sie die WHO-Definition von 1948 anschauen,

»der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohl-ergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen«. Das beschreibt ein weites Feld, und so definiert ist Gesundheit eng verbunden mit der Vorstellung eines geglückten Lebens, also der Möglichkeit, die eige-nen Potenziale entfalten zu köneige-nen. Psychische Gesundheit ist somit nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit (Heinz, 2017).

Im Alltag reden wir aber oft so, also wären Krankheit und Gesundheit etwas Eindimensionales. Man fragt »Wie geht’s denn gerade?« und dann sagt man etwas irgendwo zwischen »sehr gut«, dann ist man gesund, und »ganz schlecht«, dann ist man es vielleicht nicht. Ich glaube nicht, dass das zu eindimensional ist, und dass Gesundheit und Krankheit auf verschiedenen Ebenen verstanden werden sollten. Dazu ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, ein KZ-Wächter wird bei seinem Tun depressiv, ein anderer nicht. Weil letzterer unter diesen unmenschlichen Bedingungen funktioniert, mag er zwar keine psychische Erkrankung haben, aber wir würden ihn doch nicht als »gesund« im Sinne der WHO und eines umfassenden Wohlbefindens bezeichnen. Dieses Beispiel ist zugegebenermaßen eins dieser erschlagenden:

Immer, wenn man von der Zeit des Nationalsozialismus spricht, dann ist die Diskussion schnell zu Ende. Aber es ist etwas, was mich bewegt hat, seit ich mich mit dem Gesundheitsbegriff auseinandergesetzt habe.

Das Kernargument hier ist: Es gibt doch Situationen, in denen Menschen vielleicht nicht psychisch krank sind, aber gerade in ihrem Funktionieren nicht dem Begriff der Gesundheit nahekommen würden. Denken Sie an jemanden, der etwas Grausames tut, ohne auch nur ansatzweise darunter zu leiden. Jetzt können Sie vielleicht dagegen argumentieren und sagen:

»Diese Person könnte eine antisoziale Persönlichkeitsstörung haben und ist deshalb eigentlich auch krank«. Aber ich glaube, es sind grausames Verhalten und andere Situationen menschlichen Handelns, die nicht durch Krankheit gekennzeichnet sind, und die trotzdem unseren Begriff der Gesundheit nicht erfüllen würden. Zu diesem Begriff psychischer Gesundheit könnte so et-was wie Handlungsfähigkeit bzw. Flexibilität gehören. Denn eine Frage ist, warum die Person in dieser Situation, selbst, wenn sie zu ihrer Handlung gezwungen wird, nicht irgendwas tun kann, um wenigstens nicht ganz so schuldig zu werden? Vielleicht fehlt ihr dazu das Selbstvertrauen oder die Empathie mit den Personen, die unter ihrer Handlung leiden.

Handlungsfähigkeit, Selbstvertrauen und Empathie – diese drei Kriterien sind hier genannt, weil das in vielen psychotherapeutischen Schulen, also Gesprächsführung, Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie in etwa die Therapieziele sind, die jeweils benannt werden. Da geht es also nicht nur um die Abwesenheit von Krankheit, sondern beispielsweise in der Verhal-tenstherapie um die Verhaltensflexibilität, und bei der Gesprächsführung und vielen psychodynamischen Verfahren sehr zentral um Empathie und Selbstvertrauen. »Self-efficacy« als Fachbegriff für Selbstwirksamkeitsüber-zeugungen und Selbstvertrauen ist auch ein Begriff aus der Verhaltensthera-pie. Man kann also Überlappungen in vielen Therapiezielen feststellen, und eine solche Charakterisierung der therapeutisch angestrebten Gesundheit ist dann jenseits der reinen Abwesenheit von Krankheit möglich (Heinz, 2017).

Psychische Krankheiten sind keine Normabweichung

Wie sieht es mit der Definition der Krankheit aus? Es gibt eine lange Dis-kussion, was Krankheit nicht ist. Ganz oft werden wir gefragt: »Woher wisst ihr denn, was normal ist und was nicht?« Und die Antwort ist: Eigentlich ist es völlig irrelevant, ob etwas normal ist oder nicht. Es gibt ein berühmtes Beispiel von Jaspers (1946) gegen den Versuch, eine Abweichung von der Normalität im Sinne der statistischen Norm als Krankheitskriterium zu benennen. Jaspers hat schon 1946 in seinem Lehrbuch darauf hingewiesen, dass Karies in seiner Zeit normal sei, da die meisten Menschen darunter leiden, aber trotzdem als Erkrankung gelte. Das heißt, dass wir dem Krank-heitsbegriff auch in der Organmedizin eine Idealvorstellung zugrunde legen und uns nicht einfach nach der Statistik richten. Es ist egal, ob die Mehrheit der Menschen schlechte Zähne hat oder nicht, unsere Idealvorstellung eines Zahnes (ein sogenannter »Idealtyp«, wenn Sie so wollen), ist eben, dass da

Andreas Heinz

keine Löcher drin sind und dass er nicht wehtut. Und das ist unabhängig von der Statistik.

Nicht ganz so einfach lässt sich das Argument ausräumen, dass es Krank-heiten nur »im Organischen« gäbe und wir immer eine organische Normab-weichung feststellen müssten, wenn wir eine Erkrankung diagnostizieren.

Man könnte dementsprechend behaupten: Immer dann, wenn ich einen Organschaden sehe, ist es eine Erkrankung, und wenn ich keinen sehe, ist es keine. Als Arzt komme ich aber aus der Neurologie, und selbst dort trifft diese Aussage nicht zu. So hatten wir viele Patienten und Patientinnen, wie z. B.

Personen mit Torticollis, die den Kopf in eine bestimmte Richtung bewegen (kontinuierlich oder kurzzeitig), und es gab trotzdem keinen »Organscha-den«, also keinen Befund im Gehirn oder an den betroffenen Muskeln, den wir klinisch nutzen konnten, um die Diagnose zu sichern. Soweit ich weiß finden Sie bis heute kein hirnorganisches Korrelat dieser Bewegungsstörung.

Ich kannte auch noch Patienten mit Torticollis, die ein Jahr lang psycho-analysiert worden sind, mit der Frage, warum sie »den Tatsachen nicht ins Auge sehen konnten«, damit ging die Kopfwendung aber auch nicht weg.

Irgendwann kam dann das Botulinumtoxin als Therapie auf, und mit einer einfachen Injektion konnte der Muskel gelähmt werden, der den Kopf in eine bestimmte Richtung dreht. Damit war klar: Jetzt ist es eine Erkrankung der Neurologie, da wird keine Psychotherapie angewendet.

Solche Zuordnungen zu medizinischen Fächern sind aber letztendlich nicht entscheidend. Die medizinischen Fächer und Bereiche überlappen sich. Es gibt Erkrankungen wie z. B. die Migräne, die meist keine nachweis-baren organischen Korrelate oder Auffälligkeiten hat, und die wir trotzdem als Krankheit sehen. Allerdings stellt sich immer die Frage, wie lange man sucht und wie tief man geht. Denn irgendwann findet man immer irgendein Korrelat des Denkens oder Handelns im Gehirn. Aber die entscheidende Frage ist: Kann ich daran meine Diagnose festmachen? Das kann ich in vielen Fällen eben nicht, denn die Korrelate sind ganz individuell und wir Menschen sind nun mal sehr verschieden, auch bezüglich der organischen Korrelate unseres Denkens und Handelns. Ein hier passendes Beispiel ist das Delir: Wir diagnostizieren im Delir psychopathologisch und richten uns bei der Diagnose nicht danach, ob ich auch eine EEG-Veränderung finde. Es bestätigt meine Diagnose, wenn ich eine solche EEG-Veränderung finde – aber das muss eben nicht so sein.

Dass ein Verhalten »sozial unangepasst« wirkt, geht als Krankheitskri-terium gar nicht, das müssen wir hier sicher nicht näher ausführen. Diese

Geschichte der Pathologisierung unangepasster oder widerständiger Verhal-tensweisen hat auch unser Fach hinter sich und das war sicherlich immer falsch.

Lebensweltlicher Aspekt: Leiden & Beeinträchtigung der sozialen Teilhabe Damit stellt sich die Frage, ob man bei der Definition einer Erkrankung nicht vom Leidensaspekt ausgehen sollte. Es gibt Philosophen, die sich damit befasst haben und versucht haben, das Leiden in unterschiedliche Aspekte zu differenzieren (zur Übersicht siehe Heinz, 2014). Das große Problem ist nicht so sehr nur ein philosophisches – Was ist Leid und was gehört zum Leben? – sondern auch ein ganz praktisches. Wir haben Erkrankungen, bei denen die Menschen nicht leiden, die uns aber plausibel als Erkrankungen vorkommen. Wenn man mal die Manie als möglichen Streitfall ausklammert, dann denken Sie bitte an eine Demenzerkrankung. Die Person leidet nicht, aber sie kann sich im schwersten Fall nicht mehr waschen und anziehen und vergisst alles und ist aber dabei vielleicht ganz glücklich. Wenn wir sagen, Leiden muss sein (als Eingangskriterium), wäre ein Demenzkranker bzw.

eine -kranke, der oder die die Einschränkung gar nicht bemerkt und subjektiv zufrieden ist, keine erkrankte Person.

Eingangskriterium: lebensrelevante Funktionsstörungen

Als nächstes können wir uns fragen, ob man nicht sagen kann: »Überall in der Medizin ist immer dann eine Erkrankung gegeben, wenn die Funkti-onsstörung lebensrelevant ist«? Das dazu passende Beispiel, was Sie von mir vielleicht auch schon einmal gehört haben, ist die Frage des Zungenrollens.

Das Zungenrollen ist nicht lebensrelevant, ob man das kann oder nicht ist aber, soweit ich gehört habe, genetisch bedingt und hat klare organische Korrelate. Das Zungenrollen kann man kaum trainieren, die Unfähigkeit, die Zunge zu rollen ist also eine biologisch-genetisch verankerte Funkti-onsunfähigkeit, die aber für das menschliche Leben völlig irrelevant ist.

Niemand käme auf die Idee, eine »Zungenroll-Nicht-Können-Krankheit« zu konstruieren. Wenn Sie nicht schlucken können, ist das was ganz anderes.

Schlucken braucht man fürs Überleben, alle möglichen Schluckstörungen sind als Krankheit klassifiziert.

Der Philosoph, der das als Argument betont hat, Christopher Boorse

(2012), hat leider auch spekuliert, dass lebensrelevante Funktionsfähigkeiten

Andreas Heinz

nicht nur das individuelle Überleben sichern, sondern auch die Fortpflan-zung. Für Boorse wären aber nicht nur sexuelle Funktionsstörungen etwa im Sinne einer Erektionsstörung eine Erkrankung, sondern auch die Homose-xualität, da ich ja auch dann meist weniger Nachwuchs habe. Diese Sicht ist ebenso ärgerlich wie falsch. Denn wenn Ärztinnen und Ärzte anfangen, sich nicht nur um das Individuum zu kümmern, sondern um die Arterhaltung auf gesellschaftlicher Ebene und anfangen Vorschriften zu machen, wie viele Kinder man kriegen sollte, um gesund zu sein, dann ist man in einem Bereich jenseits der medizinischen Kompetenz, und das geht fast immer schief. Wir schreiben ja als Ärzte und Ärztinnen auch nicht Heterosexuellen eine Er-krankung zu, wenn sie keine Kinder bekommen wollen. Aber ein Begriff der individuell lebensrelevanten »Funktionsstörungen«, deren Beeinträchtigung Krankheit charakterisiert, ist vielleicht ganz sinnvoll. Und man kann prüfen, ob ein solcher Ansatz in einem vernünftigen klinischen Alltag vielleicht schon implizit angewendet wird.

Vereinfachter psychopathologischer Befund und