• Keine Ergebnisse gefunden

6. Diskussion

6.4. Verantwortungsübernahme und angeleitete Reflexion fördern die moralische Urteilsfähigkeit

Auf die Bedeutung von Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion für die Moralentwicklung wurde schon von Sprinthall (1993) hingewiesen. Positive Effekte von Verantwortungsübernahme verknüpft mit angeleiteter Reflexion auf die Förderung moralischer Urteilsfähigkeit wurde in den Studien von Herberich (1996), Lind (2000) Schillinger (2006) und Comunian (2006) berichtet. Konträre Ergebnisse scheint die Studie von Mayhew und King (2008) zu liefern. Das Ziel dieser Studie war die Wirkung von Übernahme realer Verantwortung auf das moralische Urteil in verschiedenen Studierendengruppen zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigen, dass bei der Gruppe, die am wenigsten Gelegenheit zur Übernahme realer Verantwortung hatte, der geringste Gewinn bei der postkonventionellen Orientierung zu verzeichnen war. Da in dieser Untersuchung der DIT von Rest eingesetzt wurde, wurde eigentlich die Orientierung an postkonventionellen Moralstufen erfasst. Die moralischen Einstellungen werden durch Bildungsfaktoren nicht beeinflusst, so wie die Bildungstheorie annimmt.

In der vorliegenden Studie wurde auch ein positiver Zusammenhang von Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteter Reflexion mit der Höhe der moralischen Urteilsfähigkeit bestätigt. Studierende, die während des Studiums viele Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion gehabt und wahrgenommen haben, zeigen eine moderate Zunahme in der moralischen Urteilsfähigkeit in Höhe von 5.9 Punkten. Wenn die Studierenden wenige oder keine Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion hatten, bildet sich die moralische Urteilsfähigkeit leicht zurück (absolute Effektstärke = 2.9). Also der Gewinn in der moralischen Urteilsfähigkeit bei Studierenden, die oft Verantwortung übernommen haben, gegenüber von der moralischen Urteilsfähigkeit von Studierenden, die keine Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme gehabt haben, beträgt am Ende des Studiums ungefähr 8 Punkte.

Die Annahme, dass die Studienlänge einen positiven Einfluss auf die moralische Urteilsfähigkeit hat, konnte nicht deutlich bestätigt werden. Die moralische Urteilsfähigkeit steigt während der vier Studienjahren nur um 1.2 Punkte (r = 0.03). Ähnlich wie in der Studie von Schillinger (2006) wurde gefunden, dass die Bildungslänge allein keine Wirkung auf die moralische Urteilsfähigkeit hat.

Die Qualität der Lernumwelt scheint für die Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit wichtiger zu sein als die Studienlänge. Eine längere Studiendauer bedeutet nicht unbedingt auch qualitative Bildungsprozesse. In vielen Studien (die meisten davon wurden in den USA und westeuropäischen Ländern durchgeführt), die einen positiven Zusammenhang zwischen Studienjahr und der Höhe der moralischen Urteilsfähigkeit (Rest, 1985; Pascarella und Terenzini, 2005; Lind, 2002) belegten, fielen möglicherweise die Quantität und die Qualität der Bildung zusammen. Die Qualität der Bildung kann von Land zu Land und sogar von Universität zu Universität unterschiedlich sein. In der vorliegenden Studie wurde eine geringe Anzahl an diesen Gelegenheiten berichtet. Der Mittelwert für die Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme liegt in dieser Studie bei 0.80, also weit unter dem theoretischen Mittelwert. Für die Gelegenheiten zur angeleiteten Reflexion wurde ein höherer Wert erhalten (1.14), aber auch dieser liegt unter dem theoretischen Mittelwert.

Ungefähr ein drittel der hier untersuchten Studierenden haben eine stimulierende Lernumwelt berichtet. Ein drittel haben nur wenige Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion gehabt, während dem anderen Teil der Studierenden fehlten diese Gelegenheiten. So wird es deutlich, warum in dieser Studie keine Wirkung der Studiendauer auf die moralische Urteilsfähigkeit gefunden wurde.

Das in dieser Studie verwendete Instrument zur Erfassung der Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion deckt möglicherweise nicht alle Aktivitäten, in denen man reale Verantwortung übernehmen kann. Es ist möglich, dass auch andere Merkmale der Lernumwelt, wie die Unterrichtsmethode, Lernstile, die mit diesem Instrument nicht erfasst wurden, eine wichtige Rolle für die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit spielen. Am rumänischen Hochschulsystem wurde oft kritisiert, dass es noch auf veralteten, passiven Methoden beruht. Mandel & Huber (1978) weisen darauf hin, dass die Förderung kognitiver Strukturen in der Schule durch eine prozess- und nicht durch eine produktorientierte Leistungsforderung möglich ist.

Außerdem ist es nicht nur wichtig, dass die Studierenden in möglichst diversen wissenschaftlichen, praktischen Tätigkeiten zur Verantwortungsübernahme involviert sind, sondern auch dass für diese Tätigkeiten relevante Bezugspersonen zur Verfügung standen.

116 Diskussionen, Unterstützung oder Feedback von qualifizierten Personen, wie Professoren oder Dozenten und erfahrenen Studierenden haben sich als sehr fördernd für die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit erwiesen. Studierende, die an vielen Aktivitäten teilgenommen haben, aber überwiegend auf sich gestellt waren, haben eine niedrige moralische Urteilsfähigkeit erhalten, ähnlich wie diejenigen, die wenige Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme hatten. Ähnliche Ergebnisse wurden von Lind (2000) und Sprinthall (1993, 1994) berichtet: die Verantwortungsübernahme allein, ohne Gelegenheiten zur angeleiteten Reflexion, führt zu keinem Zuwachs der moralischen Urteilsfähigkeit.

Einige Untersuchungen (Rest, 1979; Pascarella und Terenzini, 1997; Forsthofer, 2002;

Schillinger, 2006) deuten darauf hin, dass es in Abhängigkeit von Studienfach und Universitätstyp Unterschiede in der Moralentwicklung geben können. In der vorliegenden Studie wurden aber keine bedeutenden Effekte von Studienfach oder von Universitätstyp auf die moralische Urteilfähigkeit gefunden. In den zwei Universitäten entwickelt sich jedoch die moralische Urteilsfähigkeit ganz unterschiedlich. Studierende der staatlichen Universität haben in den ersten zwei Jahren eine etwas höhere moralische Urteilsfähigkeit als Studierende der privaten Universität, zeigen aber während des Studiums einen Rückgang in der moralischen Urteilsfähigkeit. In der privaten Universität ist ein entgegengesetzter Verlauf zu beobachten: das Niveau der moralischen Urteilsfähigkeit ist niedriger am Anfang des Studiums, aber es steigert sich in dessen Verlauf. Das deutet darauf hin, dass aufgrund von permissiveren Auswahlverfahren an den privaten Universitäten Studierende aufgenommen werden, deren moralische Urteilsfähigkeit niedriger ist. Die private Universität bietet aber Lernbedingungen, die in einem größeren Ausmaß zur Förderung moralischer Urteilsfähigkeit beitragen als die von der staatlichen Universität. Nicht zuletzt spielen hier die Noten eine bedeutende Rolle. In den staatlichen Universitäten wird in Abhängigkeit von diesen Noten die Besetzung der begrenzten Zahl der subventionierten Studienplätze jedes Jahr neu entschieden.

Dementsprechend fokussieren die Studierenden überwiegend auf den Erwerb fachlicher Kenntnisse, die benotet werden, während andere für die Entwicklung moralisch-demokratischer Kompetenzen wichtige Tätigkeiten vernachlässigt werden.

Ähnlich wie in der Studie von Schillinger (2006) wurde festgestellt, dass der Mangel an Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion zu einer Regression der moralischen Urteilsfähigkeit führt. Der Befund, dass trotz zunehmenden Studienjahres und Alters, eine Abnahme der moralischen Urteilsfähigkeit stattfinden kann, widerlegt die These, dass sich das moralische Urteil ohnehin nach oben entwickelt, wobei Bildungsfaktoren nur das Tempo verlangsamen oder beschleunigen können. Die Entwicklung

moralischer Urteilsfähigkeit der Studierenden erfolgt nicht von alleine, sondern sie bedarf einer Lernumwelt, die bestimmte Standards erfüllt: aktive Teilnahme an vielen Aktivitäten, die Übernahme realer Verantwortung verlangen, unter der Anleitung durch relevante Bezugspersonen.

6.5. Im Gegensatz zu der persönlichen Religiosität hat die dogmatische Religiosität