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2. Moralische Urteilsfähigkeit: Entwicklung durch Bildungsprozesse oder Ergebnis von

2.11. Dogmatische und persönliche Religiosität

Am Anfang der Religionsforschung wurde die Religiosität eindimensional betrachtet, indem Kirchlichkeit oder Kirchenbesuch und -Mitgliedschaft erfasst und gemessen wurden, was zu überraschenden Befunden führte. Die Studie von Adorno und seinen Mitarbeitern (1950) über die autoritäre Persönlichkeit zeigte einen insgesamt positiven Zusammenhang zwischen Kirchenmitgliedschaft und Voreingenommenheit gegenüber nationalen Minderheiten, obwohl ein Widerspruch zwischen dem Vorurteil und der christlichen Lehre von der allumfassenden Liebe besteht.

Die Frage, ob Religiosität autonomes moralisches Denken verhindert oder durch die Aneignung religiöser Werte die Moralität stärkt, kann nicht befriedigend beantwortet werden, wenn die Religiosität undifferenziert, global betrachtet wird. Religiosität ist ein komplexes Phänomen, das von zahlreichen Faktoren, wie kulturellen und sozioökonomischen, bis zu inter- und intraindividuellen Faktoren und nicht zuletzt von kritischen Lebensereignissen unterschiedlich beeinflusst wird. Dementsprechend muss die Religiosität als ein vielfältiges, mehrdimensionales Phänomen betrachtet werden, das unter verschiedenen Aspekten analysiert werden kann.

Luckmann (1991) thematisiert das Ablösen der Religiosität von den kirchlichen Institutionen und differenziert zwischen einer kirchlich orientierten Religiosität und einer individuellen Religiosität. Unter „kirchlich verfasster Religiosität“, die auch mit

„Kirchlichkeit“, „offiziellem Modell der Religion“ und „institutionell spezialisierter Religion“

gleichgesetzt wird, ist die bloße Übernahme von Glaubensüberzeugungen und religiösen Praktiken zu verstehen. Mit der „individuellen Religiosität“ ist der Grad der Internalisierung religiöser Weltanschauung gemeint. Die individuelle Religiosität ist ein subjektives System

„letzter Bedeutungen“, das sich durch Sozialisation und durch Verinnerlichung vorkonstruierter Weltansichten, die von darauf spezialisierten religiösen Institutionen verbreitet werden, aufbaut.

G. Allport (1966) beschäftigt sich mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Religiosität und Voreingenommenheit und fokussiert den motivationalen Aspekt der Religiosität. Er unterscheidet zwischen einer intrinsischen und einer extrinsischen religiösen Orientierung. Die erste zeichnet sich dadurch aus, dass ein Individuum danach strebt, religiöse Glaubensüberzeugungen zu verinnerlichen und sie in seinen Handlungen zu verwirklichen.

Demgegenüber sind die religiösen Glaubensüberzeugungen im Fall extrinsischer Orientierung nur schwach in Persönlichkeit verankert. Im Fall einer extrinsischen Motivation wird die

38 Religion zum Mittel für Erfüllung anderer Interessen und Bedürfnisse, wie Trost und emotionale Sicherheit, soziale Anerkennung oder Selbstrechtfertigung. In einer empirischen Studie zeigen Allport und Ross (1967), dass die extrinsische Religiosität stärker mit Voreingenommenheit korreliert als die intrinsische Religiosität. Batson et al. (1986) führten eine ähnliche Studie durch, erhielten jedoch andere Ergebnisse. Einerseits wurde gefunden, dass zwischen der extrinsischen Religiosität und Voreingenommenheit keine bedeutende Korrelation besteht. Anderseits, korreliert die intrinsische Religiosität negativ mit der Voreingenommenheit, allerdings nur wenn diese durch Verhaltensbeobachtung experimentell erfasst wurde. Wenn die Voreingenommenheit mittels eines Fragebogens erfasst wurde, stand sie in keinem Zusammenhang mit der intrinsischen Religiosität.

Diese Inkonsistenz kann durch die Annahme erklärt werden, dass eher die kognitive Dimension der Religiosität als die motivational-affektive mit dem moralischen Urteil zusammenhängt. Hinweise auf die Bedeutung des kognitiven Aspektes für das moralische Verhalten sind bei Allport selbst zu finden. Er nimmt an, dass der kognitive Stil einen Einfluss auf Voreingenommenheit haben kann: „a certain cognitive style permeates the thinking of many people in such a way that they are indiscriminately proreligious and, at the same time, highly prejudiced” (Allport & Ross, 1967, S. 432). Er weist darauf hin, dass der kognitive Stil besser die Korrelation zwischen Religiosität und Voreingenommenheit erklärt als der motivationale Aspekt. Religiöse Personen, die ein undifferenziertes Denken haben, zeigen stärkere Voreingenommenheit als Personen mit einer extrinsisch verankerten Religiosität.

In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass bestimmte Formen der Religion, in denen die religiösen Autoritäten die Beziehung des Menschen zum Transzendenten vermitteln, die Rigidität der kognitiven Strukturen begünstigen. Die unkritische Bindung an religiöse Doktrinen, die aus einer starken Bindung an kirchliche Autoritäten entsteht, wird hier als dogmatische Religiosität bezeichnet. Der Begriff „Dogmatismus“ bezeichnet im Allgemeinen eine Einstellung, die durch Geschlossenheit und Inflexibilität gekennzeichnet ist.

Mit der Geschlossenheit des Systems geht die Unfähigkeit eines Individuums einher, in einer Situation die Vielzahl unterschiedlicher Merkmale differenzierend zu erkennen und kritisch zu beurteilen. Informationen mit religiösem Charakter werden unkritisch angenommen, sie werden auf ihre Gültigkeit und Plausibilität nicht mehr geprüft. Die möglichen Widersprüche innerhalb des religiösen Materials oder Widersprüche zwischen den religiösen Informationen und Kenntnissen aus anderen Bereichen sind nicht auffallend. Die Person eignet sich die Ideologie, an die sie am stärksten emotional gebunden ist. Der Aspekt der Unterwerfung unter

religiöse Autoritäten wird von Fromm (1950) beschrieben. Er zeigt, dass die autoritäre Religion aus der Annahme der religiösen Lehrsätze aufgrund der Achtung vor demjenigen, der sie vorgibt, entsteht. Nach Fromm sind in der Definition der Religion aus dem „Oxford Dictionary“ die wichtigsten Merkmale autoritärer Religion enthalten: „die Religion ist die Anerkennung einer höheren, unsichtbaren Macht von Seiten des Menschen; einer Macht, die über sein Schicksal bestimmt und Anspruch auf Gehorsam, Verehrung und Anbetung hat“.

Folgende Merkmale sind demnach für die autoritäre Religion charakteristisch: Anerkennung einer höheren Macht und totale Unterwerfung unter diese Macht. Die Haupttugend ist der Gehorsam: Der Mensch ist bedeutungslos bzw. wertvoll, im Ausmaß in dem er dieser Macht gehorcht und sein Leben religiösen Idealen, wie z.B. dem „Leben nach dem Tod“ aufopfert.

Um die Verallgemeinerung zu vermeiden, dass die Religiosität an sich einen hindernden Einfluss auf die Entwicklung moralischer Strukturen hat, wird der dogmatischen Religiosität das persönliche Erleben der Transzendenz entgegengesetzt.

Im Gegensatz zu der dogmatischen Religiosität, zeichnet sich die persönliche Religiosität dadurch aus, dass die religiösen Lehrsätze kritisch analysiert werden, die Informationen auf ihrer Gültigkeit und Plausibilität geprüft und die vorhandene Erfahrung in der religiösen Anschauung integriert wird. Es wird angenommen, dass eine hoch entwickelte persönliche Religiosität einen starken intrinsischen motivationalen Aspekt hat. Allport (1950) unterscheidet zwischen einer unreifen und einer reifen Religiosität und hält die intrinsisch motivierte Religiosität für einen wichtigen Aspekt der reifen Religiosität. Die reife Religiosität ist eine durch Erfahrung gebildete positive Stellungnahme in Bezug auf Gegenstände und Prinzipien, die eine ultimative und letztgültige Bedeutung haben. Die unreife Form der Religiosität ist ein Mittel für die Erfüllung untergeordneterer Bedürfnisse und selbstzentrierter Interesse. Das Alter stellt keinen Maßstab für die religiöse Reife dar.

Mehr noch: Allport behauptet, dass in keinem anderen Bereich des menschlichen Verhaltens so viele kindliche Aspekte wie in dem religiösen Bereich gegeben sind. Die reife Religiosität ist in das Persönlichkeitssystem gut integriert und ist für alle Erfahrungen und Informationen offen. Im Vergleich zu der unreifen Religiosität ist die reife Religiosität ein vereinheitlichender Faktor der Personalität. Die reife Religiosität grenzt sich von der unreifen Form durch die folgenden sechs Merkmale ab: a) sie ist differenziert und komplex, b) sie hat einen dynamischen Charakter, c) sie mündet in einer moralischen Haltung, d) sie ist allumfassend, e) sie ist integral und f) sie ist grundsätzlich heuristisch.

Eine hoch entwickelte persönliche Religiosität schließt eine kosmisch-humanistische Perspektive ein. Nach Fromm ist die humanistische Religion die „Erfahrung des Einsseins mit

40 dem All, gegründet auf der Bezogenheit zur Welt“ (Fromm,1950, S. 249). Sie entsteht aus eigener Erfahrung und Überzeugung und hat den Menschen mit seiner Stärke und seinen Grenzen im Mittelpunkt. Die religiösen Prinzipien sind keine starren Regeln, sondern geben Orientierung, um sich in der Verantwortung gegenüber dem Nächsten zu verwirklichen.

Die persönliche und die dogmatische Religiosität schließen sich nicht aus, sind nicht Gegenpole einer Dimension. Das Verhältnis zwischen den zwei Formen könnte eher als Wandlung in einem Entwicklungsprozess angesehen werden. Kahoe and Meadow (1981) schlagen ein Modell der Entwicklung der Religiosität vor, in dem vier Phasen unterschieden werden können: extrinsische, institutionelle, intrinsische und autonome Religiosität. Zuerst suchen die Menschen die Religion aus extrinsischen Gründen, wie Bewältigung von Ängsten, das Begreifen des Unbekannten. Unter dem Einfluss religiöser Institutionen entwickelt sich dann die institutionelle Religiosität. Diese Phase ist durch die Neigung gekennzeichnet, sich in rigider Weise der Doktrin entsprechender Institutionen zu fügen. Die Ausübung der institutionellen Religiosität kann zur Internalisierung des religiösen Glaubens führen, vorausgesetzt, dass die kognitiven Strukturen einen bestimmten Entwicklungsgrad erreicht haben. Nachdem die religiösen Inhalte verinnerlicht wurden, wird der religiöse Glaube von religiösen Institutionen und deren Doktrin unabhängig. Somit wird die letzte Phase, die der autonomen Religiosität, erreicht. Die persönliche Religiosität kann in der Regel im späten Erwachsenenalter ihre Vollkommenheit erreichen. Dafür ist nicht nur ein bestimmtes Niveau der kognitiven Entwicklung notwendig, sondern auch eine komplexe und vielfältige Lebenserfahrung, um eine religiöse Ideologie als eine Weltanschauung zu verinnerlichen.

Religion ist nicht das einzige Ideologiesystem, das die kognitive und moralische Entwicklung beeinflussen kann, aber der Religion kommt durch ihre Natur eine besondere Bedeutung zu. Nach Luckmann (1991) zeichnen sich die religiösen Repräsentationen vor anderen Überzeugungen und Deutungsschemata durch ihre außerordentliche Bedeutsamkeit aus. Wenn sie als Sinnsysteme verinnerlicht werden, werden sie so zu „einer tragenden Säule“

der ganzen Person. Mehr noch: Luckmann (1991) vertritt die Ansicht, dass die Religion ein anthropologisches Merkmal menschlicher Existenz ist. Jedes Individuum erfährt die Endlichkeit und die Beschränktheit seiner Existenz. Daher beschäftigt es sich mit dem Problem des Todes, Leidens und der Frage nach Gerechtigkeit, um dem Leben einen Sinn zu geben. So folgert Luckmann, dass „jedes menschliche Wesen um die Transzendenz der Welt weiß und dass dieses Wissen essentieller Bestandteil seines gesunden Menschenverstandes ist“ (Luckmann, 2002, S. 141).

Ob Religiosität ein anthropologisches Merkmal ist, lässt sich mit Sicherheit

diskutieren. Die Tatsache aber, dass Religion in verschiedenen Formen bei fast allen Völkern zu finden ist und auch in unseren Zeiten im Leben vieler Menschen eine wichtige Rolle spielt und schließlich eine doppelte, sogar widersprüchliche Funktion für die Moralität zu haben scheint, macht sie zu einem aufschlussreichen Forschungsobjekt für die Moralpsychologie.