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2. Moralische Urteilsfähigkeit: Entwicklung durch Bildungsprozesse oder Ergebnis von

2.9. Religiosität: Nachteil oder Förderung für Moralität?

Die Beziehung zwischen Moralität und Religiosität wird sehr kontrovers diskutiert. Die Standpunkte reichen von der Betrachtung der Religiosität als eine Voraussetzung für moralisches Verhalten bis zur Einschätzung der Religiosität als Hindernis für die Entwicklung autonomer Moral. Die oft anzutreffende Verwechslung der Begriffe „Religion“ und

„Religiosität“, die nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in der Fachliteratur zu finden ist, erschwert die Erklärung des Verhältnisses zwischen Religion bzw. Religiosität und Moralität. UnterReligion ist ein komplexes, geschichtlich und kulturell geprägtes System von Glaubensüberzeugungen und -praktiken zu verstehen, die der Beziehung zur Transzendenz zugrunde liegen. Religiosität wird verstanden als von Individuum bewusst erlebte Religion oder als persönliche Ausprägung der Religion. Die Definitionen von Religion bzw.

Religiosität werden wiederum in zwei große Richtungen unterteilt: substantielle und funktionale Begriffsbestimmungen. Substantielle Definitionen versuchen durch Begriffe wie

„Gott“, „Überweltliches“, „Übernatürliches“ „höhere Macht“ „das Heilige“ oder „das Numinose“ den Kern des Religiösen abzugrenzen. Eine solche Definition findet man bei Vergote (1992): Religion ist „eine Gesamtheit bestehend aus Sprache, Gefühlen, Verhaltensweisen und Zeichen, die sich auf ein übernatürliches Wesen - oder mehrere – bezieht. „Übernatürlich“ steht hier für all das, was weder natürlichen Kräften noch menschlichem Handeln zugeschrieben wird sondern diese transzendiert“ (Vergote, in

„Religionspsychologie, 1992, S. 3). Ähnlich definiert Luckmann Religion als Bezugnahme auf den Teil der menschlichen Existenz „der mit dem Übernatürlichen, mit den letzten Bedeutungen des Lebens, mit der Transzendenz zu tun hat“ (Luckmann, 2002, S.140).

Gromm (1992) versteht unter „religiös“ das, was eine Beziehung zu Übermenschlichem und Überweltlichem beinhaltet. Das Problem der substantiellen Definitionen, dass sie empirisch kaum zugänglich und schwer operationalisierbar sind, wird von den funktionalen Definitionen beseitigt. Sie ermöglichen die Erfassung des Religiösen in verschiedenen Dimensionen. Dabei kann die Leistung der Religion begrifflich bestimmt und gemessen werden. Entsprechend lautet die Definition bei Fromm: Religion ist „jedes System des Denkens und Tuns, das von einer Gruppe geteilt wird und dem Individuum einen Orientierungsmaßstab und einen Gegenstand der Hingebung bietet“ (Fromm, GA, Band VI, S. 241). Berger definiert Religion als „Bildung einer heiligen Vorstellung vom Kosmos, durch die der Mensch das Chaos überwindet“ (Berger, 1967, S.25, zitiert nach Vergote, 1992). Im Allgemeinen lassen sich die

30 Funktionen der Religion zwei Kategorien zuordnen: der psychologischen Funktion:

Umsetzung des Unbekannten in Begreifbares, Bewältigung emotionaler Zustände und besonderer Krisensituationen, und der sozialen Funktion: Norm- und Wertebegründung, Kompensation für Leid oder Mangel sowie als Rechtfertigung für den Herrschaftsanspruch weltlicher und geistlicher Eliten.

Religionen bestehen aus einem auf einer transzendentalen Macht beruhenden Werten- und Normensystem, das das Verhalten des Menschen anderen Menschen und Gott gegenüber orientiert. Für Theologen im Allgemeinen stellt Religion eine Voraussetzung für die Entwicklung moralischen Verhaltens dar: Religiöse Werte sind im Kern auch moralisch und je stärker die Bindung an diese Werten – also die Religiosität – ist, desto moralischer ist die Person. Die Anhänger des Religionsunterrichts in den Schulen teilen einen ähnlichen Standpunkt: durch die Vermittlung und Aneignung religiöser Werte, Erweiterung des religiösen Wissens und Stärkung des Glaubens wird das Nachdenken über Gott und Welt angeregt, die Persönlichkeitsbildung gefördert und das auf Prinzipien der Toleranz, Nächstenliebe beruhende Zusammenleben ermöglicht (vgl. Dressler B., 2002, Grethlein, C.

2002).

Es gibt aber viele Stimmen, die sich sehr heftig gegen Religion aussprechen. Freud (1928) ist der Ansicht, dass Religion die Menschen „in einer Illusion zu glauben zwingt" und das kritische und freie Denken verbietet:„Wie kann man von Personen, die unter der Herrschaft von Denkverboten stehen, erwarten, dass sie das psychologische Ideal, den Primat der Intelligenz, erreichen werden?“ (Freud, 1928, S. 78). Freuds Behauptung, dass die Religion durch ihr „Denkverbot“ „fast allen hervorragenden Individuen vergangener Zeiten“ (GW 15, S. 185) geschadet hat, kann durch Beispiele an religiösen und geistig sehr entwickelten Menschen wie Mahatma Gandhi, Martin Luther, Spinoza etc. widerlegt werden. Obwohl Freuds These offensichtlich übertrieben ist, steckt ein Kern Wahrheit darin, wenn man die Ergebnisse empirischer Studien bedenkt, die zeigen, dass Voreingenommenheit (Allport, 1976), Autoritarismus (Adorno, 1950), Ethnozentrismus (Gorsuch & Aleshire, 1974) und Dogmatismus (Wahrman, 1981) als häufigste Korrelate der Religiosität gefunden wurden.

Andererseits fanden Gorsuch und Aleshire (1974) und Allport und Allport (1967), dass nicht alle Kirchenmitglieder Vorurteile zeigten. Das Verhältnis von christlicher Religiosität und Voreingenommenheit ist offenbar ein zweifaches, so wie Allport zeigte: „There is something about religion that makes for prejudice and something about it that unmakes prejudice“

(Allport, 1966, S. 447).

Aus entwicklungspsychologischer Sicht wird versucht die Frage zu beantworten, inwieweit die religiöse und die moralische Entwicklung sich überschneiden oder aufeinander stützen. Kohlberg (1981) charakterisiert das Verhältnis zwischen Religiosität und Moralität als asymmetrisch: Religion stellt keine wichtige Voraussetzung für die Moralentwicklung dar.

Die moralische Entwicklung ist wiederum eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die religiöse Entwicklung. Aus der Analyse der Antworten zu moralischen Dilemmas hat sich ergeben, dass religiöse Argumente sehr wenig benutzt wurden, um Entscheidungen in moralischen Dilemmas zu begründen. Personen aus religiös geprägten Ländern, wie Türkei, haben jedoch häufiger religiöse Begründungen benutzt, als Personen aus pluralistischen Gesellschaften. Die Verwendung solcher Argumente nimmt aber mit der Entwicklung moralischen Urteils ab. Andererseits weist Kohlberg darauf hin, dass Personen, die sich auf den postkonventionellen Stufen befinden, oft eine Weltanschauung religiöser Natur zeigen. In seiner Arbeit von 1973„Zusammenhänge zwischen der Moralentwicklung in der Kindheit und Erwachsenenalter - neu interpretiert“ weist Kohlberg auf die Fortsetzung der Moralentwicklung mit einer möglichen 7. Stufe hin. Nach Kohlberg kann die Frage,

„Warum moralisch sein?“, die mit dem Urteilen auf der postkonventionellen Stufe einhergeht, nicht befriedigend auf Stufe 6 beantwortet werden. Die Frage „Warum moralisch sein?“ oder

„Warum sollte man in einer Welt voller Ungerechtigkeit, Leiden und Tod moralisch sein?“

erfordert letztendlich eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die durch die Einnahme einer kosmischen Perspektive, statt einer für Stufe 6 charakteristischen universell-humanistischen Perspektive, befriedigend gelöst werden kann. Die Antwort auf Stufe 7 entsteht aus einem Gefühl der Identität oder Einheit mit dem Sein, dem Leben oder mit Gott.

Dabei wird die Antwort auf Stufe 7 oft theistisch formuliert. Diese Überlegungen sind jedoch rein theoretisch und durch keine empirischen Daten belegt. Sie haben den Ausgangspunkt in Eriksons Theorie der Ich-Entwicklung und in Fowlers Modell der religiösen Stufenentwicklung und stützen sich auf die Analyse von Biographien von hoch moralischen Personen von Sokrates bis Martin Luther King.

In der heutigen modernen Gesellschaft, im Kontext der zunehmenden Säkularisierung der Religiosität, werden Moralität und Religiosität nicht mehr als zusammengehörig gesehen.

Nach Nunner-Winkler (2001) bildete Religiosität in der Vergangenheit die wichtigste Form der Begründung von moralischen Handlungen und Denkweisen (Nunner-Winkler, 2001). In der Moderne aber hat die Bedeutung von Kirche und religiösen Überzeugungssystemen deutlich abgenommen. Demzufolge ist die Bereitschaft zur Normbefolgung primär innerweltlich begründet. Die Ergebnisse einer empirischen Studie von Nucci (2001) scheinen

32 die Annahme von Nunner-Winkler zu stützen. In dieser Studie wurden Interviews mit religiösen Studierenden und Jugendlichen (zwischen 10 und 17 Jahre alt) verschiedener Konfessionen durchgeführt. Aus der Analyse der Interviews leitet Nucci (2001) ab, dass Religiosität und Moralität zwei unterschiedliche Bereiche darstellen. Sogar bei Kindern mit fundamentalistischem religiösem Hintergrund hat die Moralität eine nicht-religiöse, von Gottes Wort unabhängige Grundlage: „morality stems from criteria independent of God`s word“ (Nucci, 2001, S.33). Nuccis These stößt auf harte Kritik bei Kunzman (2003). Er kritisiert an Nuccis Arbeit die empirische Vorgehensweise und reanalysiert die Interviewantworten. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass zumindest was religiöse Personen angeht, Religiosität und Moralität nicht total getrennt werden können. Das moralische Verhalten religiöser Personen wird zwar nicht ausschließlich, aber in vieler Hinsicht von religiösen Überlegungen bestimmt. Eine ähnliche Auffassung vertritt Rest (1999). Er verweist darauf, dass sich moralische und religiöse Entwicklung überschneiden können. Bei religiösen Personen ist das moralische Urteil von dem religiösen Urteil beeinflusst, was auf jeder Kohlbergschen Stufe vorkommen kann. Auf der Stufe 1 ist Gott der allmächtige Schöpfer, der Gehorsam verlangt. Auf der Stufe 2 bringt die Person Gott Opfer dar und gehorcht seinen Befehlen, um eine Belohnung zu erhalten. Auf der Stufe 3, wird Gott als Freund und Wohltäter angesehen, der alle Gedanken und Taten der Person kennt. In diesem Fall, versucht man gut zu sein um Gott nicht zu enttäuschen. Auf der vierten Stufe werden die sozialen Gesetze durch die religiösen Gesetze ersetzt. Auf der Stufe 5 wird Gott als die Ursache einer gerechten Gesellschaft und einer autonomen Persönlichkeit begriffen.

Auf der darauf folgenden Stufe wird die Frage „Warum moralisch sein?“ durch den religiösen Glauben beantwortet.

2.10. Moralität und Religiosität: Meta-Analyse und Zusammenfassung von empirischen