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2. Moralische Urteilsfähigkeit: Entwicklung durch Bildungsprozesse oder Ergebnis von

2.4. Moralentwicklung: Reifungs-, Sozialisationsfaktoren oder Bildungsprozesse?

Kohlbergs kognitive Entwicklungstheorie hat wichtige Implikationen für die Frage, wie die Moralentwicklung geschieht und ob und wie diese gefördert werden kann. Die moralische Entwicklung erfolgt nach Kohlberg (ähnlich wie bei Piaget) durch Transformation der kognitiven Strukturen, die nicht als direkte Folge der Entfaltung biologischer oder neurologischer Programme oder als Ergebnis der Reflexion der äußeren Strukturen oder des assoziativen Lernens (wie Kontiguität, Repetition, Verstärkung) anzusehen ist. Sie stellt vielmehr ein Ergebnis der Interaktion zwischen der Struktur des Organismus und der Struktur

der Umwelt dar. Diese Interaktion führt zu einer graduellen oder stufenartigen Transformation der kognitiven Strukturen. Kognitive Stufen der Moral haben nach Kohlberg folgende vier Merkmale:

1) Die kognitiven Stufen stellen qualitative Unterschiede in der Verarbeitung der Informationen oder Verbindung der Erfahrung dar.

2) Die kognitiven Stufen bilden eine invariante Sequenz, d.h. die Stufen entwickeln sich immer in derselben Reihefolge, wobei es unter dem Einfluss soziokultureller Faktoren eine Beschleunigung, Verlangsamung oder Stagnation geben kann. Die von Kohlberg und seinen Mitarbeitern durchgeführte Längsschnittstudie mit Jugendlichen aus unterschiedlichen Sozialschichten der USA, Taiwan, Türkei und Mexiko zeigt, dass in allen Gruppen die Stufe 1 als erste erscheint und mit zunehmendem Alter weniger dominiert. Stufe 5 und 6 kommen als letzte im früheren Erwachsenenalter, wobei viele Individuen auf der konventionellen Stufe 3 und 4 stehen bleiben.

3) Jede Stufe repräsentiert ein „strukturiertes Ganzes“ oder eine grundlegende Denk-Organisation. Das bedeutet, dass die kognitive Aktivität in verschiedenen Situationen relativ konstant ist.

4) Jede kognitive Stufe stellt eine hierarchische Integration der vorhergehenden Stufe dar. So werden im formalen Denken die konkreten Operationen reorganisiert und auf einem höheren Niveau verknüpft.

Die These der invarianten Sequenz hat direkte Implikation für die Frage der Bildbarkeit bzw. der Vorbestimmung der Moral. Obwohl Kohlberg die Auffassung vertritt, dass die Entwicklung moralischer Strukturen aus der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt erfolgt, und kein Ergebnis der Entfaltung biologischer Prozesse ist, wird durch die These der invarianten Entwicklungssequenz dabei implizit angenommen, dass der Entwicklungsprozess genetisch bestimmt ist, wobei soziokulturelle Faktoren ihn beschleunigen oder verlangsamen können. Da sich in Kohlbergs Stufenmodell die Moral immer nur von unten nach oben entwickeln kann, kann Bildung hier immer nur eine begrenzte Funktion haben. Sie kann die Moralentwicklung nicht in Gang setzen und sie kann sie nur in einem engen Rahmen beschleunigen oder hemmen, aber nicht umkehren. Die empirischen Befunde aus der Längsschnittstudie von Kohlberg zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem biologischen Alter und dem Niveau moralischer Entwicklung.

Colby und Kohlberg (1987) berichten Korrelationskoeffizienten zwischen 0.40 und 0.70. Das Alter wurde sogar als ein wichtiges Kriterium für die Validität der verwendeten Instrumente genommen (Colby, A., Kohlberg, L., 1987). Es wurde aber übersehen, dass das Alter in

16 diesen Studien immer auch mit der Bildung korrelierte und eine eindeutige Zuschreibung der moralischen Entwicklung auf das Alter nicht eindeutig ist. Lind (2003b) zeigte, dass bei Wegfall von Bildungsprozessen die moralische Urteilsfähigkeit mit dem Alter stark abnimmt, also eine Regression eintritt. Eine solche Regression widerlegt aber die Behauptung, dass die moralische Entwicklung durch das biologische Alter bedingt ist und sie widerlegt auch eine von Kohlbergs zentralen theoretischen Postulaten, nämlich das Postulat der Invarianz. Lind (2002) hat die Daten aus der Dissertation von Kohlberg und aus der Studie von Candee, Graham und Kohlberg (1978) reanalysiert und daraus eine Effektstärke des Bildungsniveaus auf die moralische Urteilsfähigkeit von r = 0.65 und bzw. r = 0.71 nachgerechnet. Zahlreiche Studien (Rest, 1985; Lind, 2003b; Pascarella und Terenzini, 2005) liefern Beweise für die Bildbarkeit des moralischen Urteils, indem sie zeigen, dass zwischen dem Alter und dem Niveau der moralischen Entwicklung eine Null-Korrelation besteht, wenn das Bildungsniveau kontrolliert wird. In einer Längsschnittstudie untersuchte Rest (1986) das moralische Urteil bei drei Gruppen mit unterschiedlichen Bildungsniveaus. Mit dem DIT wurde die Moralentwicklung von High-School-Absolventen zu verschiedenen Zeitpunkten erfasst. Die erste Messung fand statt, als die Probanden noch in der High-School waren, die zweite Messung erfolgte nach zwei Jahren, die dritte nach vier Jahren und die letzte nach zehn Jahren. Die Ergebnisse zeigen, dass die Entwicklung moralischen Urteils der Gruppe mit dem niedrigsten Bildungsniveau (weniger als zwei Jahren College-Ausbildung) nach vier Jahren nach dem High-School-Abschluss zu sinken beginnt. Das moralische Urteil der anderen zwei Gruppen - mit mittleren und hohen Bildungsniveau - entwickelt sich dagegen weiter. Die Zunahme in der Gruppe mit hohem Bildungsniveau ist allerdings deutlicher als in der Gruppe mit mittlerem Bildungsniveau. Andere Studien, in denen mit demMUT der kognitive Aspekt des moralischen Urteilens getrennt von dem affektiven Aspekt erfasst wurde (Lind, 2002;

Schillinger, 2006), zeigen, dass Bildungsniveau und Bildungsqualität positiv mit der moralischen Urteilsfähigkeit korrelieren, während zwischen dem Alter und der moralischen Urteilsfähigkeit eine Null-Korrelation besteht. Mehr noch: Anhand der Daten einer Studie in der Bundesrepublik Deutschland mit Haupt- und Realschulabsolventen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren, konnte Lind (2002) das Phänomen der Regression der moralischen Urteilsfähigkeit nachweisen. Nachdem die untersuchten Personen die Haupt- bzw. die Realschule abgeschlossen hatten und eine Berufsschule besuchten, bildete sich die moralische Urteilsfähigkeit zurück. Also, obwohl das chronologische Alter zunahm, je weiter der Zeitpunkt des Schulabschlusses zurück lag, desto niedriger war die moralische Urteilsfähigkeit. Die Regression moralischer Urteilsfähigkeit trotz der Zunahme des

chronologischen Alters belegt die These, dass die moralische Entwicklung kein Ergebnis der Entfaltung neuro-biologischer Prozesse ist.

Andere Autoren fokussieren auf die Rolle der sozialen Faktoren und erklären die moralische Entwicklung durch die Anpassung an den sozialen Kontext. Z.B. Keller und Edelstein (1993) zeigen, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen eine zentrale Rolle im Prozess der Moralentwicklung spielen. Als Mitglieder einer Gruppe werden sich die Individuen ihrer Verpflichtungen und Verantwortungen bewusst. Dabei lernen sie entsprechend zu handeln, um die Beziehungen in der Gruppe positiv zu verstärken.

Nach den Sozialisationstheorien erfolgt also die moralische Entwicklung durch das Erlernen der Werte und Normen derjenigen Gruppe, der man angehört. So zeigt Gilligan (1982, dt. 1984), dass Sozialisationserfahrungen von Männern und Frauen unterschiedlich sind, was zu Unterschieden im moralischen Urteil führt. Der Ausgangspunkt für Gilligans Arbeit war die Kritik an Kohlbergs Modell der Gerechtigkeitsmoral. Sie zeigt, dass Kohlbergs Stufenmodell ausschließlich das moralische Denken von Männern erfasst, da es auf Untersuchungen mit männlichen Stichproben beruht. Aus der Analyse biografischer Interviews mit unterschiedlichen Frauengruppen leitet Gilligan (1982, dt. 1984) die These ab, dass moralische Urteile von Frauen auf Prinzipien der Fürsorge beruhen, die in Kohlbergs Modell einer niedrigeren Stufe zugeordnet werden als den höher einzuordnenden Prinzipien der Gerechtigkeit, die häufiger bei männlichen Probanden anzutreffen sind.

Geschlechtsunterschiede im moralischen Urteil wurden jedoch selten nachgewiesen.

Walker (1984) analysierte 54 Studien, in denen die moralische Entwicklung mit dem Moral Judgment Interview von Kohlberg erfasst wurde und fand nur in acht Fällen bedeutende Unterschiede zugunsten von Männern. In Snareys Meta-Analyse (1985), die ebenfalls auf MJI Studien beruhte, wurden Geschlechtsunterschiede nur in drei Studien gefunden, denen allerdings das alte Scoring Manual zugrunde lag. In den anderen 14 Studien wurden keine signifikanten Geschlechtsunterschiede gefunden. Thoma (1984, zitiert nach Rest, 1986) rezensiert 56 DIT-Studien und analysiert die Effekte des Geschlechts auf die moralische Entwicklung. Die Ergebnisse seiner Meta-Analyse zeigen, dass der Unterschied sehr gering (d

= 0.21)1 und den Erwartungen entgegengesetzt ist: Der P-Wert von den weiblichen Probanden war etwas höher als der P-Wert der männlichen. Lind (1987) zeigt, dass in den Studien, in denen Geschlechtsunterschiede gefunden wurden, die Bildungsunterschiede nicht berücksichtigt wurden.

1 d- Cohens Maß für die Effektstärke: kleiner Effekt: d > 0.2; mittlerer Effekt: d > 0.5; großer Effekt: d > 0.8;

18 Die oben zitierten Studien verwendeten zur Erfassung moralischer Entwicklung den DIT und den MJI. Dabei werden kognitive und affektive Aspekte nicht unterschieden. So konnte nicht deutlich gezeigt werden, ob sich Frauen von Männern in den verschiedenen Moralstufen unterscheiden oder nur ihre Fähigkeit, moralische Prinzipien konsistent und differenziert in konkreten Situationen anzuwenden, differiert. Eine Untersuchung (FORM – Projekt, 1987), in der die zwei Aspekte des moralischen Urteilsverhaltens bei dreitausend weiblichen und männlichen Studierenden in drei verschiedenen Ländern (Deutschland, Österreich und Polen) untersucht wurden, beweist, dass es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede weder in moralischen Einstellungen noch in der moralischen Urteilsfähigkeit gibt.