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5.2. Gewalt in “Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord”

5.3.1. Unterschiede zwischen den beiden Werken

In den Werken “Berlin Alexanderplatz” und “Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord” sind Unterschiede zu spüren. Inhaltliche Unterschiede zwischen dem Roman

“Berlin Alexanderplatz” und der Dokumentation “Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord” sind zu sehen. Im Werk I werden die Gewalttaten mit Details und Symbolen ausführlich beschrieben. Z.B. wird die Szene, in der Mieze, die sich in einen Kunden verliebt hat, von ihrem Zuhälter Franz Biberkopf verprügelt wird, bis in die Einzelheiten beschrieben. Diese Szene wirkt im Werk sehr realistisch. Das verleiht auch dem Werk einen wichtigen Platz in der Literatur.

Da gelingt es Franz, seinen Arm freizukriegen, sich loszumachen, sie rennt ihm nach, im Augenblick dreht sich Franz um, schlägt ihr ins Gesicht, daß sie zurücktaumelt, dann stößt er gegen ihre Schulter, sie fällt, er über sie und schlägt mit seiner einen Hand, wo er trifft. Die winselt, sie windet sich, oh oh, der haut, der haut, sie hat sich rumgeworfen auf den Bauch und das Gesicht. Wie er aufhört, sich verpustet, die Stube dreht sich um ihn, dreht sie sich rum, rappelt sie sich auf: “Keinen Stock, Franzeken, ist genug, keinen Stock.” Da sitzt sie mit gerissener Bluse, das eine Auge zu, Blut aus der Nase und verschmiert die linke Backe und das Kinn.359

Döblin dehnt in diesem Werk besonders auf die Beschreibung der einzelnen Handlungen. Ziel ist dabei die Handlungen und das Leben in der Groβstadt bis ins Detail wiederzugeben. Die Szene, in der Reinhold seinen alten Franz Biberkopf aus dem Auto schmeiβt, wird in dem Werk auch ausführlich beschrieben. Die Gefühle und die Gedanken der einzelnen Personen werden dabei wiedergegeben. Döblin nimmt in seinem benannten Roman bezüglich der Beschreibung einen groβen Wert. Im Werk II dagegen werden die Handlungen nicht wie im Werk I ausführlich in den Vordergrund gerückt.

359 Döblin A., Berlin Alexanderplatz, ebd, S.300–301.

Die Gewalttaten im Werk II werden abrupt zur Hand genommen und nur mit ein paar Sätzen geschildert. Gewalttaten von dem Tischler Link gegenüber seiner Ehefrau Elli werden mit dieser kurzen Zeile beschrieben; Mit dem Dolch ging er oft auf sie los. Und dann, wenn sie sich von ihm losgemacht hatte, – sie bettelte, schlug er mit Händen und Füßen, er wollte sie einmal nachts nackend aus dem Fenster werfen.360 Mit Hilfe der benannten Werke zeigt Alfred Döblin, daß Gewalttaten sowie ausführlich als auch gering den Lesern beschrieben werden können. In beiden Fällen kann der Leser die Ereignisse rezipieren, und die Vorfälle, die in den Werken auftauchen, werden vollkommen verstanden.

Stoffliche Unterschiede zeigen sich dagegen schon bei der Erarbeitung der Gewalt, die in den Werken “Berlin Alexanderplatz” und “Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord” auf unterschiedlicher Weise dargelegt werden. Der Grund für diesen Unterschied liegt an dem Stoff der beiden Werke. Obwohl beide Werke Wirklichkeitselemente beinhalten, bearbeiten sie unterschiedliche Stoffe. Im Werk

“Berlin Alexanderplatz” ist die Großstadt Berlin der Stoff. Dabei stehen ihre Bewohner, die Verhältnisse der Menschen und das Chaos der Stadt im Mittelpunkt. Döblin berichtet über das Leben im Alltag und über die unwahren Freundschaften der Bewohner der Großstadt Berlin. Denn ‘verflucht ist der Mensch, der sich auf Menschen verläßt’ das ist das Leitmotiv des Romans.361 Im Werk “Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord” dagegen bildet ein Zeitungsbericht über einen Mordanschlag den Stoff, der in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Berlin zu einem vieldiskutierten Prozeß kam. Deshalb entpuppt sich Gewalt in den benannten Werken in verschiedenen Formen. Werk I realisiert die Gewalt, die in der Groβstadt stattfindet. Dagegen zeigt sich Gewalt im Werk II in der Familie.

Das Werk “Berlin Alexanderplatz” stellt eine ‘fiktive Realität’ dar. Alfred Döblin zeigt in diesem Werk das Leben in der Großstadt, wo auch er lange Jahre lebte und die Gelegenheit hatte die Bewohner dieser Stadt zu erkennen. Deshalb werden auch die Haupt– und Nebenfiguren im Werk I ausführlich beschrieben. Die Figuren werden sowohl mit ihren physischen Seiten als auch mit ihren psychologischen Seiten den

360 Döblin A., Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, ebd, S.34.

361 Kluge M. – Radler R., ebd. 454.

Lesern veranschaulicht. Die Hauptfigur Franz Biberkopf wird im Werk folgendermaßen beschrieben:

Dieser Franz Biberkopf, früher Zementarbeiter, dann Möbeltransportör und so weiter, jetzt Zeitungshändler, ist fast zwei Zentner schwer. Er ist stark wie eine Kobraschlange und wieder Mitglied eines Athletenklubs. Er trägt grüne Wickelgamaschen, Nagelschuh und Windjacke. Geld könnt ihr bei ihm nicht viel finden, es kommt laufend bei ihm ein, immer in kleinen Mengen, aber trotzdem sollte einer versuchen, ihm nahezutreten. Hetzen ihn, von früher her, Ida und so weiter, Gewissensbedenken, Albdrücken, unruhiger Schlaf, Qualen, Erinnyen aus der Zeit unserer Urgroßmütter?

Nichts zu machen. Man bedenke die veränderte Situation. Ein Verbrecher, seinerzeit gottverfluchter Mann [woher weißt du, mein Kind?] am Altar, Orestes, hat Klytämnestra totgeschlagen, kaum auszusprechen der Name, immerhin seine Mutter. [An welchem Altar meinen Sie denn? Bei uns können Sie ne Kirche suchen, die nacht auf ist.] Ich sage, veränderte Zeiten.362

Das Werk “Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord” stellt dagegen eine

‘dokumentarische Realität’ dar, in dem das Geschehene der Realität entspricht. Die Haupt– und Nebenfiguren werden nicht ausführlich dargelegt, weil nicht die äußere Erscheinung der Figuren sondern das Geschehene eine hauptsächliche Rolle spielte. Die Hauptfigur und leidende Frau Elli wird im Werk wie angegeben erzählt: Die hübsche blonde Elli Link kam 1918 nach Berlin. Sie war neunzehn Jahre alt. Vorher hatte sie in Braunschweig, wo ihre Eltern Tischlersleute waren, angefangen zu frisieren.363 Im Werk II stehen die Ereignisse vielmehr im Mittelpunkt als die Figuren selbst. Döblin, der selbst Probleme im Elternhaus hatte, wählte das Thema ‘Gewalt’ und bevorzugte bei seiner Dokumentation vielmehr die Ereignisse in den Vordergrund zu rücken.

In dem Roman “Berlin Alexanderplatz” ist zu erkennen, daß diese ausführlichen Beschreibungen den Lesern auf die kommende Katastrophe führen. Alle Symbole sind deshalb im Werk notwendig, um das Ganze zu verstehen und den Grund der Gewalt zu begreifen. Dagegen gibt es im Werk II keine Symbole, die die Leser zum Nachdenken zwingen. Der Mord der beiden Freundinnen an den Ehemann Link wird ohne Wortspiele den Lesern wiedergegeben. Nur die Beiträge von dem Sachverständiger sind

362 Döblin A., Berlin Alexanderplatz, ebd, S.84.

363 Döblin A., Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, ebd, S.5.

in diesem Werk andersartig. Aber auch diese Beiträge sind verständlich für die Leser.

Z.B. wird der Giftmord mit Datumangabe und mit ärztlichen Informationen wiedergegeben.

Es waren die Monate Februar–März 22. Der Anfang ging leicht. Sie hatte es vielleicht provoziert, vielleicht auch einfach kommen lassen: er torkelte abends betrunken nach Hause, warf ihr das Essen an den Kopf, stieß sie über das Bett, verlangte Quetschkartoffeln. Darin bekam er die erste Giftdose. Nach drei Tagen eine zweite. Der Mann wurde krank; Magen– und Darmerscheinungen traten auf. Er lag acht Tage, ging dann wieder zur Arbeit. Dann wurde es schwerer und schwerer. Die Vergiftung befiel den ganzen Organismus.

Sie sah, wie er vergeblich zu schwitzen versuchte, aber “das Zeug saß fest”. Es schien alles gut zu verlaufen, er kam nicht richtig auf die Beine, sie wollte nicht locker lassen.364

Die Beziehungsstruktur bürgerlicher Ehe und Familie von Elli Link, die nicht auf Liebe, Vertrauen und gegenseitiger Achtung aufgebaut ist, wird in der Dokumentation unkompliziert wiedergegeben. Die Gewalttaten, die von dem Ehemann Link ausgeübt werden, werden in dem benannten Buch mit Daten bearbeitet.

Im Werk I bietet der Schluß des Romans den Lesern kein Ende, sondern schließt das Werk mit einem Fragezeichen. Es wird zwar dargestellt, daß die Hauptfigur Franz Biberkopf sein Leben von vorne anfängt, aber mit welchen Freunden er sein neues Leben zusammenleben wird und ob die Gewalttaten weiterführen, wird nicht ausführlich beschrieben. Für den Leser fängt das eigentliche Werk erst dann an, als Franz Biberkopf von dem Tod angesprochen wird und das Leben von Franz Biberkopf vom Neuen anfängt

In einem sozialen Sinne ist diese Stadt für Döblin sogar die Stadt seiner Geburt, besser: “Nachgeburt” gewesen. In dem Jahre, in dem Döblin als zehnjähriger Knabe mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern nach Berlin kommt, also im Jahre 1888, erfährt er die Ankunft in der fremden groβen Stadt nachgerade als schmerzhaften Akt des Gebärens und Geborenwerdens, der ihm – in einem körperlichen und seelischen Sinne – nach höchster Anspannung am Ende Erleichterung und Erlösung zugleich bringt.365

364 ebd, S.43.

365 Bekes P., ebd, S.11–12.

Im Werk II ist dagegen der Schluß klar, denn die beiden Freundinnen wurden wegen ihrem Giftmord an Link bestraft und die Gewalt in der Ehe nimmt für Elli ein Ende. Die Strafe wurde an beiden Frauen vollzogen. Die Ehe der Bende wurde wegen beiderseitigen Verschuldens geschieden: bei ihr Straftat, bei ihm Ehebruch.366 Im Werk II wird sowie die Ehe von der Familie Link als auch die Ehe von der Familie Bende mit einem klaren Ende beschrieben. Im Werk bleibt nichts offen im Gegensatz zum Werk I und alle Ereignisse nehmen ein Ende.