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Alfred Döblins tiefstes Kindheitserlebnis war die Flucht seines Vaters. Sein Vater, Max Döblin, der ihn, seine Geschwister und seine Mutter verlassen hatte, ohne an die Nachfolgen zu denken. Döblin war damals zehn Jahre alt und konnte die Flucht seines Vaters nie akzeptieren.135 Nach diesem Niederschlag kann auch gesagt werden, daß er vielleicht die Dokumentation “Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord” unter diesem Einfluß geschrieben hat. Denn in dieser Dokumentation ist zu sehen, daß der Ehemann Link kein Kind haben will und somit nicht den Wunsch von seiner Frau akzeptiert. Zum Schluß wird Link von seiner Ehefrau vergiftet. Das Werk “Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord”, das in dieser Arbeit detaliert bearbeitet wird, könnte demnach eine Wunschvorstellung von Döblin sein, der den Tod seines Vaters wollte. Denn er dachte sein Leben lang an sein Vater. Die Flucht seines Vaters hatte seine Nachfolgen. Die Familie mußte sowie materielle Not als auch seelische Erfahrungen erleben. Kiesel beschreibt das Kindheitserlebnis Döblins mit diesen Zeilen;

Das Verschwinden des Vaters brachte für die zurückbleibenden Familienmitglieder eine Reihe von negativen Folgen. Nicht nur hatten sie materielle Not auszuhalten; sie erlebten eine deutliche soziale Deklassierung und eine weitere ethnische Entwurzelung. Aus dem anscheinend bürgerlich gearteten Stettiner Haushalt wurde die Familie, wie es im “Ersten Rückblick” heiβt, ins kleinbürgerliche Berliner “Exil” verwiesen, aus der konservierenden Nähe zum Ostjudentum in die Metropole der Assimilation, in der sich die Erinnerungen an die jüdische Herkunft fast völlig verloren. Die soziale Deklassierung konnte durch verzweifelte Anstrengungen, die dem jungen Döblin beispielsweise den Wiedereintritt in ein Gymnasium ermöglichten, einigermaβen ausgeglichen werden; die ethnische Entwurzelung wurde zunächst durch Assimilationsleistungen kompensiert, machte sich später aber schmerzhaft bemerkbar.136

Döblin zog 1888 mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Berlin, wo ihnen der Bruder der Mutter beistand. Die Flucht seines Vaters verfolgte ihn sein Lebenlang und besonders deshalb wählte er diese Tatsache in seinen Werken immer wieder als Stoff.

Dieses Ereignis bezeichnete Döblin als seine ‘Vertreibung aus dem Paradies’ und ließ

135 Vgl. hierzu: ebd, S.130.

136 Kiesel H., ebd, S.31.

ihn während seiner Kindheit und Jugendzeit nie los.137 Dieses Motiv des Vater – Sohn – Konfliktes von Döblin zeigt Ähnlichkeiten mit Franz Kafkas Motiv des Vater – Sohn – Konfliktes, denn die Werke von Kafka sind überfüllt von dem Druck des Vaters an den Sohn. Die Werke “Die Verwandlung” und “Das Urteil” von Kafka können hier als Beispiele gegeben werden, in denen der Sohn immer wieder von seinem Vater als Taugenichts bezeichnet wird.

Der Sohn wird im Werk “Das Urteil” von dem Vater verurteilt und mit dem Ertrinken bestraft. Im Werk “Die Verwandlung” wird der Sohn in ein widerliches Ungeziefer verwandelt, denn der Sohn versuchte den Platz seines Vaters in der Familie streitig zu machen. In beiden Werken stirbt der Sohn und der Vater erreicht sein Ziel.138 Die Ansichten von Ahmet Cemal zu Kafkas Werken können hier mit diesem Satz wiedergegeben werden: Dabei zeigt Kafka in seinen Werken “Das Urteil”, “Die Verwandlung” und “Das Schloss”, daß alle Menschen gegenüber unerwünschten Ereignissen stark sein müssen.139 Andere Meinung bei diesem Punkt lautet folgendermaβen: In der Erzählung “Das Urteil” und in dem Roman “Das Schloss”

werden die Ereignisse abrupt geschildert, die Figuren gleichen dagegen dem Autor.140 Hierzu kann gesagt werden, daβ die Figuren besonders aber die Hauptfigur im Roman groβe Ähnlicheit zu dem Autor selbst zeigt. Ähnlicheiten zwischen Werk bzw. Figuren und Autor sind auch bei Alfred Döblin zu sehen.

Döblin heiratete im Jahre 1912 die Medizinstudentin Erna Reiss. Dadurch, daß er in seiner Kindheit und Jugend unter dem Verlust seines Vaters litt, fühlte Döblin sich in späteren Jahren als Vater von vier Söhnen, die in den Jahren 1912, 1915, 1917 und 1926 zur Welt kamen, seinen Kindern gegenüber besonders verantwortlich.141 Manfred Brauneck erwähnt seine Meinung bei diesem Punkt mit diesem Satz: Döblin brachte seine psychotherapeutische Erzählungen unter der ‘Strindberg–Ehe’ der Eltern hervor

137 Vgl. hierzu: Brauneck M., ebd, S.130.

138 Vgl. hierzu: Grabert W. – Mulot A. – Nürnberger H., ebd, S.288.

139 Vgl. hierzu: Ahmet Cemal, “Franz Kafka’yı Anlamak,” Yazko Çeviri: Kafka Özel Sayısı, No: 16–17 (1984), S.11.

140 Vgl. hierzu: Alain Robbe Grillet, Yeni Roman. Übersetzer: Asım Bezirci. (İstanbul: Ara, 1989), S.10.

141 Vgl. hierzu: Bernd Lutz (Hrsg.), Metzler Autoren Lexikon, (2. Auflage, Stuttgart: J.B. Metzler, 1994), S.150.

und litt an einer zu engen Bindung an die Mutter.142 Die Nachfolgen der Flucht des Vaters verfolgten Alfred Döblin in allen Bereichen, als Schriftsteller, als Arzt, als Ehemann und als Vater. Seine Werke publizierte Döblin, neben den Gewalttaten jener Zeit, unter dieser Beeinflußung.

Döblins Einschätzung des deutschen Faschismus, die seinen Vorstellungen zur Nachkriegsneuordnung zugrundeliegt, wird in dem Erlebnisbericht von den Leidenserfahrungen an den Rand gedrängt. Denn die nicht darstellbare religiöse Tiefe fördert gerade die Vorherrschaft der Oberfläche: der Erfahrungen des leidenden einzelnen in “Katastrophen”.143

Döblin zeigte in seinen Werken, daß die Flucht eines Elternteils nicht leicht zu überstehen ist und gab in seinen Werken seine Fürchte und Ängste wieder. In dem Roman “Der schwarze Vorhang – Roman von den Worten und Zufällen” wird der Mutter–Sohn–Konflikt thematisiert.144 Hiermit spielen Ereignisse von Döblin, die einen wichtigen Platz in seinem Leben haben, bei der Entstehung seiner Werke eine wichtige Rolle.

Die Flucht des Vaters und die enge Bindung der Mutter sind nicht die einzigen Ereignisse, die Alfred Döblin, sein Leben und seine literarische Schaffung beeinluβten.

Auch sein Beruf als Arzt und seine Patienten spielten hier eine relevante Rolle.

Als ich fertig war mit dem Medizinstudieren, war ich Mitte Zwanzig und hatte nicht so eilig, als mich dem Kampf um das sogenannte Dasein zu entziehen. Ich ging als Assistenz in mehrere Irrnanstalten. Unter diesen Kranken war mir immer sehr wohl. Damals bemerkte ich, daβ ich nur zwei Kategorien von Menschen ertragen kann neben Pflanzen, Tieren und Steinen: nämlich Kinder und Irre. Diese liebte ich immer wirklich. Und wenn man mich fragt, zu welcher Nation ich gehöre, so werde ich sagen: weder zu den Deutschen noch zu den Juden, sondern zu den Kindern und den Irren. Ich habe mich Jahre hindurch in Irrenanstalten herumgetrieben, habe auch einiges über meine Kranken geschrieben.145

142 Vgl. hierzu: Brauneck M., ebd, S.132.

143 Helmut F. Pfanner (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg und die Exilanten – Eine literarische Antwort / World War II and the Exiles – A literary Response (Berlin: Bouvier, 1991), S.283.

144 Vgl. hierzu: Brauneck M., ebd, S.131.

145 Anthony W. Riley (Hrsg.), Alfred Döblin – Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen (Olten: Walter, 1995), S.25.

Unter dem Druck der massenhaft auftretenden Kriegsneurosen, die Döblin erleiden muβte, ergibt sich jedoch ein erstaunlicher Effekt: Sowohl Psychoanalyse als auch Psychiatrie. Am Ende des Krieges kam heraus, daβ die Krankheit ‘Kriegsneurose’

einen wichtigen Platz in seinem Leben hat. Döblin behandelte in seinen Werken entweder Soldaten oder Zivilisten, die an dem Krieg beteiligt waren.

Deshalb ist es für den Zusammenhang von Literatur und Psychiatrie im Falle Döblins von Bedeutung, wenn er in drei groβen Romanen Kriegsneurotiker als Protagonisten einsetzt:

den Kriegsneurotiker Franz Biberkopf in “Berlin Alexanderplatz”, der seit dem Grabenkrieg bei Aras an Anfällen leidet; Oberleutnant Friedrich Becker, der in

“November 1918” nach einer Granatsplitterverletzung regelmäβig in Delirien verfällt; Edward Allison, der in

“Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende” (1946) einen Kamikaze – Angriff im Zweiten Weltkrieg mit hartnäckigen kriegstraumatischen Symptomen überlebt.146

Es kann gesagt werden, daβ die Werke von Döblin eine direkte Verbindung mit seinem Leben haben. Alle Ereignisse und Personen, die in seinem Leben einen wichtigen Platz haben, entpuppen sich in seinen Werken wieder.