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Ulla Hahn: Unscharfe Bilder

In der Sprache der Vorurteile: Krieg gegen die Sowjetunion in der deutschen Gegenwartsliteratur

2. Krieg gegen die Sowjetunion in der deutschen Gegenwartsliteratur 1. Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

2.2. Ulla Hahn: Unscharfe Bilder

Krieg in Russland ist das zentrale Thema des Romans Unscharfe Bildervon Ulla Hahn. Dabei reduziert sie das Szenario fast ausschließlich auf die Gespräche zwi-schen Vater und Tochter über den „Russlandfeldzug“. Gymnasiallehrerin Katja glaubt, auf einem Bild der Wehrmachtsausstellung ihren Vater Hans Musbach ent-deckt zu haben. Auf dem Bild ist eine Partisanenerschießung in Russland abgebil-det. Sie bringt den Katalog der Ausstellung dem Vater ins Seniorenheim und will ihn zum Sprechen über den Krieg bewegen. Zunächst widerwillig, dann von sei-nen Erinnerungen mitgerissen, beginnt der pensionierte Oberstudienrat Musbach vom „Russlandfeldzug“, an dem er als einfacher Infanterist teilnahm, zu erzählen.

Musbach berichtet über das Grauen an der Front. Der Krieg wurde für ihn zu einem traumatischen Erlebnis: unsägliche Strapazen, Kälte, Elend, Hungersnot und vor allem die Kameraden, die an den Kriegsgräueln wahnsinnig werden,

do-220 Ebenda, S. 130.

221 Ebenda, S. 103.

222 Ebenda, S. 38.

223 Ebenda, S. 40.

minieren in seiner Erzählung. Dabei wiederholt er immer wieder, dass die Russen es „besser hatten“: „wattierte Kleidung, Filzstiefel, Fäustlinge“, und dass die Kälte und die Strapazen ihnen wenig ausmachten. Musbachs Schilderung der Russen greift zwei Klischees auf, die in den 50er Jahren verbreitet waren: Entwe-der sind sie geduldige und religiösen Menschen, die ihre traditionelle Lebensart bewahren wollen und klaglos schreckliche Entbehrungen ertragen können. Oder sie sind heimtückische, hinterlistige Partisanen, deren Vo rgehen sie eindeutig auf die Seite der Täter stellt. Hahns „Iwan“ ist ganz anders geschildert, als der von Uwe Timm:

Aus dem Wäldchen kommt ein Russe, unbekümmert, deutlich erkennbar die selbstgedrehte Zigarette, Machorka. Ich verfolge ihn mit dem Fernglas, schieße nicht. Wenig später sehe ich, wie er die Zigarette wegwirft, das Gewehr hoch-reißt, in unsere Richtung zielt, feuert. Abends wird einer von uns in seinem Loch mit Kopfschuss gefunden. Du, und da habe ich mich wirklich geschämt, nicht selbst geschossen zu haben. Wo hört im Krieg die Notwehr auf, und wo fängt der Mord an?224

Beiläufig sagt Musbach, dass die Russen ja für ihre Heimat kämpfen, doch diese Aussage wird nicht weiter erläutert und geht unter in der endlosen „Litanei des Grauens“. Musbachs Umgang mit der russischen Zivilbevölkerung ist in seiner Darstellung immer freundlich, er gibt den Kindern Schokolade und verbrüdert sich mit einem russischen Bauern, mit dem er auch Wodka trinkt. Wenn von einer Ve rgeltungsaktion der Deutschen die Rede ist, nach der ein Kamerad Musbachs den Verstand verliert und Selbstmord begeht, dann ist dies eine Antwort auf das brutale Vorgehen der Partisanen.

Musbachs Schilderung, wenn auch fiktiv, beansprucht Authentizität, und er bemüht sich stets, jede Schuld von sich zu weisen: „Die Frage nach den Ve r b r e-chen musste immer wieder gestellt werden – aber doch nicht an ihn!“2 2 5Z a h l r e i-che Umstände weisen darauf hin, dass Musbach keine persönlii-che Schuld treff e n soll: er war zu jung, er folgte dem Recht auf Notwehr, er hat den Krieg nicht ge-wollt, er war kein Nazi. Die Deutschen seien auch nicht die Einzigen gewesen, die von Nationalsozialismus begeistert waren („Die Völker der Erde winkten Hitler zu“), und selbst in der Sowjetunion habe man die Wehrmacht am Anfang als Be-freier gesehen: „Die Menschen bewarfen uns sogar mit Rosen.“

„Nein, einen Drang nach Osten spürten wir alle nicht. [...] Hitler hatte die Be-fehlsgewalt, wir folgten, vom General bis zum Rekruten. [...] An der Front gab es keine Juden. [...] Von den Deportationen, den Massenvernichtungen wussten wir an der Front damals noch nichts. Nur Gerüchte von den Gräueltaten der SS und des SD in den besetzten Gebieten hinter uns. [...] Je wirkungsvoller die Partisanen, desto öfter gab es diese sogenannten „Ve rg e l t u n g s o p e r a t i o n e n “ .

224 Ulla Hahn: Unscharfe Bilder, München 2003, S. 55 f.

225 Ebenda, S. 100.

Was sollten wir machen? Uns von hinten abschießen lassen? [...] Und verg i s s niemals, wir hatten uns nicht freiwillig gemeldet! Ich hatte Hitler nie gewählt!

Ich war in Russland ein Gefangener meines eigenen Landes“.226

Die Indoktrination der Frontsoldaten, die zahlreiche historische Studien bele-g e n ,2 2 7sowie das Einverständnis mit der A u ffassung des NS-Regimes vom bol-schewistischen Feind und von dessen Behandlung bestreitet Musbach: beim Mili-tär konnte man „sogar eine gewisse Freiheit“ bewahren. Am Ende gesteht er, dass er doch an einer Erschießung von gefangenen Partisanen teilnehmen musste. „Ich tat wie mir befohlen. Hielt in die Richtung, wo der Mann stand. Zog ab. Der Schuss ging los. [...] Ich sackte zusammen. ’Verdammter Idiot!’ hörte ich noch.

Dann verlor ich das Bewusstsein. Eine gnädige Ohnmacht“.2 2 8Dieses Geständnis sowie die spätere ausführliche Erläuterung Musbachs enthält gleichzeitig eine vierfache Entschuldigung: er hat danebengeschossen, wurde dabei ohnmächtig, erschlug nach dem Aufwachen den SS-Mann, der ihm den Befehl gegeben hatte, als dieser gerade eine Partisanin vergewaltigen wollte, und brannte mit dieser dann – als Liebespaar – durch. Er musste mit den russischen Partisanen in Sümp-fen hungern und hat nach dem Krieg als Lehrer versucht, seinen Schülern beizu-bringen, dass sich der Nationalsozialismus nicht wiederholen solle.

Die Überladung am Ende ist unübersehbar, und die Botschaft der Autorin auch:

Die Kriegsgeneration hat Schreckliches erlebt und die Nachgeborenen haben kein Recht, sie zu verurteilen. „Es wird auch wieder einen breiteren, einen gerechteren Blick auf uns Deutsche geben. Da werden dann auch die Erfahrungen der ge-schundenen deutschen Soldaten zu lesen und zu hören sein“229, fordert ein pensio-nierter Physiker in Unscharfe Bildern, und die Autorin stimmt mit ihm überein.

Erinnerung an die Opfer „auf der anderen“ Seite sowie Kriegserinnerung im A l l-gemeinen hält sie für schädlich: „Vergessen kann befreien, Erinnerung quälen“.230 Statt Verantwortung fordert Ulla Hahn Verzeihen: „Konnte jemand, der nicht da-bei gewesen war, jemals den Vater verstehen? Begreifen? Blieb ihr nicht alles, was der Vater erzählte, nur Wissen, nur Versuch einer Vo r s t e l l u n g ?“2 3 1, fragt sich Hahns Protagonistin Katja. Und das bedeutet schließlich, dass man zum T h e m a

„Krieg“ keine Fragen stellen soll, und somit einen Schlußstrich unter einem Kapi-tel der deutschen Geschichte ziehen, über welches nachzudenken man noch gar nicht richtig angefangen hat.

226 Ebenda, S. 37, 82, 95, 98, 207, 107.

227 Vgl. Omer Bartov: Hitler’s Army. Soldiers, Nazis and the War in the Third Reich, New York 1991; Stephen G. Fritz: Hitlers Frontsoldaten. Der erzählte Krieg, Berlin 1998; Wette: Die Wehrmacht.

228 Ulla Hahn: Unscharfe Bilder, S. 268 ff.

229 Ebenda, S. 136.

230 Ebenda, S. 25.

231 Ebenda, S. 174.