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Europäischer Rationalismus versus Magischer Realismus

García Márquez’ Doce cuentos peregrinos

1. Europäischer Rationalismus versus Magischer Realismus

„Die Heilige“ erzählt die Geschichte Margarito Duartes, eines Anwaltes aus dem kolumbianischen Andenhochland, der mit Hilfe der finanziellen Unterstützung seines Dorfes und der religiösen Unterstützung des Bischofs seiner Diözese den S a rg seiner Tochter den beschwerlichen Weg bis nach Rom bringt, um dort den Papst zu treffen und seine Tochter heilig sprechen zu lassen. Ihre Leiche weist auch nach elf Jahren keinerlei Verwesungsspuren auf und ist völlig gewichtlos ge-worden. Der Erzähler trifft den Vater nach zweiundzwanzig Jahren in Rom wie-d e r, wo Duarte nach wie vor unwie-d unermüwie-dlich versucht, zu einer Auwie-dienz beim Papst vorgelassen zu werden. Ein Fall lateinamerikanisch kodierter, ‚magischer’

Wirklichkeit in Europa?

García Márquez’ Schriftstellerkollege Plinio Apuleyo Mendoza konstatiert:

„Ich habe den Eindruck, daß deine europäischen Leser meistens die Magie der Dinge, die du erzählst, bemerken, die Wirklichkeit aber, von der sie inspiriert sind, nicht sehen…“. Apuleyo Mendoza kommt damit auf den Magischen Realismus zu sprechen, dem García Márquez im europäischen Kontext immer wieder zugerech-net wird. García Márquez ist sich des Rezeptionsunterschiedes zwischen europä-ischen Lesern und seinem lateinamerikaneuropä-ischen Publikum durchaus bewusst:

„Bestimmt, ihr Rationalismus [der der Europäer, K. B.] hindert sie nämlich daran zu sehen, daß die Wirklichkeit sich nicht im Preis von Tomaten und Eiern er-schöpft. Der Alltag in Lateinamerika beweist uns, daß die Wirklichkeit voller außergewöhnlicher Dinge steckt.“136

Aufgrund des außergewöhnlichen Ereignisses, das der Geschichte zugrunde liegt, kann man davon ausgehen, dass – ganz im Sinne der García Márquez’schen Hypothese einer lokal differenten Rezeption seiner Werke – der implizite euro-päische Leser dem beschriebenen Erzählanlass befremdet oder gar fasziniert gegenübersteht. Die Fremdheitserfahrung ist somit doppelt, inhaltlich auf der Figurenebene und außerdem auf der Rezeptionsebene, verortet und betrifft die Glaubwürdigkeit des Erzählten wie der Erzählung. Es liegt aber gerade im Inter-esse des Autors, den „Geschichten Glaubwürdigkeit zu verleihen“1 3 7, gerade auch für den europäischen Kontext, denn García Márquez ist sich trotz aller Freizügig-keit in der Gestaltung durchaus darüber im Klaren, dass der literarischen Schöp-fungskraft auch Grenzen zu setzen seien und sich ein Autor bestimmten Gesetz-mäßigkeiten zu unterwerfen habe:

136 García Márquez: Geruch der Guayave, S. 42 f.

137 Ebenda, S. 39.

Mit der Zeit habe ich jedoch entdeckt, daß man doch nicht alles erfinden oder sich einbilden kann, wozu man gerade Lust hat, sonst läuft man Gefahr zu lü-gen, und Lügen wiegen in der Literatur schwerer als im wirklichen Leben.

Trotz scheinbar größter Willkür gibt es dennoch Gesetze. Man kann das Fei-genblatt des Rationalismus zwar ablegen, aber nur, wenn man nicht ins Chaos verfällt, in den vollkommenen Irrationalismus.138

Allerdings gilt es, Glaubwürdigkeit – gerade weil sie eine keineswegs objektiv messbare Kategorie ist – für den Fall dieser Geschichten genauer zu diff e r e n z i e-ren. Glaubwürdig kann – in erster Instanz – die Handlung an sich sein. Dabei setzt der Autor auf der Handlungsebene Präzisierungstechniken ein, die García Már-quez seiner journalistischen Tätigkeit verdankt und die nach eigenen Angaben ein wesentliches Fundament seiner Arbeit als Romancier bilden.139

Sie sah nicht wie eine welke Mumie aus, […] sondern wie ein bräutlich geklei-detes Kind, das nach einem langen Aufenthalt unter der Erde weiterschlief. Die Haut war glatt und warm, und die offenen durchsichtigen Augen weckten die unerträgliche Vorstellung, daß sie uns aus dem Tod ansahen. Die Seide und die falschen Orangenblüten des Kranzes hatten den A n g r i ff der Zeit nicht so ge-sund überstanden wie die Haut, aber die Rosen, die man ihr in die Hände gelegt hatte, lebten nach wie vor.140

Die prononcierte Detailgenauigkeit einmal bei der Beschreibung der Leiche, zum anderen in der zeitlichen Festlegung (zweiundzwanzig Jahre hält Duarte sich b e-reits in Rom auf, elf Jahre ist seine Tochter seit seiner Ankunft dort tot) verleihen dem Erzählten größere Authentizität. Von weitaus größerer Bedeutung hierbei ist allerdings die Beglaubigung durch Augenschein: Die Glaubwürdigkeit konstitu-iert sich nicht allein auf dem Wege der Zeugenschaft, also der Erzählung des Er-eignisses in der Erzählung, sondern – und das verleiht ihr weiteres Gewicht – durch die (erzählte) Inaugenscheinnahme des Erzählers selbst.

In einer zweiten Instanz geht es um die Position des Erzählers in der Rolle des Zeugen gegenüber den von ihm erzählten Ereignissen. Dem dienen verschiedene Distanzierungstechniken zur Plausibilisierung des Erzählens wie des Erzählten:

Der Erzähler tritt als Erzähler der Geschehnisse zugunsten des Protagonisten in den Hintergrund, der im Anschluss an das Wiedersehen beider seine Erlebnisse in Rom und seine Bemühungen um die Kanonisierung seiner Tochter schildert. Des Weiteren befähigt die Zeitferne des Geschehens1 4 1den Erzähler, über befremdli-che Dinge berichten zu können, ohne dabei selbst unglaubwürdig zu werden, und etabliert eine Distanz zwischen Erzähler, Leser und Ereignis. Die

Distanzierungs-138 Ebenda, S. 37.

139 Ebenda, S. 39.

140 García Márquez: Geschichten aus der Fremde, S. 55.

141 Vgl. dazu Eugenia Houvenaghel: La doble retórica de lo verosímil en Doce cuentos peregrinos, in: Neophi-lologus, 1999, Heft 83, S. 61.

t e c h n i k1 4 2bietet ihm so die Möglichkeit, Kommentare und Bewertungen einzu-flechten, deren Effekt in der Bewahrung der Glaubwürdigkeit des Erzählers liegt.

Denn die eingefügten Kommentare verwandeln die Geschichte in ein Dokument, in ein Objekt von Untersuchung und Reflexion sowohl durch den Erzähler als auch durch den Leser.1 4 3Er scheint hinsichtlich seiner Berichterstattung zuverläs-sig, ohne dass der Leser gezwungen ist, gleichzeitig auch an das erstaunliche Er-eignis selbst zu glauben.

Drittens kann man die Glaubwürdig auf der Figurenebene verorten: Der Leser wie der Erzähler bezweifelt das Erzählte, beide werden aber im Fortgang der Handlung durch die Wi e d e rgabe der Zeugenberichte der handelnden Figuren ei-nes Besseren belehrt und von der Wahrheit dessen zu überzeugen versucht.

Aus diesen drei verschiedenen Ebenen setzt sich schließlich die vierte Ebene der ästhetischen Glaubwürdigkeit zusammen: Wenn es dem Autor gelingt, seine Geschichten dicht und literarästhetisch – also sowohl handlungs- und erzähltech-nisch als auch hinsichtlich der Figurenkonzeption – überzeugend zu erzählen, ist er in der Lage, eine Stimmung zu erzeugen, die es dem Leser ermöglicht, an das Ambiente der Geschichte zu glauben, ohne notwendigerweise auch an das Darge-stellte zu glauben. In diesem speziellen Fall zählt aber auch die Rationalisierung des Erzählten durch den Erzähler zur Plausibilisierung auf der ästhetischen Ebene:

Fünf Päpste waren gestorben, das ewige Rom zeigte erste Symptome von Hin-fälligkeit, und er wartete noch immer. ,Ich habe so lange gewartet, daß es nicht mehr lange dauern kann’, sagte er mir beim Abschied, nach fast vier Stunden nostalgischer Erinnerungen. ‚Es kann sich nur noch um Monate handeln.’ […]

Nun hatte ich keinen Zweifel mehr daran, wenn ich denn je einen gehabt hatte:

Er war der Heilige. Ohne es zu merken, kämpfte er kraft des unverwesten Kör-pers seiner Tochter nun schon zweiundzwanzig Jahre für die gerechte Sache seiner eigenen Kanonisierung.144

Duarte selbst, kraft der Beständigkeit seines Glaubens an die Heiligkeit seiner Tochter, wird vom Erzähler schließlich als der Heilige charakterisiert – nicht etwa die To c h t e r. Die Kanonisierung, für die er kämpft, erfährt eben darum auch nicht etwa die unverweste Leiche durch den Papst oder die katholische Kirche, wohl aber Duarte selbst durch den Erzähler auf dem Wege der Literatur.

Im Endeffekt aber ist, wie Eugenia Houvenaghel expliziert, die Glaubwürdig-keit gerade auch vom Leser abhängt. Im Rekurs auf Blas Matamoro führt sie aus, die Glaubwürdigkeit eines literarischen Textes konstituiere sich im historischen

142 Houvenaghel zählt weiterhin das Vorkommen anderer Textsorten dazu, wobei sie den Textbegriff völlig un-kommentiert ausdehnt (ebenda, S. 62).

143 Ebenda, S. 62 f. Sie gibt als Beispiel für die Erzählerkommentar: „Nun hatte ich keinen Zweifel mehr daran, wenn ich denn je einen gehabt hatte: Er war der Heilige. Ohne es zu merken, kämpfte er kraft des unverwe-sten Körpers seiner Tochter nun schon zweiundzwanzig Jahre für die gerechte Sache seiner eigenen Kanoni-sierung.“ (García Márquez: Geschichten aus der Fremde, S. 69).

144 Ebenda.

Moment des Zusammentreffens von Text und Leser, in dem der Leser dem Te x t auf dem Weg der Rezeption zum Leben verhilft. Das bedeutet: Glaubwürdigkeit ist weniger eine Qualität des Textes an sich als vielmehr eine zugleich auch dem impliziten Leser geschuldete Qualität, die sich im Rezeptionsvollzug bewähren oder auch nicht bewähren kann. Dabei spielen historische und kulturelle Kon-texte, ebenso wie ästhetische Standards, eine maßgebliche Rolle.1 4 5Was Houve-naghel unberücksichtigt lässt, im Falle der hier behandelten Geschichten aber zu besonderer Bedeutung gelangt, ist als zusätzlicher Faktor die geographische Ve r-ortung, die für die Determinierung und damit auch Relativierung der Glaubwür-digkeit eine nicht unerhebliche Rolle spielt. In Anlehnung an Gérard Genette erklärt Houvenaghel weiter, die Glaubwürdigkeit hänge außerdem mit den eta-blierten Anstandsvorstellungen zusammen und sei epochenspezifisch variabel.

Was künstlerische Artefakte also zeigten, sei weniger das, was geschehe, als viel-mehr das, was gesehen dürfe und solle bzw. auch, was nicht geschehen dürfe und solle, dann aber glaubwürdig be- und gegebenenfalls verurteilt wird.1 4 6Damit de-finiert Houvenaghel literarische Glaubwürdigkeit als relationale Kategorie.1 4 7 Warum verschiedene Phänomene in García Márquez’ Erzählungen für den eu-ropäischen Leser absurd oder besser: unglaubwürdig erscheinen mögen, hängt demzufolge weniger mit der historischen Epoche, sondern vor allem mit der geo-graphischen Distanz bzw. der kulturellen Differenz zu den karibischen Glaubwür-digkeitsstandards zusammen.

In diesem Sinne veranschlagt García Márquez den europäischen Rationalismus als den Scheidepunkt zwischen europäischer und lateinamerikanischer Rezeption.

Er mache es europäischen Lesern schwer, die irrational anmutenden Elemente sei-ner Texte ohne weiteres anzunehmen. Denn die karibische Heimat mit ihrer spezi-fischen oralen Erzähltradition1 4 8ist es, die den Leser dazu motiviert, ungewöhnli-che Ereignisse als gegeben hinzunehmen: „Ich glaube, die Karibik hat mich gelehrt, die Realität auf andere Weise zu sehen und die übernatürlichen Elemente als einen Teil unseres täglichen Lebens zu akzeptieren.“149

Es sollte deutlich geworden sein, dass sich Glaubwürdigkeit in verschiedenen kulturellen, historischen oder geographischen Kontexten auch different konstitu-iert und so zu einer schwer definierbaren Kategorie wird. García Márquez aber nutzt für seine Erzählungen ein doppelt ausgelegtes Programm: Er legt Wert auf das für den Leser Befremdliche als konstitutiven Teil seiner Geschichten, wählt aber eine Bearbeitung, die es dem Leser unmöglich macht, sich diesem Fremden

145 Houvenaghel: Doble retórica, S. 60.

146 Ebenda.

147 „Consideraremos pues en este trabajo la verosimilitud literaria como una variable histórica determinada por la imagen ideal que el lector se ha forjado de la realidad.“ Ebenda.

148 Dabei besonders die Erzählungen seiner Großmutter, bei der er die ersten acht Jahre aufwuchs. Vgl. García Márquez: Geruch der Guayave 62 f., Irnberger: García Márquez, S. 50.

149 García Márquez: Geruch der Guayave, S. 62.

150 Etwa in der Geschichte „Tramontana“.

einfach zu entziehen. Dafür greift er auf alle ihm zur Verfügung stehenden narra-tiven Vermittlungsverfahren – sowohl journalistische Methoden als auch Distan-zierungstechniken – auf unterschiedlichen Ebenen – figurativer, handlungstech-n i s c h e r, handlungstech-narrativer uhandlungstech-nd ästhetischer Ebehandlungstech-ne – zurück, um das Erzählte zu plausibilisieren.