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Tumor-Wirt-Analogie

Im Dokument DISSERTATION. Doctoral Thesis (Seite 32-35)

6  Analogietheoretische Ansätze zur Charakterisierung des bestehenden

6.3  Tumor-Wirt-Analogie

Die Stellung der Großkonzerne als „Rechtspersonen“ im juristischen System und deren Entstehung als Formung durch politische und juristische Strukturen, legt die Betrachtung nahe, wie die komplexen adaptiven Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur über die Konzernstrukturen hinaus gedacht werden können.

Henrich (2002) meint, dass für die Tumor-Wirt-Analogie das Faktum spricht, dass ein Tumor sich in ähnlicher Weise, wie die Anthroposphäre innerhalb der Biosphäre entstanden ist, im Inneren seines Wirtes und aus dessen normalen Zellen entwickelt. 3 Lovelock (1996) hat sich ebenfalls dieser Metaphorik bedient, um den destruktiven Umgang der menschlichen Gemeinschaft mit der Ökosphäre und dessen Perspektiven zu charakterisieren:

„Die Menschen auf der Erde verhalten sich wie krankheitsauslösende Mikroorganismen oder neoplastische Krebszellen. Durch unsere hohe Zahl und die damit verbundene Störung wirken wir spürbar hinderlich, wie eine Krankheit. Wie bei einer Krankheit des Menschen gibt es vier Möglichkeiten: Zerstörung des Krankheitserregers; chronische Infektion; Zerstörung des Wirts; Symbiose, also eine Beziehung zwischen Wirt und Eindringling zu beiderlei Nutzen. Wenn Mikroorganismen oder Tumorzellen vernunftbegabt wären, würden sie merken, dass die langfristige Zukunft im vierten Zustand liegt, in der Symbiose, einer Art bindendem Vertrag zwischen zwei Partnern.“4

In der Tumor-Wirt-Analogie manifestiert sich die Idee von der Existenz einer mehr oder weniger engen Verbindung zwischen Medizin und Gesellschaftswissenschaft. Diese Idee reicht bis in die vorsokratische Zeit zurück. Im griechischen Denken haben sich die engen Verbindungen zwischen der Betrachtung des menschlichen Gesundheitszustands und der Untersuchung der politischen und sozialen Verhältnisse charakterisiert. Im Corpus hippocraticum nahmen vor allem das Kausalitätsdenken, das Modell des Widerstreits und des Konflikts verschiedener Kräfte und die Permanenz des Wandels einen wesentlichen

1 Knoflacher in Aubauer (2010), S.183

2 Korten (1995), S.193

3 Henrich (2002), S.10

4 Lovelock (1996), S.153 f.

Platz ein. Dies eröffnet die Möglichkeit nicht nur medizinisch-natürliche und gesellschaftlich-politische sondern auch ökonomische Krankheitsphänomene und Gesundheitsbedingungen mit einem einheitlichen erkenntnistheoretischen Instrument zu untersuchen.

Die Entwicklungen der entscheidenden globalen Indikatoren in den vergangenen Jahrzehnten bieten darüber hinaus wenig Anlass den Prozess der Lernfähigkeit oder des Umdenkens wesentliche Bedeutung beizumessen. Die Tumor-Wirt-Analogie soll damit aber keine Ausweglosigkeit suggerieren, sondern soll zeigen, welche Voraussetzungen zu schaffen sind, damit die Menschheit in Symbiose mit ihrer Umwelt überleben kann.

Wie mathematisch dargestellt wird, kann auch der Tumor im menschlichen (oder tierischen) Organismus behandelt werden, und damit die Überlebensfähigkeit (im Sinne einer verlängerten Lebensdauer) gesteigert werden. Diese Therapien, welche ständig verbessert werden, müssen versuchen, den Tumor auf ein verträgliches Maß zu schrumpfen und ihm dabei seine Wachstumsmöglichkeiten zu nehmen, bzw. ihn zum Absterben zu bringen. Im Weiteren wird zu zeigen sein, dass die Energieversorgung der Tumors und seiner Metastasen und damit sein Wachstum, über ein vom ihn angelegtes Versorgungsnetz erfolgt.

Warum Tumorwachstum?

Für maligne (bösartige) Tumore lassen sich drei zentrale Kriterien charakterisieren, die auch exakt das Wirtschaften globaler Konzerne beschreiben. (eine detaillierte Beschreibung findet sich im Kapitel 14 „Tumor“)

Infiltratives, invasives Wachstum

Gutartige Tumore zeigen, einer Kartoffel gleich, expansives, verdrängendes Wachstum, bösartige Tumore dringen dagegen in das umliegende Gewebe ein.

Destruierendes Wachstum

Das infiltrierte Gewebe wird mit Hilfe von Enzymen der Tumorzellen zerstört.

Metastasierung

Durch die Verschleppung von Tumorzellen im Organismus und das Anwachsen an einem dem Primärtumor fernen Ort, werden Metastasen ausgebildet, die sich in der Regel durch eine höhere Malignität und Wachstumskinetik als der Primärtumor auszeichnen.

Sind die Tumorzellen in der Lage vernünftig zu handeln? Kann diese Vernunft, universelle Zusammenhänge in der Welt und ihre Bedeutung erkennen und danach handeln. Ist dies unter den derzeitigen Rahmenbedingungen und Machtstrukturen möglich?

Anders als Lovelock (1996), der die Anthropospähre in ihrer Gesamtheit als malignen Tumor und das Populationswachstum als Primärfaktor der bedrohlichen Entwicklung betrachtet, geht McMurtry (1999) spezifisch auf das Wirtschaftssystem und das von monetären Sequenzen determinierte Weltsystem ein.1 In der deregulierten Finanzsphäre, seiner Meinung nach beginnend mit dem Jahr 1980 (und dem Zusammenbruch des ehemaligen politischen Ostblocks), sieht er den eigentlichen Tumor. Seiner These nach hat dieses erst in den letzten beiden Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts im Zuge der neoliberalen Globalisierung ein offenkundig kanzeroides Potential entfaltet. Diese pathogenen monetären

1 Vgl. Henrich (2002), S.51

Mechanismen bedrohen sowohl die gesellschaftlichen Lebens- und Entfaltungsbedingungen als auch den Fortbestand der Biospähre. 1

„Diese die Lebenszusammenhänge angreifenden Geldsequenzen sind in typischer Weise, große Mischkonzerne als belebte Medien nutzend, in ihre sozialen und natürlichen Wirtssysteme eingefallen und haben durch eine auf Leverage-Effekte und Kredite gestützte Geldnachfrage eine dominante Stellung erlang, ohne dass ein Goldstandard oder gesetzliche Reservehaltungsanforderungen ihre abgekoppelten und von Begrenzungen befreiten automultiplikativen Kreisläufe behindert hätten. Sie sind angetrieben und metastatisch ausgeweitet worden durch eine immer umfassendere Deregulierung, die das Wachstum der Geschwindigkeiten wie der Volumina der grenzüberschreitenden Transaktionen gefördert und zu neuen, proliferativen Medien und Formen der Selbstvermehrung geführt hat.“ 2

6.3.1 Merkmalskatalog für die Anwendung der Tumoranalogie

McMurtry (1999) definiert einen Merkmalskatalog, der eine zentrale Grundlage der Analyse und Argumentation dieser vorliegenden Arbeit bildet. Dieser Katalog erfasst alle wesentlichen Expansionsmerkmale des globalen Marktsystems und deckt sich in seiner Entwicklungsdynamik mit jener von Konzernen. (Infiltration, destruktives Wachstum und Metastasierung). Für die Karzinose des Erdsystems, die ausgedehnte Besiedelung mit malignen Tumoren sei charakteristisch:3

(1) eine unkontrollierte und unregulierte Reproduktion und Vervielfachung eines Agens in einem Wirtsorganismus;

(2) das keine Verbindung zu irgendeiner Lebensfunktion des Wirtssystems besitzt;

(3) das sich in aggressiver und günstige Gelegenheiten ausnutzender Weise im Rahmen ungehinderter Wachstums- und Reproduktionsprozesse Nährstoffe und Ressourcen aus seinen sozialen und natürlichen Wirtssystemen aneignet;

(4) das vom Immunsystem seiner Wirte nicht erfolgreich identifiziert wird und keine Reaktionen bei ihnen auslöst; das

(5) die Fähigkeit besitzt, sein Wachstum und seine unkontrollierte Reproduktion an weitere, über das gesamte Wirtssystem verteilte Stellen zu transferieren und metastasisch auszuweiten; das

(6) unter fortschreitender Beeinträchtigung benachbarte und entfernte Orte seiner Wirtssysteme infiltriert und in sie eindringt, bis es Schritt um Schritt die Organe der Lebenssysteme jener Orte blockiert, schädigt und/oder zerstört; und das

(7) möglicherweise die Wirtssysteme, in die es eingedrungen ist, zerstört, wenn eine wirk-same Erkennung und Reaktion des Immunsystems ausbleibt.

Wie noch gezeigt wird bildet das Kapitalsystem eine der wesentlichen Bedingungen für das scheinbar unbegrenzte Wachstum der Konzernstrukturen in den vergangenen Jahrzehnten.

McMurtry geht in seiner Analyse direkt auf die destruktive Funktion der Geldwirtschaft geprägt durch das Zinssystem ein.

1 Vgl. Henrich (2002), S.49

2 McMurtry zit. in Henrich (2002), S.49

3 McMurtry (1999) S.114

Im Dokument DISSERTATION. Doctoral Thesis (Seite 32-35)