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Physiologische Grundlagen der ToM

Bereits in der Vergangenheit wurde die restriktive Sichtweise, die menschliche Kognition sei mit einer ‚Datenverarbeitungsmaschine‘ zu vergleichen, in Frage gestellt (Shapiro, 2010). Das menschliche Verhalten in sozialen Situationen erscheint in vielen Fällen unmit-telbar und beinahe reflexartig zu funktionieren. Eines der leitenden Argumente gegen die Prämissen der traditionellen Kognitionswissenschaft lautet, dass die Umwandlung von Rei-zen aus der Umwelt in einen kognitiven Code und die darauf basierende InferenRei-zenbildung Zeit kostet. Das häufig spontane, scheinbar ‚intuitive‘ soziale Situationsverständnis des Menschen lässt sich mit Hilfe dieser Annahmen daher nicht zufriedenstellend erklären (Gal-lese, 2007, S. 659). Es muss – so neuere Annahmen – Mechanismen der unvermittelten kog-nitiven Interaktion zwischen dem Menschen und seiner Umwelt geben, die die entsprechen-den menschlichen Handlungsmuster begrünentsprechen-den. Solche ‚direkten‘ Formen der Kognition werden unter dem Dach des Begriffes ‚Embodied Cognition‘ genauer untersucht. Lawrence Shapiro schreibt über die grundsätzlichen Annahmen dieser Theorien:

In summary, the […] ideas […] of embodied cognition are intended to mark a shift away from thinking of the body as a mere container for the brain, or, slightly better, a contributor to the brain’s activities, and toward recognizing

the body as the brain’s partner in the production of cognition. The body en-corporates passive dynamics, structures information, and determines unique sensory signatures that help to create perceptual experience. (Shapiro, 2010, S. 66)

Es ist möglich, dass auch die Funktionalität der ToM mit Hilfe solcher Ansätze schlüssig beschreiben lässt. Diese Annahme wird vor allem durch die Entdeckung der sogenannten

‚Spiegel-‘ Neuronen, einer spezielle Neuronengruppe im F5-Bereich des Prämotorischen Cortex, gestützt. Rizzalotti und seine Kollegen stellten im Zuge einer Studie zum Hand-lungsverstehen von Primaten fest, dass diese (in ihrem Fall Makaken) über eine spezielle Gruppe von Neuronen verfügen, die sowohl dann aktiv ist, wenn das Testsubjekt eine Hand-lung ausführt als auch dann, wenn es diese HandHand-lung lediglich beobachtet (Rizzolatti, Fa-diga, Gallese & Fogassi, 1996). Basierend auf diesem Befund formulierten sie die Hypo-these, dass diese besondere Neuronengruppe dazu dient, motorische Aktivität zu ‚repräsen-tieren‘. Spiegelneuronen bilden eine geeignete neurophysiologische Grundlage dafür, eine kognitive Verbindung zwischen beobachteten und selbst ausgeführten Handlungen herzu-stellen. Auch beim Menschen ist die Existenz und Funktion dieser Neuronengruppe mittler-weise gut dokumentiert.19 Das bedeutet wiederum, dass Spiegelneuronen ebenfalls bei der Dekodierung von handlungsmotivierenden mentalen Haltungen eine zentrale Rolle spielen könnten (Gallese & Goldman, 1998). Im Zuge der genaueren Erforschung der Eigenschaften dieser Neuronengruppe wurden einige Indizien dafür, dass diese Vermutung richtig ist, sichtbar. So konnte z. B. nachgewiesen werden, dass Spiegelneuronen nicht nur dann aktiv sind, wenn ein Testsubjekt visuellen Zugang zu vollständig ausgeführten Handlungen hat.

Auch wenn den Testteilnehmern unvollständige Handlungen gezeigt wurden, ließ sich die Aktivität dieser Neuronen nachweisen (Umiltà, Kohler, Gallese, Fogassi, Fadiga, Keysers

& Rizzolatti, 2001). Das bedeutet, dass Spiegelneuronen nicht allein die visuellen Eigen-schaften einer Handlung repräsentieren, sondern gleichzeitig implizierte Handlungsziele

‚spiegeln‘. Umiltà und ihre Kollegen schreiben: „This implies that the motor representation of an action performed by others can be internally generated in the observer's premotor cor-tex, even when a visual description of the action is lacking“ (ebd., S. 155). Wenn Spiegel-neuronen es erlauben, Handlungsziele an Hand von beobachteten Teilhandlungen zu erfas-sen, dann bilden sie ebenfalls eine geeignete Grundlage zur Antizipation zukünftiger

19Eine Zusammenfassung des empirischen Forschungsstandes findet sich bei Caramazza, Anzellotti, Strnad

& Lingnau (2014) und Cook, Bird, Catmur, Press & Heyes (2014).

führender Handlungsschritte und zur Herleitung von mentalen Haltungen, die mit dem ent-sprechenden Handlungsziel verbunden sind (Gallese, 2007, S. 662). Gleichzeitig, so vermu-tet Gallese, ist ein solches Handlungsverständnis mit einem ‚Abgleich‘ eigener Erfahrungs-werte im Zusammenhang mit vergleichbaren Handlungsmustern verbunden. Die Interpreta-tion zielgerichteter, intenInterpreta-tionaler Handlungen ist jedoch nicht der einzige Bereich der ToM, der mit Hilfe von Spiegelneuronen zu erklären ist. Auch das menschliche Verständnis frem-der Emotionen lässt sich so besser verstehen. Wicker et al. konnten belegen, dass sowohl die Beobachtung typischer mimischer Äußerungen von Emotionen (in diesem Fall ‚Ekel‘) als auch das Empfinden derselben Emotion durch die entsprechende Neuronengruppe ‚gespie-gelt‘ wurden.Sie folgerten aus dieser Beobachtung: „Thus, as observing hand actions acti-vates the observer's motor representation of that action, observing an emotion actiacti-vates the neural representation of that emotion. This finding provides a unifying mechanism for un-derstanding the behaviors of others“ (Wicker, Keysers, Plailly, Royet, Gallese & Rizzolatti, 2003, S. 655).

Mit Hilfe der neuronalen Simulation wahrgenommener Handlungen oder Emotionen (‚em-bodied simulation mechanism‘) und dem damit einhergehenden verinnerlichten Zugriff auf die Handlungen anderer können außerdem eigene Erfahrungen abgerufen werden. Men-schen versetzen sich auf diese Weise ‚in die Schuhe‘ des Handelnden (Gallese, 2007, S. 662). Gallese nennt diesen Vorgang ‚intentional attunement‘. Seine These lautet: „A di-rect form of experiential understanding of others, ‚intentional attunement‘, is achieved by modeling their behavior as intention experiences on the basis of activation of shared neural systems underpinning what the others do and feel and what we do and feel“ (Gallese, 2006, S. 15).

ToM und rekursive Syntax

Spiegelneuronen, die sich beim Menschen u. a. im Prämotorischen Kortex und der Parietal-rinde nachweisen lassen, bilden die neurophysiologische Grundlage dafür, dass wir intenti-onale Handlungen und Teilhandlungen repräsentieren können (Buccino et al., 2001). Wenn Teilhandlungen beobachtet werden, (z. B. eine Person A greift nach einer Tasse), die in vollständige Handlungen (z. B. A greift nach einer Tasse, führt sie zum Mund und trinkt) eingebettet sind, dann innitiiert das neuronale Aktivitätsmuster die kognitive Repräsentation der vollständigen Handlung und nicht ausschließlich der beobachteten Teilhandlung.

Dadurch sind Spiegelneuronen zur Antizipation von Handlungszielen dienlich. Mit Hilfe des

angenommenen Handlungszieles lassen sich wiederum die motivierenden mentalen Haltun-gen herleiten (z. B. A ist durstig und möchte deshalb etwas trinken). Die Auswahl möglicher Handlungsziele basiert laut Gallese möglicherweise auf einer Evaluation der Kontextinfor-mationen und einer ‚statistischen‘ Einschätzung des wahrscheinlichsten Zieles der beobach-teten Handlungen:

The statistical frequency of act sequences, as they are habitually performed or observed in the social environment, could constrain preferential paths of act inferences/predictions. This could be accomplished by chaining together different motor schemata. At the neural level, this would be equivalent to the chaining of different populations of mirror neurons coding not only the ob-served motor act, but also those that would normally follow in a given con-text. (Gallese, 2007, S. 662)

Damit sind jedoch noch nicht alle Funktionen der Spiegelneuronen erfasst. Friederici et al.

konnten mittels einer fMRI-Studie nachweisen, dass phylogenetisch jüngere Bereiche des Prämotorischen Kortex (spezifisch: das Broca-Areal BA 44) dann aktiv sind, wenn hierar-chisch strukturierte (rekursive) Satzgebilde prozessiert werden. Im Gegensatz dazu werden einfache Satzgebilde hingegen auch in älteren Arealen des Gehirns, die wir mit Primaten teilen, prozessiert. Die Eigenschaft der Neuronen des Präfrontalen Kortex, die kognitive Re-präsentation von Sequenzen und eingebettete Strukturen initiieren zu können, bildet aus evo-lutionärer Sicht den Grundstein für ein elaboriertes Kommunikationssystem, mit dessen Hilfe nicht nur einfache Sätze, sondern auch komplexe Satzgefüge (z. B. Sätze mit einge-betteten Satzteilen) kognitiv ausgewertet werden können (Gallese, 2007, S. 666; Hauser, Chomsky & Fitch, 2002, S. 1578). Hauser et al. stellen aus diesem Grund die Hypothese auf, dass es sich bei der Fähigkeit, rekursive syntaktische Sätze zu bilden und zu verstehen, um das zentrale Alleinstellungsmerkmal der menschlichen Spezies hinsichtlich des Sprachver-mögens handelt. Während Primaten dazu in der Lage sind, einfache Satzsequenzen zu erler-nen und zu verstehen, gelingt es iherler-nen – im Gegensatz zum Menschen – nicht, rekursive Strukturen kognitiv zu erfassen. Rekursive Sätze zeichnen sich dabei nicht nur durch eine Struktur der Einbettung von untergeordneten Satzteilen in übergeordnete Satzteile aus. Um solche Sätze verstehen zu können, ist es ebenfalls wichtig, die semantische Relation, in de-nen die eingebetteten Satzteile sich auf die übergeordneten Satzteile beziehen, zu bewerten.

Ein solches Verständnis ist ein entscheidender Bestandteil des menschlichen Sprachvermö-gens und gestattet uns, Sätze wie [Der Junge, (den das Mädchen ansah), war groß.] zu bilden und zu verstehen (Frederici, Bahlmann, Heim, Schubotz & Anwander, 2006). Dieser Satz enthält im Ganzen zwei Subjekte – einen Jungen und ein Mädchen. Dank der Fähigkeit die

beiden Satzteile entsprechend den grammatischen Markern (hier z. B. anhand der Verwen-dung der grammatischen Fälle) zu interpretieren, können wir problemlos verstehen, wer laut dieser Aussage wen ansieht und wen von beiden das Adjektiv ‚groß‘ betrifft. Das Hirnareal, das mit diesen Fähigkeiten in Verbindung gebracht werden konnte ist das Broca-Areal:

[…] Broca's area, due to its premotor origin, is involved in the assembly of meaningless sequence of action units (whether finger or phonoarticulatory movements) into meaningful representations. This elaboration process may proceed in two directions. In production, Broca's area recruits movement units to generate words/hand actions. In perception, Broca's area […] ad-dresses the vocabulary of speech/hand actions, which form the template for action recognition. Our hypothesis is that, in origin, Broca's area precursor was involved in generating/extracting action meanings by organizing/inter-preting motor sequences in terms of goal. Subsequently, this ability might have been generalized during the evolution that gave this area the capability to deal with meanings (and rules), which share similar hierarchical and se-quential structures with the motor system. (Fadiga at al., 2006, S. 87)

Die Fähigkeit, rekursive Satzstrukturen zu bilden und zu verstehen, führt dazu, dass wir mit-tels einer begrenzten Anzahl bedeutungstragender Zeichen eine potenziell unendliche Menge unterschiedlicher komplexer Strukturen erstellen können, die sich in ihrer Bedeutung systematisch voneinander unterscheiden. Chomsky schreibt: „Human language is based on an elementary property that also seems to be biologically isolated: the property of discrete infinity […]“ (Chomsky, 2000, S. 3). Damit ist jedoch eine theoretische (potenzielle) Un-endlichkeit gemeint, deren Realisierung im Rahmen tatsächlicher sprachlicher Äußerungen durch allgemeine kognitive Verarbeitungskapazitäten begrenzt wird.

Die Ergebnisse der überwiegend empirischen Studien, die in diesem Abschnitt genannt wur-den, legen den Schluss nahe, dass bestimmte Bereiche des Premotorischen Kortex uns dazu befähigen, Handlungssequenzen zu strukturieren. Dies geschieht mit Hilfe von generierten und abrufbaren Aktivitätsmustern von Spiegelneuronen. Wird ein solches Muster ‚erkannt‘, ist es wiederum möglich, passende Handlungsziele und motivierende mentale Haltungen zu assoziieren. Gleichzeitig weisen die Ergebnisse einiger bildgebender Studien darauf hin, dass dieses spezifische Neuronensystem gleichzeitig die Grundlage dafür ist, dass Menschen rekursive syntaktische Strukturen bilden und verstehen können. Dies gestattete es dem Men-schen im Zuge der Evolution ein sehr viel komplexeres Kommunikationssystem auszubil-den, als seine nächsten Verwandten – die Primaten. Die Fähigkeit, komplexe miteinander verkettete mentale Haltungen in einem sozialen Kontext zu dekodieren und für ein soziales

Handlungsverständnis zu nutzen, ist ebenfalls ein evolutionäres Alleinstellungsmerkmal des Menschen und zeichnet sich ebenfalls durch rekursive kognitive Strukturen aus. Dies führt zu der Überlegung, dass zwei unterschiedliche soziale Kompetenzen des Menschen – die menschliche Sprache und die elaborierte ToM gesunder Erwachsener – zumindest zum Teil auf denselben neuronalen Mechanismen beruhen. Das ist ein weiteres Indiz im Sinne der in einem früheren Abschnitt dieser Arbeit referierten empirischen Ergebnisse, die auf einen Zusammenhang zwischen der ToM und den menschlichen Fähigkeiten, syntaktische Satz-konstruktionen zu entschlüsseln, hindeuten. Die Rekursivität der menschlichen Syntax fin-det hier ein strukturell analoges Äquivalent in der Rekursivität der ToM gesunder Erwach-sener. Sie ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass ein Verstehen selbstbezüglicher oder ein-gebetteter mentaler Haltungen (‚Ich denke, dass ich denke‘ Oder: ‚Ich denke, dass Du denkst, dass ich möchte, dass… ‘ usw.) bis zu einem gewissen Grad der Komplexität prob-lemlos möglich ist (Liddle & Nettle, 2006). Daher liegt die Vermutung nahe, dass aufgrund der strukturellen Parallelen der involvierten kognitiven Verstehensprozesse dieselben Me-chanismen zum Einsatz kommen können. Auf physiologischer Ebene sind Spiegelneuronen eine wahrscheinliche kognitive Ressource, die diese Prozesse ermöglichen und lenken.