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Die Imaginationsleistung und der eigene Standpunkt gegenüber der

Köppe bezeichnete den fiktionalen Text als „Grundlage für eine imaginative Auseinander-setzung mit dem Dargestellten“ (Köppe, 2015, S. 35). Das bedeutet: Wenn ein Leser den Text als fiktional eingestuft hat, erkennt er u. a. auch die Aufgabe an, sich das dargestellte Geschehen vorzustellen. Bereits mit Blick auf die Entwicklung des kindlichen Fiktionsspiels (Kapitel 2.3 dieser Arbeit) wurde ein solcher Mechanismus beschrieben. Er liegt laut Ra-koczy (2008, S. 1195) in der Fähigkeit begründet, institutionelle Regeln zu bilden und sich situationsabhängig ihnen zufolge zu verhalten. Dieser Gedanke, der von Rakoczy im Kon-text der Entwicklungspsychologie aufgegriffen wird, baut u. A. auf älteren Überlegungen von Kendall Walton auf, die mit besonderem Fokus auf die Produktion und Rezeption sämt-licher darstellender Kunstwerke formuliert wurden (u. A. Walton, 1990, S. 11). Waltons grundlegende Annahme lautet, dass sich die Fiktionswahrnehmung im Rahmen des kindli-chen pretend play und die Fiktionswahrnehmung von darstellenden Kunstwerken in ent-scheidenden Punkten ähnlich sind (Walton, 2007, S. 100). Beide Tätigkeiten, sowohl die Beschäftigung mit darstellenden Kunstwerken als auch die Teilnahme am Fiktionsspiel, ge-nerieren ihm zufolge Regeln, die im jeweiligen Kontext gültig sind. Gleichzeitig werden bestimmte Propositionen stipuliert: Im Kontext von Fiktionswelt A gilt z. B., dass X wahr

ist und Y nicht wahr ist. Im Kontext von Fiktionswelt B gilt hingegen, dass Y und Z wahr sind.

Generiert werden solche Propositionen und Regeln im Fall des Fiktionsspiels u. a. durch die Verwendung von Requisiten, die Walton Props nennt (z. B. ein Ast, den ein Kind im Rah-men einer Spielepisode zu einem Schwert ‚uminterpretiert‘). Dabei stehen die Eigenschaften eines realen Gegenstandes in direktem Zusammenhang mit seiner imaginierten Funktion in-nerhalb der Fiktionswelt. Die Propositionen, die einen fiktionalen Text konstituieren, sind laut Walton ähnlich zu verstehen wie die innerhalb des Fiktionsspiels verwendeten Requisi-ten: Eine zentrale Gemeinsamkeit zwischen spielerischen Requisiten und fiktionskonstituie-renden Propositionen ist z. B. ihre respektive Eigenschaft, eine Person dazu anleiten zu kön-nen, sich etwas vorzustellen. Mit Waltons eigenen Worten:

Representations, I have said, are things possessing the social function of serv-ing as props in games of make-believe, although they also prompt imaginserv-ings and are sometimes objects of them as well. A prop is something which, by virtue of the conditional principles of generation, mandates imaginings. Prop-ositions whose imaginings are mandated are fictional, and the fact that a given proposition is fiction is a fictional truth. Fictional worlds are associated with collections of fictional truths; what is fictional is fictional in a given world – the world of a game of make-believe, for example, or that of a representa-tional work of art. (Walton, 1990, S. 69)32

Ähnlich wie Kinder im Zuge des Fiktionsspiels folgen Leser fiktionaler Texte dem Auftrag, sich etwas vorzustellen. Dieser Auftrag ist nicht vollständig frei, sondern als regelgeleitet zu verstehen, da die lexikalischen und strukturellen Eigenschaften der Propositionen eines Tex-tes (wie die Requisiten im Fiktionsspiel) Leser dazu ‚anleiten‘ sich etwas BestimmTex-tes in bestimmter Form vorzustellen.33 Lesern stehen also, wie hier von Walton beschrieben, die Menge aller vom Autor verwendeten Propositionen zur Beschreibung einer bestimmten Fik-tionswelt zur Verfügung, um das Grundgerüst einer imaginativen Welt kognitiv zu errichten (die Fiktionswelt kognitiv zu modellieren). Zu einer auf diese Weise generierten kognitiven Repräsentation einer Fiktionswelt nehmen Spielteilnehmer wie Leser laut Walton eine be-stimmte kognitive Haltung ein, wobei sie ‚so tun als ob‘ die entsprechenden imaginativen

32 Alle Hervorhebungen im Original.

33 Inwiefern empirische Leser diese Anleitung umsetzen kann an dieser Stelle mit den zur Verfügung stehen-den Mitteln nicht untersucht werstehen-den. Diese Frage bleibt deshalb zukünftigen empirischen Arbeiten vorbehal-ten.

Inhalte im Kontext der Fiktionswelt wahr seien. Es ist für einen Leser im Rahmen der Fikti-onswelt von Gullivers Travels (1726) beispielsweise wahr, dass es eine Gesellschaft aus sehr kleinen Menschen gibt, die deshalb Krieg miteinander führen, weil sie sich uneinig sind, an welchem Ende ein Ei richtigerweise aufgeschlagen werden muss (ebd. S. 102). Die Imagi-nationsleistung, die dem Fiktionsspiel und der Beschäftigung mit Kunstwerken zu Grunde liegt, geht also damit einher, dass wir den Bezug zu Relatität, der überlicherweise unserer kognitive Informationsverarbeitung lenkt, teilweise oder ganz ‚suspendieren‘. Kinder kön-nen während einer Spielepisode beispielsweise die reale Eigenschaft eines Astes, zwei Spit-zen zu haben, zu Gunsten der fiktiven Eigenschaft des imaginären Schwertes, nur eine Spitze zu haben, suspendieren. Parallel dazu suspendieren die Leser von Gullivers Travels ihr Wis-sen, dass es in Wirklichkeit keine Gesellschaft aus sehr kleinen Menschen gibt, die einen Krieg führen, weil sie sich uneins darüber sind, an welchem Ende ein Ei richtigerweise auf-geschlagen werden muss. Während die Behauptung, es gäbe eine solche Gesellschaft im Raum der imaginierten Fiktionswelt also wahr ist, ist sie im Raum der wirklichen Welt nicht wahr. Ein Leser muss beide Welten kognitiv trennen. Das gelingt, indem er (zeitlich be-grenzt) lediglich ‚so tut als ob‘ die fiktive Proposition wahr sei. Da er nur so tut, als sei sie wahr, beeinflusst sie die eigene Überzeugung oder das Wissen über die Realität nicht oder nur mittelbar. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wenn ein Kind im Rahmen eines Fik-tionsspiels einen imaginären Regenschirm aufspannt, führt dies nicht automatisch zu der Überzeugung seines Spielpartners es regne tatsächlich.34 Ein Kind, das an einer Episode des Fiktionsspiels teilnimmt, stellt sich vor, Teil der Fiktionswelt zu sein. Es stellt sich vor, dass es selbst den Regenschirm aufspannt oder selbst ‚gegen den Bären kämpft‘. Es stellt sich vor, Handlungen auszuführen, die es in der Wirklichkeit nicht ausführt bzw. lediglich mit Hilfe von Requisiten simuliert. Das bedeutet, dass im Rahmen des Fiktionsspiels oder wäh-rend der Lektüre eines fiktionalen Textes eigene Perspektiven und Emotionen im Bezug auf das literarisch dargestellte oder im Ragmen des Fiktionsspiels stipulierte Geschehen kogni-tiv generiert werden können. Ein Kind, das sich in seiner Vorstellung also einem Bären ent-gegenstellt, generiert fiktionale Wahrheiten über sich selbst, womit das Kind selbst zu einem imaginativen Teil der eigenständig erschaffenen Fiktionswelt wird (ebd., S. 213). Ähnliches gilt für die Beschäftigung mit darstellenden Kunstwerken. Auch ein darstellendes Kunst-werk lädt dazu ein, die dargestellten Ereignisse, Figuren und Gegenstände, die nicht Teil der Realität sind, ‚zu betrachten‘. Besonders aufschlussreich ist hier das von Walton gewählte

34 Vorausgesetzt es handelt sich um einen gesunden und entsprechend weit entwickelten Menschen, der ver-steht, dass die gesehene Handlung im Kontext einer Spielepisode steht.

Beispiel des Betrachters eines Gemäldes, das eine Landschaft zeigt (ebd., S. 215 f.). Walton argumentiert: „The museum goer who looks at Willem Van der Velde’s landscape Shore at Sheveningen […] in the normal manner makes it fictional of himself that he is looking at a group of sailing ships approaching a beach on which there is a horse-drawn cart“ (ebd., S. 215).35 Waltons Museumsbesucher nimmt also nicht nur wahr, dass er in einem Museum steht und ein Bild betrachtet, das eine bestimmte Landschaft zeigt, er kann sich ebenfalls vorstellen, die dargestellte Szenerie selbst zu betrachten. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass der Betrachter des Bildes damit zu einem tatsächlichen Teil des Bildes werden muss. Er kann sich allerdings vorstellen, die Szenerie so wahrzunehmen, als sei er selbst Teil der Fiktionswelt. Ähnliches gilt für den Leser eines fiktionalen Werkes, der nicht tat-sächlich miterlebt, wie Ahab Jagd auf den weißen Wal macht, der sich aber vorstellen kann, Ahab dabei zu beobachten, wie er Jagd auf den weißen Wal macht. Wenn dies der Fall ist, dann hätte diese Form der ‚aktiven Imagination‘ wichtige Konsequenzen für die involvierten kognitiven Prozesse, die an der Fiktionsrezeption beteiligt sind.

Wenn wir uns mittels unserer Imagination in eine bestimmte fiktive Situation hineinverset-zen, dann ist es möglich, dass damit eine emotionale Beteiligung einhergeht, die mit der emotionalen Beteiligung an realen Situationen vergleichbar ist. Die Frage, die sich Walton stellt, lautet, ob die einer fiktiven Situation empfundenen Emotionen identisch mit denjeni-gen sind, die wir gedenjeni-genüber einer realen Situation empfinden. Schließlich ist der Bezugsrah-men, der die Emotion auslöst, jeweils ein anderer. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass, um einer Fiktion gegenüber eine Emotion zu generieren, eine Imaginationsleistung vorausgesetzt ist. Ein Leser muss einer Figur nicht nur bestimmte mentale Haltungen zu-schreiben, er muss sich diese Figur erst vorstellen, um ihr dann eine bestimmte mentale Hal-tung zuschreiben zu können. Walton schließt daraus, dass ein Leser nicht tatsächlich an einer fiktionalen Situation emotional teilhat, sondern lediglich in seiner Vorstellung Angst, Mit-gefühl, Schrecken o. Ä. erlebt. Allerdings stehen ihm für die Simulation dieser Vorgänge im Rahmen der Fiktionswelt teilweise dieselben kognitiven Ressourcen zur Verfügung wie im Rahmen der realen Welt. Damit sind die mentalen Vorgänge, die ein Leser in die Imagina-tionswelt hineinträgt, zwar nicht identisch mit denjenigen, die sich auf die reale Welt bezie-hen, sie basieren aber zum Teil auf den gleichen kognitiven Vorgängen. Mit Waltons Worten:

35 Hervorhebungen durch den Autor.

We do not actually […] grieve for Anna Karenina […] nor do we feel con-tempt for Iago or worry for Tom Sawyer and Becky lost in the cave. But it is fictional that we do. It is fictional, when we appreciate novels, plays, films, and paintings that we feel compassion, exasperation, indignation, and so on […]. And these fictional truths are generated in a similar manner – in part by our actual mind. (Ebd., S. 249 f.)

Damit sind Leser bei der Lektüre eines fiktionalen Textes im Rahmen ihrer eigenen Imagi-nation insofern aktiv, als sie ihre kognitiven Ressourcen dazu einsetzen, innerhalb der Fik-tionswelt angemessene eigene emotionale Reaktionen oder Überzeugungshaltungen zu ge-nerieren. Walton selbst betont, dass die kognitiven Vorgänge im Fall der Imagination und mit Bezug zur realen Welt nicht identisch sind, sich aber zum Teil überschneiden. Er sagt:

„I have emphasized the separation between our actual mental lives and the mental lives we lead in the worlds of our games of make-believe. But although they are distinct, there is substantial overlap between them“ (ebd., S. 252). Wenn emotionale und mentale Haltungen gegenüber fiktionalem Geschehen tatsächlich von denjenigen zu unterscheiden sind, die im Zuge realer Interaktionen entstehen zu unterscheiden sind, dann stellt sich die Frage, wie sie zu charakterisieren sind und wie sie entstehen. Eine Möglichkeit wäre, dass wir als Leser oder Teilnehmer eines Imaginationsspiels simulieren oder herleiten, wie wir uns als Be-obachter einer vergleichbaren realen Situation fühlen. Damit wäre die eigene Emotion ge-genüber der fiktiven Situation eine attribuierte Emotion. Ähnlich wie wir anderen im Rah-men realer Interaktionen mit Hilfe der ToM emotionale Vorgänge zuschreiben, können wir mit Hilfe der selben Mechanismen herleiten oder simulieren, wie wir in einer bestimmten Situation empfinden würden und uns diese emotionale Haltung selbst zuschreiben. Wenn das eigentliche instinktive Empfinden als Emotion erster Stufe beschrieben wird, dann würde es sich im Fall der Emotion einer fiktiven Situation gegenüber um eine Emotion zwei-ter Stufe handeln, die durch die voranstehende imaginative Kognitionsleistung geleitet wird.