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Einführung – Inhalt und bestehende Forschungsschwerpunkte

Worum geht es in Gehen? In Bernhards kurzem Erzählstück werden die Gespräche von ver-schiedenen Figurenpaaren dargestellt, die in verver-schiedenen Konstellationen zu verschiede-nen Zeitpunkten miteinander spazieren gehen. Im Zuge dieser Gespräche wird gleichzeitig eine kurze, zentrale Ereignisfolge rekonstruiert. Genauer gesagt: Gegenstand des Erzählstü-ckes Gehen (1971)63 sind drei verschiedene Gesprächssituationen, an denen insgesamt fünf fiktive Personen (Oehler, Karrer, Scherrer, der Textilverkäufer Rustenschacher und der na-menlose Ich-Erzähler) beteiligt sind. Darüber hinaus sind zwei weitere fiktive Charaktere (Hollensteiner und dessen Schwester) Gegenstand der einzelnen Gespräche, ohne während der dargestellten Handlungen ‚anwesend‘ zu sein. Im Rahmen der evozierten Unterhaltun-gen entsteht Raum für Diskurse über sprachphilosophische Themen, die mit intertextuellen Verweisen (u. a. auf die Arbeiten Ludwig Wittgensteins und Ferdinand Ebners) einhergehen.

Im Verlauf der verschiedenen Unterhaltungen wird ebenfalls eine kurze Ereignisfolge (die Begegnung im rustenschacherschen Laden und Karrers anschließendes Verrücktwerden) re-kapituliert. Die gewählte Erzählform und Darstellung der Gespräche soll an späterer Stelle genauer beschrieben werden soll. Das erste, ‚äußere‘ Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und Oehler bildet den Rahmen für die rückblickende Rekonstruktion von zwei weiteren Un-terhaltungen aus der Vergangenheit. An der zweiten (im Verlauf des ‚Rahmen‘- Gespräches rekonstruierten) zeitlich zurückliegenden Unterhaltung nehmen hauptsächlich Karrer und Oehler, später auch für kurze Zeit der Textilverkäufer Rustenschacher, teil. Im Anschluss an eine Konfrontation mit dem Textilverkäufer, der laut Karrer anstatt erstklassiger englischer Stoffe tschechoslowakische Ausschussware mit ‚merkwürdigen, schütteren Stellen‘ ver-kauft, verfällt Karrer dem Wahnsinn. Er wird anschließend in eine psychiatrische Heilan-stalt, weshalb er an den gewohnten Spaziergängen mit Oehler nicht mehr teilnehmen kann.

Der namenlose Erzähler übernimmt infolgedessen die vakante Rolle des Spaziergängers an Oehlers Seite. So entsteht der Rahmen für die (zeitlich gesprochen) gegenwärtige (Rahmen-) Unterhaltung zwischen dem Ich-Erzähler und Oehler, in die die Schilderung aller weiteren

63 Die für diese Arbeit verwendete Ausgabe ist die folgende: Bernhard, T. (2013). Gehen. Frankfurt am Main:

Suhrkamp (nachfolgend zitiert als ‚GN‘).

Gespräche eingebettet ist. Die dritte, ebenfalls eingebettete Unterhaltung, von der im Rah-men des ‚RahRah-men‘- Gespräches zwischen dem Erzähler und Oehler die Rede ist, findet zwi-schen Oehler und Scherrer, Karrers behandelndem Psychiater, im Anschluss an dessen Ein-lieferung statt. Der Anlass ist die Suche nach einer möglichen Ursache für Karrers Verrückt-werden. Oehler begründet dies in diesem Kontext u. a. mit Karrers extensiven und ergebnis-losen Grübeleien über das Denken selbst (vgl. GN, S. 73 f.).

Die Menge der Forschungsliteratur, die sich mit Thomas Bernhards Kurzprosastück Gehen beschäftigt, ist – womöglich aufgrund des jungen Alters und geringen Umfangs des Werkes – vergleichsweise klein. Dennoch möchte ich (wie auch schon im Fall der Njáls Saga) die Ansätze und Hypothesen der vorliegenden Arbeiten als Anhaltspunkt für auffällige und cha-rakteristische Textmerkmale nutzen. Einen wichtigen Beitrag leistete Claudia Albes (1999) mit ihrer Dissertationsschrift Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. Ihre Untersuchungen gel-ten der Verbindung zwischen Form und Inhalt der Narration mit dem Ziel, „[…] die immer noch weitgehend dunkle Beziehung zwischen literarischen Aussageprozessen (dem Erzäh-len) und dem literarisch Ausgesagten (der Erzählung)“ (Albes, 1999, S. 12) zu erhellen. Al-bes untersucht in diesem Zusammenhang Texte, die vom Spazierengehen handeln und zu-gleich, mit ihren Worten, ‚spaziergängerisch erzählt‘ sind (ebd.). Ihre Arbeit folgt der Frage, inwiefern literarische Erzählverfahren durch die Merkmale einer Tätigkeit – nämlich die des Spazierengehens – modelliert werden. Mit Thomas Bernhards Gehen analysiert sie einen Text, in dem der Spaziergang zugleich ein zentrales Motiv der Handlung ist. Im Vergleich mit anderen Forschungsbeiträgen, die sich mit diesem Motiv beschäftigen, folgt ihre zwei-teilige Textanalyse hauptsächlich der Frage nach dem ästhetischen Prinzip, das Form und Inhalt des Werkes verbindet. Albes betont, dass Bernhards Text einen besonders markanten Meilenstein in der Geschichte der ‚Spaziergänger‘-Texte bildet, da er „[…] die in diesen Texten angelegten poetologischen Möglichkeiten bündelt und reflektiert“ (ebd. S. 312). Ge-hen thematisiert die Schwierigkeit, Sinn sprachlich zu vermitteln, nicht nur inhaltlich, son-dern bildet sie gleichzeitig auf struktureller Ebene mit der Wahl der narrativen Form und den zahlreichen repetitiven sprachlichen Elementen und Mustern ab. Albes Beobachtungen be-züglich der narrativen Form und der besonderen sprachlichen Struktur des Werkes bilden eine wichtige Grundlage für die Analysen im Kontext der hier relevanten Forschungsfrage, da hier bereits eine Reihe auffälliger struktureller und ästhetischer Merkmale des Textes beschrieben werden. Die von ihr geleisteten Analysen dieser Merkmale stehen allerdings im Fokus einer ästhetischen Fragestellung, so dass sie hier – im Rahmen einer kognitivistisch

orientierten Arbeit – lediglich als Quelle für Hinweise auf die wesentlichen strukturellen und inhaltlichen Merkmale des Textes dienlich sind.

Auch Jonathan James Long (2001, S. 3) stellt im Rahmen seiner Monographie The novels of Thomas Bernhard. Form and its function die Frage, inwiefern die Werke Thomas Bernhards das Problem der narrativen Vermittlung von Inhalten selbst thematisieren. Seine These lau-tet, dass Bernhards Werke die Referenzproblematik von sprachlichen Zeichen nicht nur in-haltlich erwähnen, sondern auch auf formaler Ebene spiegeln. Long beschreibt Bernhards Poetik als ein Konzept der ‚Analogie‘, wobei sich der Referenzcharakter sprachlicher Zei-chen auf der Darstellungsebene verschiedener Werke dieses Autors spiegelt. Das dadurch aufgeworfene Problem des besonderen Zusammenhangs von Sprache und Denken ist – als eine Konsequenz davon – ein häufiges Thema in Bernhards Werken (ebd.). Zu dem Werk Gehen selbst finden sich in Longs Monographie nur wenige Ausführungen. Hilfreich im gegenwärtigen Kontext ist allerdings sein Hinweis auf die eng verknüpfte Thematisierung und strukturelle Reflexion der Referenzproblematik sprachlicher Zeichen. So wechselt die Referenz feststehender sprachlicher Zeichen (insbesondere von Personalpronomina) in Ge-hen an vielen Stellen. An anderen Stellen wird wie gebrocGe-hen oder gar aufgehoben.64 Das wirft die an späterer Stelle zu klärende Frage auf, ob und inwiefern dies die online Rezeption des Werkes und die kognitive Verarbeitung der gegebenen Informationen während der Lek-türe beeinflusst.

Michael Billenkamp (2008) legte mit seiner Monographie Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis eine umfassende Analyse des Gesamtwerkes des Autors vor. Er ver-folgt in dieser Arbeit das Ziel, das Werk Thomas Bernhards mit Hilfe eines hermeneutischen Ansatzes zu klassifizieren und den individuellen Werdegang des Autors als Künstler nach-zuzeichnen. Die im Rahmen seiner Analysen gewonnenen Erkenntnisse nutzt Billenkamp zur Erarbeitung eines poetologischen Gesamtprogramms, das dem Autor zugeschrieben wird, wobei er die wichtigsten Themenkomplexe sowie formelle und konzeptionelle Aspekte von Bernhards einzelnen Werken zusammenstellt (Billenkamp, 2008, S. 18). Vor allem Bil-lenkamps Überlegungen zur Ich-Konstruktion der für das Frühwerk Bernhards typischen anonymen Erzählinstanz und zum Kunstcharakter der verwendeten Sprache sind im Hin-blick auf die in dieser Arbeit gestellten Fragen relevant. Es stellt sich auch hier die Frage,

64 Beispielhafte Textpassagen, in denen sich dies wiederfindet nenne ich an relevanter Stelle im Zuge der Analyse.

wie sich die Strategie der Konfiguration und Konstruktion der Erzählinstanz auf die kogni-tive Rekonstruktion durch einen Leser auswirkt. Billenkamp unterstreicht die Beobachtung, dass das berichtende ‚Ich‘ im gesamten Werk Bernhards häufig nur den Vermittlungspart zwischen Lesern und den Protagonisten der Texte übernimmt. Herkunft, Identität und Status dieses ‚Ichs‘ bleiben dabei zumeist im Dunkeln und die Funktion der Erzählinstanz be-schränkt sich ihm zufolge häufig lediglich auf das kommentarlose Protokollieren der Sätze eines Gegenübers (ebd. S. 190). Billenkamps Schlussfolgerung hinsichtlich einer möglichen Wirkung dieser narrativen Strategien auf den Leser, der sich mit einer solchen Erzählinstanz konfrontiert sieht, lautet:

Auf diese Weise fördert Bernhard nicht nur die Distanzierung des Lesers ge-genüber dem Erzählten, sondern unterbindet auch die Möglichkeit einer iden-tifikatorischen Rezeption. […] Erschwert wird dies dadurch, dass der Rezipi-ent auf die subjektiven Eindrücke und Wahrnehmungen der Protokollanten angewiesen ist, die den Texten einen spekulativen Gestus verleihen. Sich von einzelnen Figuren oder Geschehnissen ein neutrales oder objektives Bild zu machen, erscheint insofern unmöglich. (Ebd.)

Aus der Sicht einer kognitivistischen Untersuchung der Wirkung bestimmter Textstrukturen ist Billenkamps Schlussfolgerung eine Hypothese, die im Rahmen einer entsprechend aus-gerichteten (theoretischen oder empirischen) Arbeit überprüft werden müsste. Ich möchte seine Hinweise zum Anlass nehmen auch die generelle Konstruktion und Struktur der Er-zählsituation von Bernhards Erzählstück im Zuge meiner nachfolgenden Überlegungen zum Zusammenhang der Textmerkmale und der kognitiven Rezeption des Werkes zu berücksich-tigen.

Abschließend möchte ich auch Manfred Jurgensens Arbeit nennen, der sich mit Die Sprach-partituren des Thomas Bernhard einem weiteren auffälligen Charakteristikum – nämlich den besonderen sprachkünstlerischen Elementen – des Werkes zuwendet (Jürgensen, 1981). Die im Rahmen seiner Arbeit zusammengetragenen Beobachtungen möchte ich nicht hier zu-sammenfassend, sondern erst an relevanter Stelle im Einzelnen nennen. Sie dienen mir an späterer Stelle als Hinweise auf die Beschaffenheit und Struktur der Informationen, mit de-nen ein Leser während der Lektüre des Werkes konfrontiert ist und damit als wichtige Indi-zien zur Beschreibung der kognitiven Verstehensprozesse. Ich möchte hier lediglich ab-schließend festhalten, dass die wichtigsten, in der Forschung zum Werk Gehen diskutierten Merkmale des Textes die poetische Selbstreflexivität, die Sprachästhetik und die besondere Erzählsituation bzw. Konstitution der Erzählinstanz sind. Diese Merkmale sollen im Verlauf

der nachfolgenden Untersuchungen besondere Beachtung finden. Darüber hinaus gilt es – wie auch im Hinblick auf die Njáls Saga – das Informationssystem des Textes genauer zu betrachten, um die grundlegenden Voraussetzungen für die kognitive Rezeption dieses Wer-kes genauer bestimmen zu können.