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Kognitive Rekonstruktion der fiktiven Handlung

Die Ereignisfolge und Figurenkonstellation, die in Gehen geschildert wird und an früherer Stelle bereits umrissen wurde, ist wesentlich weniger umfangreich, als die der Njáls Saga.

Ich habe die einzelnen Figuren, Gesprächssituationen und die kurze Handlungsfolge bereits zuvor kurz umrissen. Trotz dieser recht einfach anmutenden Struktur des dargestellten Ge-schehens ist die Aufgabe der kognitiven Rekonstruktion der Ereignisse aufgrund der zuvor beschriebenen komplexen Vermittlungssituation nicht trivial. Um ein Verständnis des Ge-schehens zu gewährleisten, ist es notwendig, dass ein Leser in der Lage ist, alle einzelnen Ereignisfolgen während der Lektüre in angemessener Form in das Modell der erzählten Si-tuation einzubinden. Er muss zu jedem Zeitpunkt eine Zuordnung zwischen den durch den

Text vermittelten Informationen und den Ereignisabläufen innerhalb der geschilderten Situ-ationen leisten. Ich habe im vergangenen Unterkapitel beschrieben, inwiefern die ‚Schach-telung‘ in der Darstellungsform der einzelnen Gespräche eine besondere Kognitionsleistung erfordert. Wenn ein Leser diesen besonderen Text zur Hand nimmt und zu lesen beginnt, muss er fortlaufend nachvollziehen, wer was über wen in welcher Situation gesagt hat, um anschließend rekonstruieren zu können, welche Situationen in welcher Form stattgefunden haben. Die Ordnung der Informationsvergabe spielt dabei eine besondere Rolle, da sie dar-über bestimmt, welche Informationen Leser zu welchem Zeitpunkt der Lektüre erhalten und dementsprechend zu welchem Zeitpunkt diese Informationen in die bereits erstellte kogni-tive Repräsentation des Erzählten integriert werden können bzw. müssen. Aufgrund der be-reits beschriebenen, geschachtelten Gesprächssituation müssen Leser während der fortlau-fenden Lektüre des Textes durchgehend zeitdeckend mehrere Handlungsverläufe und Ge-sprächssituationen rekonstruieren. Ich habe bereits einführend kurz beschrieben, dass der erste Handlungsbogen den Spaziergang des Ich-Erzählers mit Oehler und das in diesem Kon-text geführte Gespräch umspannt. Der erste Satz des Werkes besteht in einem Sprechakt des Erzählers. Im Diskurs der Erzähltheorie wurde der Adressat eines solchen allgemeinen nar-rativen Sprechaktes z. B. als ‚narratee‘ (z. B. Prince, 1985) bezeichnet. Gemeinsam bilden diese beiden Instanzen die äußere Erzählebene (Ebene 1) der Informationsvermittlung.

Wenn Leser beim zweiten Satz des Textes angelangt sind, wird deutlich, dass sich eine wei-tere Sprecher-/Adressaten Ebene eröffnet. Offenbar sprechen der Erzähler und Oehler im Kontext ihres neuerlichen gemeinsamen Spazierganges miteinander (Ebene 2). Im Zuge des-sen werden weitere Handlungen, Situationen und Gespräche zwischen Karrer, und Oehler (Ereignis 1; Ebene 3) und zwischen Oehler und Scherrer (S) (Ereignis 2; Ebene 3) rekon-struiert. Oehler ist an allen Situationen der Ebene 3 sowie dem Gespräch der Ebene 2 betei-ligt, so dass für einen Leser die Notwendigkeit entsteht, u. a. nachzuvollziehen welcher Ebene die wiedergegebenen Redeinhalte dieser Figur zuzuordnen sind. Ein Beispiel soll das veranschaulichen. In diesem Kontext ist Scherrer der eigentliche Gesprächspartner, dem Oehler von Karrers Verhalten berichtet. Oehler rekonstruiert im Zuge dessen ein weiteres Gespräch zwischen Karrer und Rustenschacher – einer Situation, an der er als Beobachter teilnimmt:

Der gleichen Ansicht war Karrer, sagt Oehler. Immer wieder sagt Oehler, der gleichen Ansicht war Karrer oder Karrer war ähnlicher Ansicht o-der Karrer war ano-derer oo-der Karrer ist o-der entgegengesetzten Ansicht (oder Meinung) gewesen. Karrers Satz lautet immer wieder, sagt Oehler:

[Wie sich die Menschen, die nicht wissen, wie sie dazu kommen, und die in

keiner sie betreffenden Frage gefragt worden sind, und vor allem in den grundsätzlichsten Fragen nicht gefragt worden sind wie sich alle diese Men-schen, mit welchen wir uns, wenn wir denken, immer und immer wieder mit der größten Zurechnungsfähigkeit identifizieren müssen, durch ihr ganzes Le-ben, gleich wer sie sind und gleich was sie sind und gleich wo sie sind, mit allen verabscheuungswürdigen Mitteln, also mit den Menschenmitteln, in ihr sie mit immer beängstigenderer Geschwindigkeit sich vervollkommnendes, endgültiges Unglück hinein- und hinauf- und hinuntertraktieren.] (GN, S. 21)66

Die Schwierigkeit der hier zitierten Passage besteht darin, dass der der oben von mir in eckige Klammern gesetzte, mimetisch wiedergegebene Redeinhalt im Sinne einer kohären-ten Interpretation Karrer zugesprochen werden muss. Dies ist anhand der gegebenen seman-tischen und strukturellen (grammatikalischen) Informationen im Text möglich, obwohl die letzte Inquit-Formel vor der entsprechenden Wiedergabe des Redeinhaltes ‚sagt Oehler‘ lau-tet. Auf der Repräsentationsebene des Rahmengesprächs hingegen stimmt die Zuordnung der Inquit-Formeln und entsprechenden Redeinhalte überein, da Oehler derjenige ist, der die Redeinhalte Karrers dem Ich-Erzähler gegenüber zitiert. Da hier verschiedene Gesprächssi-tuationen ineinander gestaffelt vermittelt werden, müssen unterschiedliche deiktische (zeit-liche, räumliche und personale) Referenzpunkte rekonstruiert werden, die der jeweiligen Si-tuation zu eigen sind. Eine weitere Textpassage macht die Notwendigkeit hierfür noch deut-licher und ist selbst ohne kontextuelle Zuordnung verständlich:

Mit Karrer bin ich sehr oft hier gestanden unter dem Obenaus, sagt Oehler, und habe ihm von allen diesen fürchterlichen Zusammenhängen gesprochen.

Dann sind wir, Oehler und ich, auf der Friedensbrücke. Es war bei dem Vor-haben Karrers, mir auf der Friedensbrücke einen wittgensteinschen Satz zu erklären, geblieben, aus Erschöpfung erwähnte Karrer nicht einmal mehr den Namen Wittgenstein auf der Friedensbrücke, ich selbst war zur Erwähnung des Namens Ferdinand Ebner nicht mehr fähig gewesen, so Oehler. (GN, S. 83)

Diese kurze Textpassage besteht aus drei Sätzen, wobei durch die Form des Zitats ein Per-spektivwechsel zwischen dem Ich-Erzähler und Oehler suggeriert wird. Das hat zur Folge, dass Leser die sich wiederholenden Personalpronomina, die sich auf unterschiedliche Figu-ren beziehen, richtig zuzuordnen müssen, um darauf aufbauend die dargestellte fiktive Situ-ation korrekt repräsentieren zu können. So bezieht sich das ‚ich‘ des ersten Satzes auf Oeh-ler, dessen Worte durch die Erzählfigur zitiert werden. Der semantische Gehalt des Satzes

66 Klammern und Hervorhebung von mir.

nimmt auf den gemeinsamen Spaziergang von Karrer und Oehler Bezug. Das erste Bezugs-wort des darauffolgenden Satzes ist das Personalpronomen ‚wir‘, das sich jedoch, wie sich im weiteren Verlauf des Satzes herausstellt, nicht auf die beiden zuvor repräsentierten Ge-sprächspartner, sondern vielmehr auf den Ich-Erzähler und Oehler bezieht, die ihren gemein-samen Spaziergang in der fiktiven Gegenwart unternehmen. Auf Grund dieser deiktischen Mikrostrukturierung wird die Verlagerung der narrativen Blickwinkel und der narrativen Zeit – und damit die Notwendigkeit zur kognitiven deiktischen ‚Umorientierung‘ des Lesers veranlasst. Die Erzählstruktur erschwert die korrekte Zuordnung der Personalpronomina dadurch, dass der entscheidende Hinweis der den Perspektivwechsel markiert, nicht zu Be-ginn des Anschlusssatzes steht, sondern erst an einer nachgeordneten Stelle im Satz gegeben wird. Der Leser ist daher angehalten, die Bezüge der betroffenen Personalpronomina (z. B.

diejenigen des ersten ‚wir‘) und die Anredeform, die er nach den ihm bekannten Regeln der Grammatik wahrscheinlich zunächst nicht korrekt zuordnet, ‚rückwirkend‘ umzudeuten.

Nachdem sich das ‚ich‘ des ersten Satzes deshalb auf Oehler beziehen muss, da er in Form von indirekter Rede zitiert wird und demnach über sich selbst und seine früheren Erfahrun-gen mit Karrer berichtet, trägt das direkt im Anschluss, zu Beginn des Folgesatzes Erfahrun-genannte

‚wir‘ demnach zunächst eine trügerische Referenz auf die beiden Personen Karrer und Oeh-ler. Die Verwendung der Präsensform (‚sind‘) ist der Schlüssel dafür, dass der Einschub

‚Oehler und ich‘ sich nicht mehr auf O und K, sondern auf O und E bezieht. Die möglichen deiktischen Relationen gestatten an dieser Stelle nur diese eine Interpretationsmöglichkeit.

In beiden Sätzen wird über Oehler in der dritten Person gesprochen. Der ausschlaggebende Unterschied besteht darin, dass der erste Satz die Wiedergabe von Redeinhalten in indirekter Form enthält, so dass zu jedem Zeitpunkt der Ich-Erzähler das Sprachrohr der vermittelten Informationen bleibt, die Blickrichtung auf die berichteten Ereignisse jedoch durch Oehler determiniert wird. Der Anschlusssatz hingegen provoziert eine Verlagerung der Perspektive, da das ‚ich‘ im deiktischen Koordinatensystem des Situationsmodells neu zugeordnet wer-den muss. Die Notwendigkeit zum Perspektivwechsel bringt neben dem personalen eben-falls einen temporalen Shift in die Gegenwart des Geschehens mit sich. Eine lokale Verla-gerung ist hingegen nicht notwendig, da sich beide Interaktionspaare sowohl in der fiktiona-len Vergangenheit als auch in der fiktionafiktiona-len Gegenwart an demselben Ort – auf der Frie-densbrücke – befinden.

Der dritte Satz referiert im Anschluss die Redeanteile von Oehler, durch den Fokus der Er-zählerfigur. Auch hier finden sich personale Referenzen (‚ich‘ und ‚mir‘), die allerdings in diesem Fall auf Oehler verweisen, so dass eine kognitive ‚Rückverlagerung‘ der kurzfristig

umgestellten Perspektive durch den Rezipienten notwendig ist. Damit ist ein erneuter tem-poraler Shift notwendig, denn die inhaltlichen Informationen dieses Satzes beziehen sich auf die Ereignisse der fiktionalen Vergangenheit zum Zeitpunkt des Spazierganges von Oehler und Karrer. Die Konfiguration dieser speziellen Textpassage konfrontiert einen Leser mit der Aufgabe, zwei Ereignisse parallel zu rekonstruieren. An dem ersten Szenario, das hier kognitiv zu rekonstruieren ist, sind Karrer und Oehler beteiligt, die sich während ihres ge-meinsamen Spazierganges auf Grund eines allgemeinen ‚Erschöpfungszustandes‘ nicht über Sätze von Wittgenstein und Ferdinand Ebner unterhalten können (ebd.). Das zweite Situa-tion umfasst eine Unterhaltung über das vergangene Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt, an der andere Figuren beteiligt sind. Die semantischen Informationen bezüglich des Ge-sprächsinhaltes zwischen Karrer und Oehler sind auf Grund der gewählten zitierenden Dar-stellungsweise der Situation in beide Repräsentationsstrukturen eingebunden.

Die Gestaltung der Informationsvermittlung erfordert an solchen Stellen die kognitive Re-konstruktion von zwei verschiedene Situationen, die zu verschiedenen Zeitpunkten inner-halb der Fiktionswelt (allerdings an demselben Ort) stattfinden und unterschiedliche Figu-renkonstellationen betreffen. Weil innerhalb der Informationsstruktur der Passage abwech-selnd auf die eine und auf die Situation referiert wird, sind Leser sind angehalten die zwei verschiedene Situationsmodelle nicht konsekutiv, sondern gleichzeitig zu rekonstruieren.

Dies ist vor allem mit einem Blick zurück auf die zuvor vorgestellte Njáls Saga spannend.

Die Erzählstrategien innerhalb der beiden Werke unterscheiden sich deutlich voneinander.

Dennoch wird – mit unterschiedlichen Mitteln – ein vergleichbarer Effekt erzielt. Es finden sich in beiden Fällen Passagen, deren jeweilige narrative und semantische Beschaffenheit Strukturierung eine bestimmte kognitive Leistung von ihrem Leser erforderlich machen.

Diese Leistung besteht in der gleichzeitigen Rekonstruktion zweier verschiedener Situati-onsmodelle. Auffällig ist, dass eine vergleichbare kognitive Leistung auch zum Leistungs-katalog der ToM-Fähigkeit gehört. Wenn ein Mensch z. B. die falsche Überzeugung eines anderen über eine bestimmte Situation verstehen möchte, dann muss er zwei verschiedene Situationsmodelle erstellen, die er voneinander getrennt repräsentiert und als Repräsentation der tatsächlichen Situation vs. einer Repräsentation, die die falsche Überzeugung des Ge-genübers wiedergibt, kognitiv kennzeichnet. Damit ist zu vermuten, dass hier aufgrund pa-ralleler kognitiver Leistungsanforderungen möglicherweise dieselben kognitiven Mechanis-men greifen. Wenn es stimmt, dass eine bestimmte Anzahl kognitiver MechanisMechanis-men ver-schiedene, aber strukturell miteinander vergleichbare funktionale Leistungen stützen, dann ist an dieser Stelle ein weiteres Beispiel dafür gefunden, dass die Mechanismen, die die ToM

ermöglichen, in diesem Fall in einem anderen Kontext und durch einen differenten Stimulus aktiviert werden. Die Mechanismen der ToM können damit, allein aufgrund der strukturellen und semantischen Beschaffenheit eines Textes in die kognitive Rezeption literarischer Texte eingebunden werden, ohne, dass im Text auf inhaltlicher Ebene innere Vorgänge und men-tale Haltungen dargestellt sind.