• Keine Ergebnisse gefunden

Einführung II: Kontext und wichtige Merkmale der Njáls Saga

Im Jahr 870 beginnt die Besiedelung von Island durch norwegische Abtrünnige, die sich auf diese Weise der Herrschaft des norwegischen Königs Haraldr Hárfagri (Harald ‚Schönhaar‘) entzogen. Der Prozess der Landnahme dauerte nur wenige Jahre und war im Jahr 930 wei-testgehend abgeschlossen (Edwards & Pálsson, 2006, S. 1 f.). Die folgenden Jahre zwischen 930 und 1030 gelten als ‚Sagazeitalter‘ (söguöld), da sich die meisten in der Saga Literatur beschriebenen Ereignisse in dieser Periode abspielen. Es folgt bis in das Jahr 1120 hinein das Zeitalter des Friedens (friðaöld) und anschließend die Epoche des Schreibens, das soge-nannte ritöld, in der die klassischen Saga Texte, deren Inhalte bis dahin mündlich tradiert worden waren, zum ersten Mal niedergeschrieben wurden. Im Jahr 1262 endet die Unabhän-gigkeit Islands, das von nun an unter die Krone Norwegens steht.41 Obwohl die meisten klassischen Sagatexte von den Ereignissen des söguöld berichten, stammen die ältesten Ma-nuskripte aus dem mittleren bis späten 13. Jahrhundert. Es liegen also mehr als 200 Jahre zwischen den Ereignissen, von denen die Sagas berichten und den Autoren, die diese zusam-men mit detaillierten Genealogien in schriftlicher Form festhielten. Die Njáls Saga erzählt

41 Eine übersichtliche geschichtliche Zusammenfassung der Ereignisse ist bei Liestøl (1930) zu finden.

die Geschichte der Familien und Clans, die im 11. Jahrhundert den Süden Islands besiedel-ten. Die einzelnen Schicksale dieser Familien sind durch Fehden und Hochzeiten miteinan-der verbunden. Das Werk findet seinen tragischen Höhepunkt in miteinan-der Verbrennung des ange-sehenen Rechtsgelehrten Njáll42 und seiner Familie in dessen eigenem Haus. Ein Abgleich mit zahlreichen historischen Quellen lässt vermuten, dass in der Njáls Saga nicht nur fiktive, sondern auch eine Reihe historischer Ereignisse geschildert werden. In einigen Quellentex-ten sind unter dem Stichwort ‚Njálsbrenna‘ beispielsweise Verweise auf den im Werk ge-schilderten zentralen Vorfall des Morbrandes zu finden, dem Njáll und seine Familie zum Opfer fallen (Sveinsson & Schach, 1991, S. 7). Diese Tatsache, zusammen mit einigen text-inhärenten Merkmalen, wie bspw. dem Sprachduktus und den detaillierten Familiengenea-logien, begründen den unter den Forschern der Skandinavistik selten angefochtenen Kon-sens, dass die erzählten Ereignisse zumindest teilweise auf historischen Begebenheiten be-ruhen (Ebd.). Beispiele für die Vermittlung historischer Informationen sind die Passagen, die der Einführung des Christentums in Island und der Schlacht von Clontarf gewidmet sind.

Beide Ereignisse sind nicht nur in der Njáls Saga beschrieben, sondern sind darüber hinaus in zahlreichen weiteren Quellen dokumentiert (Fox, 1963, S. 290). Über die Figur des Njáll findet sich ein kurzer Eintrag im Landnámabók (Landnahmebuch):

With Asgerd’s approval, her brother Thorolf took possession of land west of Fljot, between the two Deildar Rivers, making his home at Thorolfsfell. There he fostered Thorgeir Gollnir, son of Asgerd, who farmed there afterwards.

Thorgeir’s son was Njal who was burnt to death in his house. (Edwards &

Pálsson, 2006, S. 129)

Die Diskussion darüber, zu welchem Grad der Text als historisch einzuordnen ist, hat bis heute keinen Abschluss gefunden. Der isländische Student Olavus Olavius, der im Jahr 1772 die erste wissenschaftlich edierte Ausgabe des Werkes in Kopenhagen herausgab, klassifi-zierte die Njáls Saga in diesem Zusammenhang noch als Geschichtswerk, das vor allem dazu dienen soll, modernen Lesern Wissen über die politischen und juristischen Verhältnisse des isländischen Commonwealth-Zeitalters zugänglich zu machen (Lönnroth, 1976, S. 2). Diese extreme Ansicht wird von den heutigen Forschern nicht mehr vertreten, auch wenn noch immer ein großes wissenschaftliches Interesse an der Identifikation historischer Ereignisse und Figuren und ihrer Unterscheidung von den fiktiven Anteilen des gesamten Werkes be-steht. Knut Liestøl (1930, S. 182) schreibt:

42 Außerhalb von zitierten Passagen aus den Werkausgaben und der Forschungsliteratur orientiert sich die Schreibweise der Figuren-Namen an der modernen isländischen Grammatik.

[…] the sagas are our most important source of information regarding the history of Iceland during a period of more than a hundred years; and the in-formation they contain regarding the life and customs of those times is of immense value for the study, not only of Icelandic, but of Scandinavian and even of Germanic culture.

Trotz der Verbindungen zu historischen Figuren, Stoffen und Motiven wurde der Text im skandinavistischen Forschungsdiskurs auch als Kunstwerk und fiktionales Narrativ behan-delt. Einer der Hauptvertreter dieser Ansicht ist Einar Ólafur Sveinsson, der basierend auf den Manuskriptfragmenten, die der skandinavistischen Mediävistik vorliegen, eine neue Ge-samttextausgabe erstellte und sie im Jahr 1954 herausgab.43 Form und Inhalt aller modernen isländischen Textausgaben beruhen auf dieser Edition.

Es wird vermutet, dass das Werk zirka im Jahr 1280 entstand, obwohl sich die erzählten Ereignisse in den Jahrzehnten rund um das Jahr 1000 n. C. abspielen. Der nachweisbare intertextuelle Einfluss des Gesetzesbuches Járnsíða, welches erst im Jahr 1271 in Island eingeführt wurde, hilft dabei, die Entstehungszeit auf einen Zeitraum zwischen diesem Jahr und der Zeitpunkt der Niederschrift des ältesten überlieferten Manuskriptes (ca. 1300) ein-grenzen (Sveinsson, 1971, S. 11). Neben der ausführlichen Forschung zur Editionsge-schichte stehen im Forschungskanon zur Njáls Saga einige wenige wichtige Fragen im Zent-rum des Interesses. Eine wichtige Frage, die im Zuge der Forschung zu diesem speziellen Werk häufig gestellt wurde, betrifft die Identität seines Autors bzw. seiner Autoren. Obwohl die These, dass alle überlieferten Manuskriptfragmente auf ein originales Manuskript mit der Handschrift eines einzelnen Autors zurückgehen, mehrfach in Frage gestellt wurde, hielt sich diese Überzeugung im Verlauf der Forschungsgeschichte hartnäckig (ebd.). Sveinsson, der selbst diese Ansicht vertritt, beruft sich in diesem Zusammenhang auf die enge Verknüp-fung historischer und fiktiver Ereignisse, die kunstvolle Komposition des Textes, die Ein-heitlichkeit des Erzählstiles sowie der Charakterskizzen und folgert daraus, dass es sich im Fall der Njáls Saga nur um das Werk eines einzigen, artistisch begabten Autors handeln kann (ebd.). Zur Identität dieses Autors liegen einige theoretische Überlegungen vor, von denen sich letztlich keine endgültig bestätigen ließ.44 Den entscheidenden Hinweis zur Beantwor-tung der Frage nach der Identität des Autors zu finden, ist bis heute nicht gelungen. Aufgrund der literatur- und kulturgeschichtlichen Entstehungszeit des Werkes ist es m. E. durchaus

43 Diese Ausgabe wird an relevanten Stellen, z. B. wenn die moderne Übersetzung in relevanter Form von der originalsprachlichen Fassung abweicht, herangezogen und als ‚NSI‘ zitiert.

44 Diese Überlegungen sind z. B. bei Lönnroth (1976, S. 4) zusammengefasst.

möglich, dass es sich nicht um das Werk eines einzelnen Autors, sondern um ein Konglo-merat von Textstücken handelt, die als Niederschriften mündlich tradierter Geschichten zu bewerten sind.45 Dieses Problem ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit und soll daher hier nicht ausführlich diskutiert werden. Wichtig ist allerdings, dass Leser dieses Werk nicht wie im Fall eines zur heutigen Zeit üblichen ‚Autorenwerkes‘ einer bestimmten historischen Autorfigur zuordnen können.

Ein auffälliges Merkmal der Njáls Saga sind die inhaltlichen Exkurse über wichtige und gut dokumentierte historische Ereignisse, wie das Kapitel über die Christianisierung Islands (in den Jahren 999 – 1000) und die ausführliche Darstellung der Schlacht in Clontarf (1014) (Naumann, 2011, S. V). Diese Episoden sind als thematische Exkurse in die Chronologie der Gesamthandlung eingebunden. Sie besitzen eine eigene in sich geschlossene Mikrostruk-tur, und können – Lars Lönnroth zufolge – neben ihrer Rolle im Gesamtzusammenhang des Werkes auch als unabhängige Textpassagen analysiert werden (Lönnroth, 1976, S. 31). Die Einbindung der zwei thematischen Exkurse in die Haupthandlung lässt vermuten, dass es sich bei der Njáls Saga um ein Konglomerat mehrerer, bereits zuvor existierender Narrative handeln könnte. Gleichzeitig drängt sich die Frage nach dem Fiktionsstatus aller geschilder-ten Ereignisse auf, die in der mediävistischen Forschung häufig Anlass zu der Suche nach möglichen historischen Quellen des gesamten zusammengestellten Stoffmaterials des Wer-kes gab.46 Sveinsson (1971, S. 12) identifiziert einige dieser poetischen, mythischen und kul-turhistorischen Quellen, aus denen sich der Stoff des Haupttextes speist und einige intertex-tuelle Verlinkungen, die an dieser Stelle auf Grund der Breite des Feldes nicht einzeln wie-dergegeben werden können (ebd., S. 14). Die zum Teil erfolgreiche Suche nach Quellen für die dargestellten Stoffe und Motive rechtfertigt jedoch die Frage nach dem Fiktions- bzw.

Geschichtsstatus einzelner Figuren und Handlungselemente, die einen Schwerpunkt inner-halb der Forschung zur Njáls Saga bildet.47 Trotz der Sonderstellung dieser zwei Abschnitte bezüglich ihrer Thematik und inhärenten Struktur sind sie auf inhaltlicher Ebene durch kau-sale Verknüpfungen mit der Haupthandlung verbunden, so dass der Eindruck einer zusam-menhängenden Gesamtstruktur entsteht (Lönnroth, 1976, S. 23).

45 Eine gute Einführung in die Bedeutung mündlicher Traditionen für die Entstehung der Njáls Saga, wie sie heute in publizierter Form vorliegt in der Arbeit von Liestøl (1930).

46 Eine Zusammenfassung dieser Forschungsbemühungen und der entsprechenden Ergebnisse findet sich bei Lönnroth (1976, S. 39 ff.). Auch Andersson (1964, S. 41 ff.) bespricht dieses Problem.

47 Eine Zusammenfassung der Probleme der Editionsgeschichte in dieser Hinsicht findet sich bei Andersson (1964, S. 41 ff.).

Die Frage nach der ästhetischen Funktion von strukturellen und semantischen Eigenschaften und damit nach dem Kunstcharakter der Njáls Saga wurde in der Forschungsgeschichte zu diesem Werk erst spät gestellt. Erst Lars Lönnroth (1976, S. 22) sucht nach den ästhetischen Elementen des Textes, wobei zuvor überwiegend die Suche nach der Identität seines Autors, nach den historischen Elementen der Geschichte sowie seiner Editionsgeschichte im Fokus gestanden hatten. Mit einem Blick auf die Gattungsgeschichte der Saga-Literatur schreibt Lönnroth zur erzählerischen Strategie der kausalen Handlungsmotivierung in der Njáls Saga: „This is the literary tradition the author of Njála follows. More radically than any previous writer of long sagas, however, he tries to tie everything together in his ‚network of events‘“ (ebd., S. 209). Die Njáls Saga zeichnet sich im Vergleich zu anderen Texten seiner Gattung über eine ungewöhnlich dicht verwobene innertextuelle Strukturierung aus: Sveins-son (1971, S. 54 f.) schreibt:

From beginning to end Njála is an articulated, unified complex of events, all of which precipitate others. The initial impulse is not a single event, but many individual and originally unrelated events [...]. Thus one event springs from the other, and the reader often has the feeling that these events are tied to-gether, one with the other.

Die Njáls Saga gilt als das umfangreichste und, so der Konsens der skandinavistischen Li-teraturwissenschaft, als das künstlerisch bedeutsamste Beispiel der klassischen isländischen Saga Literatur (Naumann, 2005, S. III). Sie ist ein wohlstrukturiertes Narrativ, das möglich-erweise bereits existierende Stoffe aufgreift, allerdings von einem unbekannten Künstler in seiner ästhetischen Form zusammengestellt und strukturiert wurde (Lönnroth, 1976, S. 2).

Die moderne Skandinavistik kategorisiert diesen Text dementsprechend als komplexes Kunstwerk und nicht als historisches Dokument (ebd., S. 3).

Mit Blick auf die wichtigsten Fragestellungen der Forschungsgeschichte zur Njáls Saga möchte ich im Folgenden zunächst den möglichen Einfluss wichtiger allgemeiner Faktoren auf die kognitive Rezeption des Textes beleuchten. Solche Faktoren sind z. B. das fehlende Wissen um die Autoridentität sowie der Bezug der dargestellten Ereignisse zur Realität. Die Frage lautet hier, ob und an welchen Stellen solche Faktoren die online-Rezeption des Wer-kes beeinflussen lassen. Ich möchte klären, ob sich im Zuge der Textanalyse selbst mit Blick auf diese Faktoren begründete Annahmen formulieren lassen. Auf der anderen Seite möchte ich im Rahmen der Textanalyse die in der Forschung erwähnte Frage nach besonderen struk-turellen Strategien der Verknüpfung einzelner Handlungsepisoden, der als Leitfaden meiner Analyse nutzen. Es gilt hier zu klären inwiefern durch die Beschaffenheit des Textes selbst

der Eindruck der strukturellen Motivierung der Gesamthandlung entstehen kann, der For-scher in der Vergangenheit zu dem Schluss führte, dass Werk sei ein dicht motiviertes und strukturiertes Narrativ. Darüber hinaus möchte ich mit Blick auf den komparatistischen An-satz dieses Kapitels eine Grundlage für einen Vergleich schaffen und die Besonderheiten der Erzählsituation im Zusammenhang mit der kognitiven Rezeption des Werkes genauer unter-suchen.48