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Andere Bildungsgeschichten der untreuen Töchter Virginia Woolfs

Olaf Sanders

„Die Wahrheit ist, dass ich nicht zu denen gehöre, die in einer einzigen Person ihre Befriedigung finden oder in der Unendlichkeit.“

Virginia Woolf, Die Wellen (1994/1931: 145) Die untreuen Töchter Virginia Woolfs sind auch Nichten Gilles Deleuzes, der Woolf, vor allem Die Wellen (1994), sehr geschätzt hat (vgl. u.a. Deleuze und Guattari 1997: 343f.). Vorlesungen halten wollte Deleuze allerdings eher im Stil von Bob Dylan: „Das müsste wie bei ihm beginnen, auf einen Schlag, mit seiner Clownsmaske und jener Kunst, in der jedes Detail stimmt und doch improvisiert ist“ (Deleuze und Parnet 2019: 18). Die Clowns-maske verweist auf die legendäre Rolling Thunder Revue (1975–76), während der Dylan mit weiß geschminktem Gesicht auftrat und die Martin Scorsese kürzlich in einem sehenswerten Film in Erinnerung gerufen hat (Netflix 2019). Nehmen wir den Rhythmus auf. Im Gegensatz zum Takt, der Ein-heit schafft, generiert Rhythmus Differenzen (Deleuze und Guattari 1997:

426ff.). „Es gibt kaum einen Künstler, der die Bühne des 20. Jahrhunderts mit einer größeren Kollektion an Masken betreten hat, als Bob Dylan“

(Marcus 2001: 226).

Das erste Stück auf Dylans aktueller Platte Rough an Rowdy Ways (2020) trägt den Titel I Contain Multitudes und zitiert ohne Anführungszeichen aus einem Gedicht von Walt Whitman, dem Song of Myself aus Leaves of Grass, die Deleuze nicht weniger geschätzt hat als Die Wellen, weil Whitman lange vor Jack Kerouac den glatten Raum des „amerikanischen Rhizoms“ auf-spannt (Deleuze und Guattari 1997: 33). Die veröffentlichte deutsche Übertragung lautet: „Ich enthalte Vielheiten“ (Whitman 2009: 121). Das

zitierte Gedicht heißt in Grasblätter etwas getragener Gesang meiner selbst. De-leuze unterstellt Amerikaner*innen nicht nur ein Gespür für den Pop, son-dern auch „einen natürlichen Sinn fürs Fragment“ (Deleuze 2000: 78).

Grashalme bewegen sich wie Wellen, und Dylan erweist sich wieder einmal als genialer Gedankendieb. Multituden enthält auch Woolfs ästhetische Fi-gur Bernard, die in Die Wellen den meinem Text als Motto voranstehenden Satz äußert. Eine Multitude liegt als Mannigfaltigkeit zwischen Person und Unendlichkeit oder als Drittes zwischen Einheit und Allheit. Das ist schon bei den Kategorien der Quantität in Kants Kritik der reinen Vernunft so, al-lerdings anders geordnet. „So ist die Allheit (Totalität) nichts anderes als die Vielheit als Einheit betrachtet“, schreibt Kant (1974: 122 [B 111]). Folg-lich entsteht Vielheit oder Mannigfaltigkeit, wenn die Einheit von der All-heit abgezogen wird. Genau das bedeutet Deleuzes berühmte Formel n – 1. Mannigfaltigkeiten müssen wie Geschichte gegen die Macht der Ge-wohnheit gemacht werden. Sie wirken im besten Fall gegen die hegemoni-alen Phantasmen des Einen, der Natur und des bewussten Subjekts (vgl.

Schürmann 2017). „Ja“, sagt Bernard, „aber ich ärgere mich immer noch über die übliche Ordnung“ (Woolf 1994: 121). Umordnung führt zwangs-läufig durch die Unordnung und das Unübliche.

Die Töchter Virginia Woolfs – Virginia Woolf hatte keine Kinder – machen ihrem Ärger Luft. Als Töchter verstehen sich u.a. die belgischen Philosophinnen Vinciane Despret und Isabelle Stengers. Die amerikani-sche Übersetzung ihres Buches Les faiseuses d'histoires: Que font les femmes à la pensée? (Despret, Stengers et collective 2011) trägt den Titel Women Who Make a Fuss: The Unfaithful Daughters of Virginia Woolf (Stengers und Despret 2014). Die Geschichtenmacherinnen erscheinen als Frauen, die Aufhebens machen oder auch – schröderesk – Gedöns. Statt zu fragen, was sie zu denken zwingt, werden sie als untreue Töchter Virginia Woolfs charakteri-siert. Dass sich auch noch die Reihenfolge der Autorinnen ändert und das Kollektiv unterschlagen wird, zeigt, dass auch im amerikanischen Rhizom Bäume wachsen, die dem Anliegen des Buches untreu zu werden drohen.

Doch warum erweisen sich die Autorinnen als untreue Töchter? Von Töch-tern gebildeter Männer und deren durch das Patriarchat verhinderten Mög-lichkeiten handelt Woolfs Essay Drei Guineen (zuerst 1938), der sich mit

Fragen befasst, die in Ein eigenes Zimmer (zuerst 1929), ihrem ersten femi-nistischen Essay, offen bleiben. Aus Drei Guineen stammt der Schlachtruf

„Think we must“, der in der deutschen Übersetzung – „Nachdenken müs-sen wir“ (Woolf 1989: 183) – entschleunigt und von Donna Haraway in Unruhig bleiben (2018: 180f.) mit Verweis auf das Buch von Despret und Stengers aus dem Schlummer gerissen wird, in den er nach der Woolf-Re-zeption im Zuge der zweiten Welle der Frauenbewegung gefallen war. Ha-raway erklärt die Untreue Woolfs mit dem Ausscheren aus der Patrilineari-tät, das zukünftige Kriege verhindern soll. Die Untreue ihrer Töchter reicht weiter. Sie überschreiten nicht nur feministische Horizonte, sondern ver-lassen auch die identitätspolitischen LGBTIQ-Welten. Jenseits des An- thropozentrismus schreibt Haraway (2018: 13): „Wir werden miteinander oder wir werden gar nicht.“ Wir, damit meint sie alle Arten, mit denen wir uns verwandt machen müssen. Wir, das ist auch Gaia. James Lovelock, der Begründer der Gaia-Hypothese, erinnert noch in Novacene (2019: 11f.) da-ran, dass Gaia auf der Erde die Hitze der Sonne kontrolliere. Viele von uns bemerken inzwischen die Kontrollverluste. Manche merken auch nichts.

Bruno Latour weist die Rede von der Klimakrise aus guten Gründen zurück und nutzt stattdessen die zutreffendere Wendung „neues Klimare-gime“, weil Krise suggeriert, dass es eine Zeit nach der Krise gibt, die es nicht geben wird. Latour nennt das neue Klimaregime einen „anderen Weltkrieg“ (Latour 2017: 26), in dem es gilt, „überleben zu lernen“ (ebd.:

30). Das kann Haraway zufolge nur gelingen, wenn wir unruhig blieben und uns eben auf eigensinnige Art verwandt machten. Sich verwandt zu machen, nötig uns dazu, unser Verhältnis zu anderen Arten zu überdenken;

und diese Nötigung birgt eine Bildungsaufgabe, deren Bearbeitung mit der

„unbeholfenen Arbeit des Denkens“ (ebd.: 433) beginnt. Denken müssen wir. Stengers schlägt auch in In Catastrophic Times (2015: 131) den Bogen zu Woolfs Wendung zurück, wenn sie darauf hinweist, dass Lernen damit be-ginne, dass uns etwas zu denken zwinge und nicht etwa, dass ein Ich denke.

Descartes führt (hier) in die Irre. Mit Deleuze lassen sich Bildungsprozesse als Werdensprozesse begreifen, die in verschiedenen Radikalitätsstufen ab-laufen können. Radikaler als das Frau-Werden ereignen sich Tier-Werden, Pflanze-Werden und schließlich Anorganisch-Werden (Sanders 2020: 112).

Das Pilz-Werden hat Deleuze nicht bedacht. Für mich hat es Nähen zum Pflanze-Werden, aber auch zum Tier-Werden. Es geschieht dazwischen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass X-Werden nicht bedeutet, X zu werden, sondern anders – und zwar andauernd. Das ist schon schizo.

Haraway erzählt in Unruhig bleiben auf intime Weise von ihrer „damals zwölf Jahre alte[n], hündische[n] Freundin und lebenslange[n] Sportpart-nerin Cayenne, aka Hot Pepper“ (Haraway 2018: 144), die sie gegen ein Harnleck mit einem industriell produzierten Östrogen behandelt hat. Bei dem Östrogen handelte es sich um DES bzw. Diethylstilbestrol, das bis in die frühen 1970er Jahre vor allem in den USA zur Vermeidung von Schwangerschaftskomplikationen eingesetzte wurde und später aufgrund von Fehlbildungen bei DES-Töchtern nur noch zur Behandlung von fort-geschrittenem Brustkrebs nach der Menopause oder fortfort-geschrittenem Prostatakrebs eingesetzt wurde. 2011 war die Industrieproduktion längst eingestellt – Haraway kaufte das Medikament in „einer Apotheke, die auf Homöopathie und die Eigenherstellung von Arzneimitteln spezialisiert war“ (ebd.: 148) –, dennoch rief die Behandlung bei ihr ein DES-Angst-syndrom hervor, das sogar ihren menschlichen Lebenspartner „tief in den Sorgenteich weiblicher Säugetiere“ (ebd.: 145) hineinzog und die ge-sprächstherapeutisch-rationalisierende Intervention ihre Tierärztin erfor-derte. Die junge Ärztin hatte aber keinen Zugriff auf Haraways DES-Ge-fühlsstruktur. Haraway assoziiert DES mit Premarin, ein Östrogen-präparat, das sie selbst nach der Menopause eingenommen hat, um einer Herzkrankheit vorzubeugen. Premarin wird heute auch nicht mehr gehan-delt, bleibt für Haraway aber ein Symbol ihrer Scham und ihres Scheiterns,

„genug über die schwangeren Stuten und die Wegwerf-Fohlen zu wissen“

(ebd.: 152), die in den „tierindustriellen Komplex“ der Medikamentenpro-duktion als „arbeitende Geschlechtsgenossinnen“ (155) eingespannt wa-ren. In Das Manifest für Gefährten (2016: 7) fasst Haraway ihr Verhältnis zu Cayenne Pepper als Symbiogenese, die bei ihr den Wunsch hervorgebracht hat, zu „lernen, wie [sie] diese gemeinsame Geschichte erzählen kann und wie [sie] das Erbe der Koevolution, der gemeinsamen Gewordenheit, in der Naturkultur annehmen kann“ (ebd.: 18). Die „pflichtbewusste Tochter

Darwins“ (ebd.: 21), als die sie sich beschreibt, läuft dabei zu der „unver-gleichliche[n] Lynn Margulis“ (Haraway 2018: 15) über, um „Geschichten über die Beziehungen in signifikanter Andersartigkeit [zu] erzählen“ (Ha-raway 2016: 31). Mit signifikant andersartig meint Ha(Ha-raway „mehr-als-menschlich und anders-als-„mehr-als-menschlich“ (Haraway 2018: 206). Die Koevo-lution mit ihrer Australian Shepherd-Hündin vollzieht sich durch gemein-sames Leben und Agility-Training.

Despret befragt in ihrem Abécédaire Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? unsere Beziehungen zu weiteren Arten. Dabei ver-schiebt sich in einer der von ihr erzählten Geschichten sogar der Sinn eines berühmten Wittgenstein-Satzes aus Philosophische Untersuchungen: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“ (Wittgenstein 1984: 568). Unter J wie Justiz berichtet sie, dass zwischen einigen Bantu-Ethnien und Löwenrudeln eine Art Vertrag bestehe, der sicherstelle, dass Frieden herrsche, solange die Löwen keine Kinder angriffen. Geschieht dies doch, begeben sich die Dorfbewohner auf die Jagd. Die Lega trom-meln dabei einen bestimmten Rhythmus und töten den ersten Löwen, auf den sie treffen. Sie gehen davon aus, dass dieser Löwe nicht irgendein be-liebiger Löwe ist, sondern der schuldige, und können das auch erklären.

Der Löwe kann zwar womöglich nicht sprechen, aber er versteht (Despret 2019: 93f.). Diese Gabe hätte er den Menschen voraus, die bei der experi-mentellen Erforschung von Tieren die Bedingungen meist erst schaffen, unter denen sich Tiere dann wie Tiere verhalten. So bilden sie Hierarchien, wenn Nahrung künstlich verknappt wird, weil das schwächere Tier lernt, dass es bei der Fütterung weniger bekommt. Ohne diesen Mangel, den es – wie Deleuze und Guattari (1997: 225) gegen Lacan einwenden – an sich nicht gibt, bilden sich unter Tieren kaum Hierarchien. Despret vermutet, dass die Silberrücken unter den Verhaltensbiologen diese Vorstellung nur um ihrer selbst willen und zur Stärkung der eigenen Position lange auf-rechterhielten. Wolfsrudel organisieren sich eher situativ und funktional, statt als Alpha- bis Omega-Wölfe (Despret 2019: 69). Die Funktionalität sollte aber auch nicht überschätzt und schon gar nicht zu eng geführt wer-den, denn es gibt auch queere Pinguine, was in der Forschung lange ver-schwiegen wurde, weil kein*e Forscher*in für queer gehalten werden

wollte. Wie flüchtende Pavianmännchen belegen, ist selbst das männliche Schutzverhalten nicht instinktiv, sondern bestenfalls erlernt. Ohnehin er-weisen sich Tiere bei unbefangenerer Betrachtung als lernfähiger als ge-meinhin vermutet. Sie lernen nur nicht immer so, wie es experimentelle oder auch andere Settings vorgeben. Despret berichtet von Krähen, die voneinander lernten, britische Milchflaschen zu öffnen, und wieder mit Er-folg gemeinsam und voneinander zu lernen begannen, nachdem der Ver-schluss wegen der Krähen geändert wurde. Zudem verhalten sich viele La-bor-, Nutz- oder Haustiere in der Regel ausgesprochen kooperativ und interessengeleitet, was immer erst dann auffällt, wenn sie im Ausnahmefall die Kooperation verweigern. Einige Elstern und indische Elefanten durch-leben sogar eine Art Spiegelstadium, was einen Hinweis darauf gibt, dass sie über ein Selbstbild verfügen. „Tiere denken in Bildern“ (ebd.: 64). Wie auch Autist*innen und Legastheniker*innen (vgl. Sanders 2014). So wun-dert es nicht, dass Autist*innen Tiere oft besser verstehen. Despret ver-weist auch auf die Tierwissenschaftlerin Temple Grandin als wohl bekann-testes Beispiel, deren Leben auch schon von Oliver Sacks (Eine Anthropologin auf dem Mars) beschrieben und 2010 von HBO mit Claire Da-nes (Homeland) in der Hauptrolle verfilmt wurde. Despret vermehrt die Ge-meinsamkeiten zwischen uns und den Tieren, was für Säugetiere und Vögel plausibel wirkt. Wie steht es aber mit Insekten und Spinnen? Bleiben wir da doch auf Kafka verwiesen? Erwachten wir eines Morgens als Borken-käfer, trügen wir vielleicht zur Tragödie bei, die sich gerade in unseren Wäl-dern abspielt. Dabei brennen sie nicht einmal wie in Kalifornien oder – aus anderen Gründen – in Brasilien, sondern vertrocknen bloß. Unruhige Träume (wie Gregor Samsas [vgl. Kafka 1996: 96]) könnten zur Analyse beitragen.

Das neue Klimaregime hinterlässt in den mitteleuropäischen Wäldern deutliche Spuren. Dennoch erscheint die Aufregung im Hinblick auf das Waldsterben verglichen mit den frühen 1980er Jahren, in denen sich die Ursachen noch direkter und lokaler zuschreiben ließen, vergleichsweise ge-ring – vermutlich aus ebendiesem Grund. Und man hat heute andere Sor-gen, das CO2 z.B. Die Philosophie vernachlässige Pflanzen – laut Emanuele Coccia (2018: 15) – traditionell aus Geringschätzung. Mit La vie des plantes.

Une métaphysique du mélange – deutsch unpassender sowie weniger präzis und deleuzianisch: Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen – versucht Coccia, der Vernachlässigung entgegenzuwirken, weil Pflanzen endlich in ihrer Bedeutung auch für das menschliche Leben begriffen zu werden ver-dienen: „Das Leben der Pflanzen ist eine andauernde Kosmogonie, die kontinuierliche Genese unseres Kosmos“ (ebd.: 22). Kosmos verengt sich hier auf Gaia als die lebende Schicht des grünen und nicht bloß blauen Planenten. Für Coccia wird Gaia durch den Atem rhythmisiert und zusam-mengehalten. Durch Verschränkung entstehen Gemische (mélanges), die in Bewegung bleiben: „Das Klima […] ist das Wesen des kosmischen Flie-ßens, das grundlegende Gesicht unserer Welt“ (ebd.: 41). Dabei gilt Coccia Photosynthese als „der kosmische Prozess des Fließendmachens des Uni-versums“ (ebd.: 55), und: „wir bewohnen die Atmosphäre“ (ebd.: 53), in die wir uns einmischen. „Sich zu mischen, ohne zu verschmelzen, bedeutet, denselben Atem zu teilen“ (ebd.: 73). Coccia geht es letztlich um eine zeit-gemäße Kosmologie. Über den „Zustand des Eingetauchtseins“ (ebd.: 90), als den er das Atmen fasst, gelangt er zum Begriff einer „universellen In-teriorität“ (ebd.: 92) – alles ist in alles getaucht – als „wahre[r] Immanenz“

(ebd.: 94), die „ständig der Transformation ausgesetzt ist“ (ebd.: 95). Eine Ontologie und Bildungstheorie für Coccias Kosmologie haben Deleuze und Guattari längst geschrieben.

Anthropozän heißt das Erdzeitalter, in dem menschliches Handeln zur entscheidenden erdgeschichtlichen Instanz aufgestiegen ist. Lässt sich Tie-ren – wie bei Despret – wenn schon kein Handeln, so doch Agency zuspre-chen, gelingt dies für Pflanzen nicht so ohne weiteres. Dennoch stellen sie uns vor ein Paradox: „Sie haben keine Hände, um sie an die Welt zu legen, und doch ließen sich nur schwer Akteure finden, die sich bei der Konstruk-tion von Formen geschickter anstellen als sie“ (Coccia 2018: 25). Früh schon bildeten sich „waagrechte Rhizome“ (ebd.: 102) als Ausdruck einer

„Pflanzenintelligenz“ (ebd.: 103). Wie Deleuze stellt Coccia fest, dass das Gehirn nicht nur ein menschliches Organ sei, sondern in erster Linie „ein Merkmal der Materie, das Wissen und Bewusstsein birgt“ (ebd.: 133). Aus diesem Blickwinkel erscheint ihm die Vernunft als eine Blüte – und zwar nicht erst menschlicher Geistesentwicklung, sondern eines umfassenderen

„bios theoretikos“ (ebd.: 143). Coccia belässt es nicht bei der Kontingenz von Wespe und Orchidee, sondern sympathisiert mit der „deep ecology“

(ebd.: 113), die gerade die Kontingenz in der natürlichen Welt nicht akzep-tiert und daher leicht ins Fundamentalistische driftet. Timothy Morten (2016: 299f.) setzt der Tiefenökologie eine dunkle Ökologie entgegen, die als „perverse, melancholische Ethik“ Natur als Ideal aufgibt. Bruno Latour (2010: 41) plädiert im Gegensatz dazu für eine „politische Ökologie“, for the times they are a-changin’ (Dylan).

Seit einigen Jahren lässt sich immer häufiger beobachten, dass Bäume in ihrer Not Äste abwerfen. Sie scheinen diese Art der Bedrohungsabwehr untereinander abzustimmen mit Hilfe von Mykorrhizen, die ihre Kommu-nikation ermöglichen. Pilze wirken als waldweites Netz, das sogar mit dem Internet verglichen wird (Tsing 2019: 193f.). Die Anthropologin Anna Tsing folgt in ihrem bemerkenswerten Buch Der Pilz am Ende der Welt (2019) dem Matsutake-Rhizom. Der Untertitel des Buches lautet: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Er besagt, dass die Katastrophe schon stattge-funden hat – wir leben ganz gut in unseren postapokalyptischen Zeiten – und dass der Matsutake-Pilz postapokalyptische Kompetenzen hat. Tsing (2019: 15) berichtet, dass es Berichte gebe, denen zufolge der Matsutake als erstes Lebewesen im von der Atombombe mit dem euphemistischen Na-men Little Boy verwüsteten Hiroshima wieder gewachsen sein solle. Und auch an der US-amerikanischen Westküste wächst er bevorzugt nach Wald-bränden. Aufgrund ihrer außerzellulären Verdauung „sind Pilze Welten-bauer, die für sich und andere Umwelten erschaffen“ (Tsing 2019: 192).

Vor allem erst einmal für Pflanzen.

Weil der Matsutake, der sehr groß werden kann und besonders riecht, zu den „schwer fassbaren Duftnoten des Herbstes“ (ebd.: 379) beiträgt und für viele Nasen auch einfach nur stinkt, vor allem in Japan aber auch als wertvolle Delikatesse gilt, spannt sich um ihn ein weltweites Handelsnetz, das seine prekären Wachstumsbedingungen sozial verdoppelt. Der Pilz bil-det ein Naturkultur-Gefüge, auf deren Spuren sich Tsing heftet. So ent-steht eine „Geschichte im Werden“ (ebd.: 77). Diese Geschichte ist eine durch und durch kapitalistische. Tsing sucht in ihr aber vor allem „nach

dem nicht-kapitalistischen Elementen […], von denen der Kapitalismus ab-hängt“ (ebd.: 90). Sie findet sie schließlich in den Wäldern Oregons. „Pilze aus Oregon sind kontaminiert mit der kulturellen Praxis der ‚Freiheit‘.“

(ebd.: 94) Die Freiheit verdichtet sich in Open Ticket, einem Matsutake-Handelsplatz, wo in der Pilzsaison viele Menschen mit traumatischen Kriegserfahrungen aus dem Vietnamkrieg zusammenkommen, die meisten mit Migrationsgeschichte(n): „Weiße Veteranen inszenieren ihre Traumata;

Khmer heilen ihre Kriegswunden; Hmong erinnern sich an die Landschaf-ten des Kampfes; die Lao gehen an die Grenze“ (ebd.: 133). So unter-schiedlich die kulturellen Hintergründe und die Einsätze auch sind, haben die verschiedenen Gruppen doch gemein, dass die gesammelten Pilze ihr Auskommen für das ganze Jahr (zumindest mit)sichern. Außerhalb der kur-zen Sammelsaison entstehen so Freiheitsräume jenseits üblicher Arbeits-verhältnisse. Entlang der Matsutake-Handelskette kommt es zu zahlreichen kapitalistischen Übersetzungsprozessen.

Schließlich lässt sich am Beispiel des Matsutake lernen, wie bestimmte

„Waldgefüge“ (Tsing 2019: 219) entstehen, nämlich konkret durch das ge-meinsame Wirken von Menschen, Matsutake und Kiefern. Das Gefüge er-scheint dann als symbiopoietischer Effekt, der von kontingenten Begeg-nungen in zwischenartlichen Beziehungen abhängt und somit selbst wieder ein historischer Prozess ist. Für Tsing (2019: 223f.), die unter Geschichte

„die Verzeichnung von vielen Trajektorien der Welterzeugung“ versteht, machen Bäume Geschichte. Wie bei Deleuze und Guattari koexistieren auch bei Tsing Geschichte und Werden in einem Fluss voller Strudel:

„Kleine Störungen bilden Strudel innerhalb des Stroms der großen Störun-gen“ (Tsing 2019: 251). Die in diesem Sinn produktive Störung verliert ih-ren negativen Beiklang und „führt uns zur Heterogenität, einem Schlüssel-moment bei der Beobachtung von Landschaften. Störungen erzeugen Patches, die von unterschiedlichen Umständen geprägt sind“ (ebd.: 217).

Und Patches bilden Gefüge.

Weil für Tsing (2019: 291) nicht nur der Kapitalismus, sondern auch Wissenschaft etwas mit Übersetzung zu tun hat, erweist sich diese konse-quenterweise als „kosmopolitische Wissenschaft, die durch Zeiten und Räume über die Ursprünge und das Werden der Arten spekuliert“ (Tsing