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Imperative der Durchlässigkeit in Karin Amos' Werk und Wirken

Andrée Gerland

Präludium

Zunächst und persönlich unerlässlich: Es ist mir eine große Freude, mehr noch eine Ehre, einen Aufsatz zu dieser Festschrift beitragen zu dürfen;

nicht nur, weil ich mit Karin Amos einen langjährigen und beständigen Austausch pflege, sondern sie auch eine entscheidende Rolle in meinem Werdegang spielt und ich ihr in vielerlei Hinsicht einfach nur dankbar bin.

Zurück zum Sujet: Um die Motivation und das Anliegen des Aufsatz-Themas zu konturieren, bedarf es einer Rückkehr in das Jahr 2010. Eine Gruppe von vier Studierenden, die sich allesamt am Ende ihres Studiums in Tübingen befanden, nahm sich dem Werk Albert Camus‘ an – und wurde von seinen Worten und Ideen elektrisiert. Es war vor allem die Lektüre des Mythos des Sisyphos, die einen nachhaltigen Eindruck hinterließ und die das Bedürfnis nach einem angemessenen wie zeitgemäßen Echo drängend und schließlich unvermeidbar werden ließ. Denn wie sonst soll mit dem Zu-sammenstoß aus dem „Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schwei-gen der Welt“ (Camus 2010: 41) umgeganSchwei-gen werden? Wie kann man der Konklusion Camus‘ gerecht werden, dass „[d]as Absurde […] nur insoweit einen Sinn [hat], als man sich nicht mit ihm abfindet“ (ebd.: 46)?

Der Entschluss war bald gefasst: Unter dem Banner Das Absurde betrifft uns alle wurde am 23. Juni 2011 ein Camus-Tag im Tübinger Clubhaus ini-tiiert – nicht zuletzt, um dabei dem Absurden mutig und

konsequenter-weise, wie vom Impulsgeber gefordert, „ins Auge zu sehen“ (ebd.: 71). Da-bei sollten die Anliegen des französischen Philosophen nicht nur rehabili-tiert und diskurehabili-tiert werden, sondern es wurde zeitgleich der Versuch unter-nommen, ein neues Format der Wissenschaftskultur zu erproben, mehr noch zu etablieren, indem in Panels jeweils zwei Vertreter*innen unter-schiedlicher Disziplinen sich nach einem Kurzvortrag in einem moderier-ten Dialog begegnen mussmoderier-ten.

Dass diese Veranstaltung, die als Initialzündung für drei daraus entstan-dene Wissenschaftskarrieren fungierte, letztlich reüssierte, hing vor allem mit einem Namen zusammen: Karin Amos. Sie unterstützte das Anliegen sowie das Format von Anfang an und sie war sich auch nicht zu schade, für dieses Event als Patin und Partizipierende zur Verfügung zu stehen; mehr noch: nach der Veranstaltung ging sie zielstrebig auf die Organisatoren vor dem Clubhaus zu und meinte, dass diese Veranstaltung für sie insbesondere eins sei: ein Geschenk. Und wie ernst es ihr um dieses Präsent war, unter-mauerte sie im Anschluss dadurch, dass sie aus eigenen Lehrstuhlmitteln eine Publikation der Veranstaltungsergebnisse ermöglichte – das war das größtmögliche Gegengeschenk für uns.

Diese Offenheit, Zugänglichkeit und dieses unerschütterliche Interesse am Austausch auf Augenhöhe, die als Attribute aus dieser Anekdote über Karin Amos hervorgehen, kennzeichnen bereits entscheidende Momente, in denen es im Folgenden gehen wird: Das Umgehen miteinander im per-meablen Sinne. Aber der Reihe nach.

Permeables praktizieren

Permeabilität ist eine Analysekategorie, die in den Sozial- und Kulturwis-senschaften bislang nur punktuell anzutreffen ist und deshalb einer Erläu-terung bedarf. Aus dem Lateinischen ‚permeare‘ kommend hatte es ur-sprünglich die Bedeutung ‚durchgehen‘ und ‚passieren‘ inne – das erklärt auch die geläufige Gleichsetzung von Permeabilität mit ‚Durchlässigkeit‘.

Etabliert hat sich der Begriff in unterschiedlichen Disziplinen der Natur-wissenschaften: Sowohl in der Physik als auch in den Geowissenschaften und in der Biologie ist die Permeabilität anzutreffen und steht jeweils

grundsätzlich für die Durchlässigkeit von Stoffen. Hervorzuheben ist dabei die Eigenschaft der ‚Semipermeabilität‘. Diese Fähigkeit, die auch als ‚se-lektive Permeabilität‘ bezeichnet wird, zeichnet die Membrane aus, die sich gegenüber Molekülen lediglich halbdurchlässig zeigen, womit ein zentraler Naturvorgang überhaupt erst ermöglicht wird: derjenige der Osmose.

Lässt sich dieser essenzielle Bedeutungshorizont der Permeabilität auf Vorgänge in den Sozial- und Kulturwissenschaften übertragen? Bedarf es dies überhaupt – und was wäre der Mehrgewinn?

Um diese Fragen zu beantworten, lohnt sich ein Blick in den aktuellen Diskurs über das Phänomen der Grenze. Hier sind für den deutschsprachi-gen Raum insbesondere die Anliedeutschsprachi-gen und Ergebnisse des Forschungszen-trums B/ORDERS IN MOTION an der Viadrina in Frankfurt zu nennen.

In ihrem zentralen und überaus lesenswerten ersten Arbeitspapier betonen die Autor*innen, dass „Grenzmarkierungen, Grenzdurchlässe und Grenz-zonen [...] heute als untersuchungsbedürftige globale Phänomene“ figurie-ren (Schiffauer u.a. 2018: 5). Die Kultur- und Sozialwissenschaften müssten eine „Neukonzeptualisierung von Grenzen“ forcieren, weil hierzu der Dis-kurs nahezu auffordere, der „seit den 1990er Jahren vorangetrieben“ wor-den sei (ebd.: 7). Dass es hierzu in der Tat ergiebige Erweiterungen und Ausdifferenzierungen gibt, machen die Verfasser*innen deutlich, indem sie methodisch dafür plädieren, die zeitliche, die räumliche und die soziale Di-mensionen der Grenze auf drei Zustände abzubilden: den der Durabilität, der Liminalität – und den der Permeabilität. Zur Frage der Permeabilität wird dann ein erstes Forschungsfeld skizziert, bei dem es um Fragen gehen soll wie:

„Wie findet die Feinregulierung von Grenzen statt? Welche Perso-nen, Objekte und Informationen überschreiten eine Grenze, wel-che nicht? Wie werden Entswel-cheidungen über die Auswahl von Per-sonen, Objekten und Informationen getroffen, die die Grenze kreuzen sollen, und diejenigen, denen dies verweigert werden soll, festgelegt?“ (Schiffauer u.a. 2018: 19)

Anhand dieses ersten Fragekataloges, der hier lediglich auszugsweise wie-dergegeben wird, betonen die Autoren*innen, dass das „Management von Schnittstellen […] zur entscheidenden Aufgabe der Gegenwart“ (ebd.: 19) wächst.

Dieser Diagnose kann man vorbehaltlos zustimmen und sie ähnelt in ihrem Gestus den Imperativen, die die Forschungen zum Kulturtransfer und zur Transkulturalität der letzten Jahrzehnte artikuliert haben. Doch im Gegensatz zu diesen Ansätzen verwickelt sich der Permeabilitätsfaden nicht in einen oftmals fragwürdigen Kulturbegriff, der ja in den meisten Auslegungen bereits Trans-, Inter- und Transfermomente bereithält und sich deshalb in seiner theoretischen Ausrichtung nicht selten wie ein Pleo-nasmus liest; mehr noch: die Frage nach dem permeablen Moment offeriert das Potenzial, exakter und auch innovativer nach Grad, Dauer, Qualität und Nachhaltigkeit der Durchlässigkeit zu fragen.

Dieses Potenzial wurde in Ansätzen bereits in der Praxis erprobt, vor allem durch zwei Veranstaltungen aus den Jahren 2019 und 2020, die beide in Stuttgart unter Mitwirkung der Akademie Schloss Solitude stattfanden.

Zum einen das Festival Membrane. African Literatures and Ideas (Festival Membrane 2019), bei dem angestoßen von den Reflexionen Felwine Sarrs eine Durchlässigkeit als „Grundbedingung von Veränderung“ gesucht wurde, „die die Selbstreflexion der eigenen Geschichte und Gegenwart als die eines europäischen, aufgeklärten und individualisierten Subjekts und der Konstruktion eines unterlegenen ‚Anderen‘ bedingt.“ (Festival 2019:

o.S.). Folglich war es das Anliegen der Veranstaltung, den eurozentristi-schen Blick aufzubrechen und bislang unbekannte Literaturen Afrikas sichtbar zu gestalten. Einen anderen Ansatz verfolgte das Symposium Pa-radoxien des Fortschritts. Globale Durchlässigkeiten und Wandlungen avantgardisti-scher Ideen und Praktiken (Symposium 2020), das vom Verfasser dieser Zeilen mitorganisiert wurde. Im Bestreben, einen neuartigen Zugang zu den Avantgarden zu finden, unternahm man hier den Versuch, mithilfe der Durchlässigkeit die „inhärenten Paradoxien des Fortschrittgedankens auf den Prüfstand zu stellen“ (Symposium 2020: o.S.), wobei hier die Auslotung der Grenze der Klassen, der Medien und derjenigen zwischen Kunst und Leben im Fokus stand.

Diese zwei Veranstaltungsformate und die Ausführungen des Frank-furter Forschungszentrums zeigen, dass sich der Permeabilitätsfaden durchaus und sogar fruchtbar auf die Sozial- und Kulturwissenschaften als methodisches Narrativ anwenden lässt. Eine Disziplin könnte vom perme-ablen Deklinieren besonders profitieren, weil sie bislang in einem möglich-erweise einseitigen Bezug zur Durchlässigkeit steht: die Pädagogik.

Pädagogik permeabel praktizieren!

Tatsächlich spielt das Interesse an der Permeabilität in der Pädagogik bis-lang nur eine untergeordnete Rolle, was auch daran liegt, dass die Theo-riediskussionen von zwei anderen Termini bestimmt wird: Übergänge und Durchlässigkeit. Es lohnt sich, hier jeweils einen kurzen Blick in den Dis-kurs zu werfen.

„Übergänge als Momente und Situationen, in denen Rollen neu ausge-handelt und Identitäten neu ausbalanciert werden müssen“ stellen laut den Herausgeber*innen des Buches Pädagogik der Übergänge eine „ganz beson-dere pädagogische Herausforderung dar“ (Hof u.a. 2014: 238). Solche

„Momente“, die nicht selten auch als Schlüsselerlebnisse und -prozesse ar-tikulierbar sind, lassen sich schnell ausfindig machen – und so nimmt es nicht wunder, dass Übergänge „eine immer wichtiger werdende heuristi-sche Figur und Forschungsperspektive in den Erziehungs- und Sozialwis-senschaften“ darstellt (ebd.: 8). Etwas erstaunlich mutet es unter diesen Vorgaben allerdings schon an, wenn als Folie für pädagogische Reflexionen vor allem „alter- und lebenslagenspezifische, pädagogische Übergangshil-fen von der Kindheit bis ins hohe Alter“ (ebd.: 220) fokussiert werden.

Müsste nicht die Figur bzw. der Vorgang des Übergangs, gerade auch unter permeablen Gesichtspunkten, zuvorderst diskutiert werden? Wäre es nicht ratsam, sich nach einem bildungsphilosophisch grundierten Setting zu rich-ten, das die Facetten des Übergangs kenntlich macht? Wenn die Übergangs-forschung „Fragen der sozialen Regulierung von Übergängen mit der sub-jektiven Bewältigung von Übergängen“ verbinden möchte (vgl. Freitag u.a.

2015: 16), dann ließe sich einwenden, dass das Ausmaß, die Qualität und

der Grad an Übergang grundlegend zur Diskussion gehört und diese mit-bestimmt – also nicht übergangen werden darf. Damit wären wir bei der Permeabilität.

Eine ähnliche Situation zeigt sich beim anderen dominierenden Sujet, dem „bildungspolitischen Megathema“ (Hemkes u.a. 2019: 29) der lässigkeit. Tatsächlich scheint die Bildungspolitik den Begriff der Durch-lässigkeit momentan okkupiert zu haben, denn es gehen damit vehement vorgetragene „ökonomische [und] soziale Erwartungen nach mehr Bil-dungsgerechtigkeit“ einher (ebd.: 11). Insofern ist es nicht erstaunlich, wenn der Begriff und seine Semantik verstanden werden als „Zugänge zu einem Bildungsbereich zu ermöglichen und Wechsel zwischen den Bil-dungsbereichen zu erleichtern, indem Bildungsangebote so gestaltet wer-den, dass Teilnahme und Prüfung möglich sind“ (ebd.). Ein einleuchtendes wie konkretes Unterfangen; doch auch in diesem Fall wünscht man sich eine bildungsphilosophische Grundierung, wie denn Durchlässigkeit im Begegnungsszenario beschaffen sein sollte, damit sie gelingen kann. Das ist kein Nebenschauplatz; insbesondere, wenn ein Einführungskapitel den Titel „Herausforderung Durchlässigkeit – Versuch einer Näherung“ (ebd.) trägt, sollte doch der berechtigten Erwartung nachgekommen werden, das Begriffsfeld „Durchlässigkeit“ und sein Potenzial tatsächlich zu durch-leuchten – zumindest ansatzweise. Dass hingegen gleich in medias res ein-gestiegen wird und die Vorstellungen von Durchlässigkeit mit „Einfluss-faktoren“ wie „Fachkräftesicherung und Bildungsgerechtigkeit“ (ebd.: 12) genannt werden, zeugt von einer gewissen Unsensibilität gegenüber der Materie. Kein Einzelfall im Übrigen: Auch Kornelia Haugg setzt in ihrem Aufsatz auf die einprägsame Überschrift „Durchlässigkeit ist machbar“

(Freitag u.a. 2015: 9), ohne zu klären, was man alles unter Durchlässigkeit verstehen und subsumieren könnte. Das hinterlässt beim Leser die Frage, warum Durchlässigkeit überhaupt in Frage gestellt werden sollte und nicht per se machbar sein müsste.

Diese zwei skizzierten Leerstellen, die bei der theoretischen Implemen-tierung der Konzepte „Übergänge“ und „Durchlässigkeit“ ins Auge fallen, können durch den Ansatz der Permeabilität – zumindest partiell – aufge-fangen werden. Dafür wäre natürlich ein größerer theoretischer Anlauf und

Rahmen vonnöten; für den vorliegenden Aufsatz begnüge ich mich damit, das Permeable anhand der Formel „Pädagogik permeabel praktizieren“

fruchtbar zu gestalten. Dies zum einen, weil damit im kommenden Kapitel das Werk und Wirken von Karin Amos tatsächlich einen adäquaten Nenner findet; zum anderen soll aber auch deutlich werden, dass man den aktuellen Diskurs um Permeabilität ausbauen kann. So konzentriert sich das bereits mehrfach genannte Working Paper der B/ORDERS-Gruppe lediglich auf

„Personen, Objekte und Informationen“ (Schiffauer u.a. 2018: 19), wenn es um diejenigen Entitäten geht, die die Grenze bei einer bestimmten Durchlässigkeit durchschreiten können. Und sogar Francesco Magris er-wähnt in seiner ansonsten anregenden Schrift über Die Grenze ausschließ-lich staatausschließ-liche Grenzen, wenn die „Durchlässigkeit“ zur Diskussion steht (vgl. Magris 2019: 35). Das ist mindestens beachtlich, wird doch der Durch-lässigkeitsterminus im Untertitel des Buches explizit aufgeführt (Die Grenze. Von der Durchlässigkeit eines trennenden Begriffes).

Das Banner „Pädagogik permeabel praktizieren“ schließt hingegen ex-plizit Vorgänge mit ein und erweitert damit den Fokus der Prozesse, die es hinsichtlich ihrer Permeabilität zu analysieren lohnt. Unter dem Banner wird eine gewinnbringende Vermittlung und Praktizierung von Durchläs-sigkeit im pädagogischen Kontext verstanden. Hierbei wird also die Adver-biale „permeabel“ als bereits gelungen-durchlässig übersetzt – nicht nur als durchlässig an sich. Was das genau bedeutet, will der folgende Katalog skiz-zieren. Dieser versteht sich als erster Aufschlag für eine neue – auch bil-dungsphilosophische – Diskussion um das Thema der Permeabilität; er muss demzufolge in weiteren Reflexionen vertieft, erweitert, angepasst und konkretisiert werden.

Wagen wir dennoch den Auftakt: Pädagogik permeabel zu praktizieren wird verstanden als:

1. … das Ansinnen und die Fähigkeit, die Grenzen der Wissenschaft zu reflek-tieren und zu hinterfragen und damit im Transferprozess durchlässiger zu gestalten. Dass die Wissenschaft nicht den heiligen Gral darstellt, sondern bisweilen an ihre Grenzen stößt und diese auch

anerken-nen muss, mag zwar wie eine Binsenweisheit klingen, dies aber be-wusst anzusprechen und sich dieser Aufgabe als Wissenschaftlerin auch konkret zu stellen, ist wiederum keine Selbstverständlichkeit, sondern erfordert ein starkes Bekenntnis zur formulierten Agenda.

Dabei sollte dieses Bekenntnis zur Grundhaltung im akademischen Alltag gehören, denn Wissenschaft kann nur dann mit Zuspruch und Glaubwürdigkeit rechnen, wenn man aktiv an ihrer Durchläs-sigkeit arbeitet – und sie eben nicht apotheotisch inszeniert.

2. … das Ansinnen und die Fähigkeit, die Grenzen der Pädagogik zu reflektie-ren und zu hinterfragen und damit im Transferprozess durchlässig zu gestal-ten. Was hinsichtlich der Durchlässigkeit für die Wissenschaft gilt, hat natürlich auch hinsichtlich der Disziplin Pädagogik Bestand.

Wo muss die Pädagogik ihre (Wissens-)Grenzen anerkennen und wie vermittelt sie diese? Wie kann sie sich hinsichtlich Räumen, die sich ihres Zugriffes teilweise entziehen, durchlässig zeigen, ohne zu pauschalen Antworten zu gelangen? Auch hinsichtlich der im-mer wieder eingeforderten Interdisziplinarität wäre der permeable Imperativ anzuwenden. Aber nicht, indem man mit anderen Dis-ziplinen nur um der Fördergelder oder der akademischen Geste willen in den Dialog tritt, sondern weil man von einem permeablen Austausch überzeugt ist und die damit verbundene Erweiterung der eigenen Disziplingrenzen als notwendig ansieht.

3. … das Ansinnen und die Fähigkeit, die Grenzen der eigenen Möglichkeiten als Wissenschaftlerin und Lehrkörper zu reflektieren und zu hinterfragen und damit im Transferprozess durchlässiger zu gestalten. Dies ist wahrschein-lich die umfassendste Ebene der Permeabilität, die diejenige der Disziplin und Wissenschaft inkludiert: Sich als Akademikerin offen zu zeigen, sich grundsätzlich und elementar dem Austausch zu stel-len – auch und gerade über das Hierarchiegefüge Professorin-Stu-dentin hinweg. Dabei will man als Mensch – als angreifbarer und fehlbarer Mensch – sichtbar bleiben, authentisch sein. Das stellt eine große Herausforderung dar, weil es hierfür keine gelingende Rezeptur gibt und weil diese Aufgabe an die Substanz geht; aber nur so wird deutlich, dass es Arbeit darstellt, kapazitätsaufwändige

Arbeit, Durchlässigkeit zu praktizieren. Diese Arbeitsinvestition ist unerlässlich, wenn man die Grenze, die man zu überwinden sucht, geradezu performativ sichtbar machen möchte; eine Barriere, vor der man auch durchaus scheitern darf, weil sie nun mal eine um-fassende darstellt.

4. … das Bemühen, dem Akt der Grenzerfahrung mutig und neugierig gegen-überzutreten. Dieser Punkt führt interessanterweise zu einem Bedeu-tungskern dessen, was unter „Rand“ oder „am Rande“, also

„borde“, zu verstehen ist. Hierzu führt der bereits erwähnte Francesco Magris aus, dass unter „borde“ auch das „Bord des Schiffes“ gemeint sein kann, „vor allem […] wenn der Wind scharf von vorn“ kommt (Magris 2019: 11). In diesem Kontext wächst sich „borde“ als „Synonym für Risiko und Mut“ (ebd.) aus – was übertragen auf die Grenze die Ableitung zulässt, dass man ihr mu-tig und entschlossen begegnen sollte. Das erinnert an das Motto der Universität Tübingen – „Attempto!“, also „Ich wage es!“ – und ruft zu ihrem Einhalten auf: Wenn es um die Grenze und die Gren-zerfahrung geht, muss man die Begegnung wagen, sich ihr stellen.

5. … das Bemühen, im Akt der Grenzerfahrung auch als Filter zu fungieren.

„Permeables praktizieren“ darf nicht als ein Vorgang verstanden werden, bei dem durchlässig gegenüber allem und jeden praktiziert wird. Vielmehr kommt es darauf an, an den entscheidenden Stellen als Filter zu wirken und insbesondere diskurshemmende oder dis-kursschließende Elemente zu benennen und diese herauszufiltern bzw. ihnen nicht die Diskurshoheit zu überlassen. Als vitalisieren-der Filter zu fungieren, wie die Membran, ist für die Diskursregu-lierung von zentraler Bedeutung und erfordert die im vorigen Punkt umschriebene Courage. Hierzu ließen sich Parallelen zur Kulturgeografie entwickeln und zur „permeability of buildings“, wie sie unter Anderem von Lloyd Jenkins diskutiert wurde, denn es geht dabei analog um die „De- und Re-Stabilisierung“ von Gren-zen in der Architektur (Schiffauer u.a. 2018: 11).

Pädagogik permeabel praktizieren!

Imperative der Durchlässigkeit in Karin Amos‘ Werk Den eben skizzierten Permeabilitätskatalog nun auf das Werk von Karin Amos anzuwenden, wäre ohne eine zeitliche und inhaltliche Rahmung für einen Aufsatz im Kontext einer Festschrift unangemessen. Ich habe mich daher entschlossen, ein paar einschlägige Schriften der vergangenen 15 Jahre in den Fokus zu stellen, auch weil man anhand dieser einen roten

„Permeabilitätsfaden“ erkennt, der sich nicht nur wie eine Agenda durch die Argumentationen zieht, sondern auch als Destillat des Forschungsvor-habens von Karin Amos verstanden werden kann.

Beginnen wir mit ihrer Abhandlung Internate bei Bueb und anderen: Zwi-schen Heilserwartung und Elitenreproduktion, die in einer vierten Auflage 2007 im Buch Vom Missbrauch der Disziplin zu finden ist. Schon im Titel macht Amos deutlich, was ihrem Pädagogikverständnis zuwiderläuft: Die Erwar-tung einer perfekten und heilen Welt, ein Musterrezept, mit dem sich alle Zweifel und Ängste beseitigen lassen. Vielmehr kommt es ihr auf die Mo-mente an, die sie im Buch des kritisierten Bernhard Buebs schmerzlich ver-misst: das Artikulieren von „Unterscheidungen, Zwischentöne[n] und Am-bivalenzen“ (Amos 2007: 135). Diese eingeforderte Abkehr von jedweder Pauschalisierung spiegelt grundlegend jene Momente wider, die soeben zur Permeabilität ausgeführt wurden: es geht um Durchlässigkeit der Wissen-schaft und der Pädagogik im Besonderen, weil hier der Austausch im Zent-rum stehen sollte und nicht die Erlangung eines festen Wissens-Aggregat-zustandes. Im Kontext der Internate weist Amos mit dieser Haltung überzeugend nach, wie Bueb die kritischen Momente – das „Drangsalieren […] Quälen Jüngerer […] der mögliche Missbrauch von Macht“ (ebd.: 158) – genauso außen vor lässt, wie das Thema „Reproduktion sozialer Eliten“

(ebd.: 150). Ihr Fazit ist deshalb eindeutig: „Bernhard Bueb hat keine Streit-schrift verfasst, sondern eine Jeremiade“ (ebd.: 168). Dieses Plädoyer für den Streit und das Zulassen des Zwistes in der pädagogischen Debatte zeugt von Mut, der ebenfalls im vorigen Kapitel als konstitutiv für das Per-meable artikuliert wurde. Eine Jeremiade, also ein Klagelied oder eine

Jam-merrede, beschreibt hingegen das unproduktive Gegenteil: weil es hier le-diglich um eine zu festigende und statische Meinungsäußerung geht, die sich ausschließlich zu reproduzieren sucht – und damit der notwendigen Durchlässigkeit und dem Austausch ausweicht.

Die skizzierte Courage, die Karin Amos auszeichnet, ließ sich beson-ders bei ihrem Engagement beobachten, mit welchem sie uns Studierenden in der bereits erwähnten Camus-Tagung im Jahr 2011 begegnete. Schriftlich

Die skizzierte Courage, die Karin Amos auszeichnet, ließ sich beson-ders bei ihrem Engagement beobachten, mit welchem sie uns Studierenden in der bereits erwähnten Camus-Tagung im Jahr 2011 begegnete. Schriftlich