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Notizen über Genauigkeit

Rainer Treptow

„Kunst, indem sie sich spröde macht gegen ihre Bedeutungen …“

(Theodor W. Adorno 1982: 21) Über Leonardo da Vincis Werke ist alles gesagt? Nein, unüberschaubar ist die Fülle an Abhandlungen, Bildanalysen und Deutungen, die bereits den Leonardo-Biographen und Kunsthistoriker Joachim Schumacher zu dem Eingeständnis veranlassten:

„Ich bilde mir nicht im geringsten ein, Fachmann auf dem weiten Feld der Spezialforschung zu sein. Ich habe einiges gelesen, und auch vieles ungelesen gelassen.“ (Schumacher 1981: 8)

Kein Spezialwissen zu haben, ist also kein Hinderungsgrund, es genauer wissen zu wollen. Es gilt, den Mangel daran nicht als Einschüchterung zu empfinden und dem erstaunlichen Werk Leonardos trotzdem auf den Grund zu gehen. Ebenso wie da Vinci selbst wurde es seit je verklärt und kritisiert. Nicht abschließbar ist die Anregungsvielfalt seiner Kreationen, weder für die Öffentlichkeit noch für wissenschaftliche Expert*innen, die dem Kreativitätswissen der Welt Neues hinzufügen, und zwar evidenzba-siert. Möglichst genau soll es sein, dieses Wissen.

Röntgenfluoreszenzuntersuchungen hatten längst unter dem Firnis mancher seiner Gemälde Schichten aufgedeckt, die die Korrekturen seiner eigenen Linien – oder der seiner Werkstattbeschäftigten – offenlegen (Vi-guerie 2010). Und zum Anlass seines fünfhundertsten Todestags machen Museen durch werkgetreue, handwerklich robuste Umsetzung seiner Ma-schinen-Skizzen auf ihn und auf sich aufmerksam (vgl. Seidl, Dürr und La

Corte 2019). Es sind allesamt Belege für jenen zwiespältigen schöpferi-schen Aufbruch einer Epoche, die als Renaissance bezeichnet wird. Sie war

„das Zeitalter der Erfindung von neuen Produktionsmitteln; noch eines Leonardos Muse war reich mit dieser Technik beschäftigt.

Aber der Erfinder, der Wagende ist selbst ein Novum unter Pro-duktivkräften.“ (Bloch 1977: 8)

Unter Beobachtung der Fürsten stehend, beginnen Welterfindung und Selbsterfindung, Person und Werk sich wechselseitig herauszufordern. Sie werden einander zugerechnet, rechnen sich selbst einander zu, das schaf-fende Selbst will sich nicht mehr verwechseln lassen. So verwundert nicht, dass Leonardos vitale Suche nach dem Verhältnis von Genauigkeit und Un-schärfe Spezialist*innen heute herausfordert, seinen Objekten mit den mo-dernsten Produktionsmitteln der Computerphysik der (Un-)Verwechsel-barkeit auf den Grund zu gehen. Worum geht es genau?

Salvator Mundi

Anfang des Jahres 2020 ist eine Nachricht zu lesen, die über Kreativität der Person und den Umgang mit ihren Ergebnissen bemerkenswerte Auskunft gibt. Es sei gelungen, einen Gegenstand, den Leonardo da Vinci um 1500 in seinem Gemälde dem Salvator Mundi in die linke Hand gelegt hat, zu entschlüsseln (Szentpetery-Kessler 2020). Nicht der kunstgeschichtliche Zweifel, ob das Bild tatsächlich Leonardos eigener Hand entstammt, konnte ausgeräumt werden, auch nicht, ob es sich noch auf der Jacht des Kronprinzen befindet, der es für 450 Millionen Dollar ersteigen ließ, oder ob es schon im Louvre Abu Dhabi aushängt (Frankfurter Allgemeine Zei-tung 2019). Die Nachricht lautet vielmehr: „Forscher entschlüsseln da Vin-cis mysteriöse Glaskugel“ (Szentpetery-Kessler 2020, o.S.).

Für Spezialist*innen, mehr noch für Uneingeweihte, verspricht der Ver-weis auf eine Entschlüsselung eine Entdeckung von etwas bislang Rätsel-haftem, gar Mysteriösem. Ähnlich der Keilschrift, der Hieroglyphen, des

Urknalls oder der Gensequenzen kann hier mit gesteigerter Neugier ge-rechnet werden. Sogar das „‚nebelige‘ Geheimnis der Mona Lisa“ sei be-reits „entschlüsselt“ (Welt der Physik 2020: o.S.). Soll es nicht sogar einen aufregend geheimen Da Vinci Code geben (Brown 2003; Howard 2006)? Da trifft die Nachricht gut, dass es jetzt mit dem Salvator Mundi, dem Welten-retter, so weitergeht, jenseits des nur Ausgedachten. Wie war die Glasku-gelentschlüsselung möglich?

„Mithilfe der Computergrafik-Software ‚Inverse Rendering‘ erstellten die Forscher eine dreidimensionale virtuelle Version der Szene aus dem Gemälde und modellierten dabei verschiedenartige Kugeln, um zu sehen, wie sie das Licht brechen würden.“ (Szentpetery-Kessler 2020: o.S.)

Das Ergebnis? „Die Vergleiche ergaben, dass Jesus keine massive Glasku-gel halten kann, sondern das Objekt hohl sein muss“ (ebd.: o.S.).

Hohl. Nicht massiv.

Abwege

Bei den in der sakralen Symbolwelt Unkundigen mag die Nachricht erst einmal Kugel-Assoziationen der unterschiedlichsten Art auslösen. Nehmen sich die Computerexpert*innen schon die Freiheit, dem Ehrfurchtgebie-tenden nahe zu kommen, indem sie die Darstellung des Sakralen in ein nüchternes Messproblem verwandeln, so versammeln sich die Einfälle der Nicht-Expert*innen zunächst als Objekte aus der Welt des Säkularen, ja des Profanen. Kanonenkugeln oder das Boule-Spiel kommen aber kaum in Frage. Hier sind Eisen, Aluminium oder Holz der Stoff der Form. Obwohl sie hohl sein können. Auch die luziden paperweights, Briefbeschwerer in Ku-gelform, sind fast alle massiv, noch dazu wegen ihrer Rollneigung abgeplat-tet. Glaskünstler*innen aus Murano schmelzen teils hübsche Farben darin ein, millefiori, manch stattliche Sammlung breitet sie aus (vgl. Buchheim-Museum 2020). Dann glitzern da Glasmurmeln, die fürs Spiel funktional, allerdings viel kleiner sind, schließlich noch Glasperlen – alles abwegig.

Auch die Erinnerung an das Zelt auf dem Jahrmarkt, in dem die greise Wahrsagerin der Nachfrage nach den Zukunftsaussichten der ganzen Welt, vor allem aber dem als vorbestimmt begriffenen Schicksal der Lebenswelt der Besuchenden nachkommt, führt nicht weiter. Wenn sie dann im Halb-dunkel die Textur der Handfläche ausliest, die neben ihrer von eingeschlos-senen Luftbläschen durchzogenen Kugel liegt – sie könnte auch aus Kris-tall sein –, um schließlich im Duft einer Mischung aus Räucherstäbchen und Patschuli-Öl das visionäre Ergebnis ihrer Linienlektüre zu verkünden, gerät das beschämend nah an Aberglauben, wäre es nicht gemildert durch jene Spielart dröhnender Heiterkeit, die auf der lauten Kirmes Urständ fei-ert. Kontingenz zukunftssicher in Bestimmtheit überführend, sieht sich die Kugelbesitzerin im sorgfältig gedimmten Dämmerlicht zwischen dem Ei-gennutz des biographischen Wissensbegehrens und dem Aussprechen des Kommenden, und zwar mittels eines durch geblähte Lichtvergrößerung unterstützten visionären Vermögens zur Wahrheit, und dies genau an der Stelle, an der Jahrmarktbesucher*innen nur der Schleier des Nichtwissens blieb.

Und dann geraten noch Weihnachtskugeln in den Vorstellungshori-zont, jene sakralnahen Schmuckstücke, die der Vielfalt möglicher Motive vor allem eines bieten: Leichtigkeit. Sie sind auch hohl, aber wesentlich später erfunden und noch später massenhaft produzierbar geworden. Sol-che Einfälle, noch dazu, wenn sie auf hübsSol-che Dekoration der Lebenswel-ten abstellen, verfehlen jedoch das Herrschaftssignum jenes so bedeuLebenswel-ten- bedeuten-den Objekts in der Linken des Salvator Mundi, aufgetragen im Original oder fotografiert in den Kopien, die in Zimmern manch armer Leute hängen mögen.

Grenzen der Robustheit

Herrschaftssymbolisch ziselierte Reichsäpfel, sogar auch Kleinglobusse zur damals bekannten Welt, sind über Leonardos schöpferischer Variation der Portraitkunst kunstgeschichtlich über die Renaissance hinaus verbürgt (Lippincott 2002). Eines aber scheint aus dem lebensweltlichen wie kultur-geschichtlichen Erfahrungsschatz heraus verallgemeinerbar zu sein: Neben

ihrer Eigenschaft, anders als ein Kleinglobus, transparent und gegenüber diesem geradezu eine Abstraktion zu sein, ist eine hohle Glaskugel leichter als eine massive, genauer: sie wiegt weniger. Mitunter ist sie von größerer Zerbrechlichkeit, der Bruchpunkt kann aber von der Fallhöhe und der Be-schaffenheit des Bodens abhängen, auf den sie aufschlägt. Aber ganz wich-tig für die Wertung der physikalischen Tatsache ist im Kontext der sozialen und kulturellen Beziehungswelten der Menschen Folgendes: Zerbrechlich-keit gilt hier keineswegs durchweg als eine negative Eigenschaft, der das positive Ideal der Robustheit herausfordernd gegenübersteht, gleichsam als Ideal der Stärke gegenüber der abgewerteten Schwäche. Porzellan ist auch zerbrechlich und wird nicht, auch nicht von Elefanten, dauernd zerdeppert, um seine Belastbarkeitsgrenze triumphierend vor Augen zu führen – seht her, wie schwach und leichtbrüchig es ist! Und Gemälde – sind sie nicht unfassbar fragil, steigt ihr jenseits des Geldes anzusetzender Wert nicht ge-rade dadurch? Dünnwandiges hat vielmehr Alltagswert, gege-rade weil auf die Wahl seiner Destruktion verzichtet und nicht wie bei polternden Hoch-zeitsfeiern auf das Glücksbringende der Scherben vertraut wird (vgl. Rem-berg 1995).

So geht es insgesamt um Robustheit in den Grenzen ihrer Fragilität.

Eignet sich nicht Leonardos Wahl der hohlen, transparenten Kugel bestens, um die Botschaft von der Zerbrechlichkeit der Welt und allem, was über sie hinausgeht, zu verkünden? Und zwar nicht nur die der scheinbar mas-siven Materie, sondern die der Welt der Menschen, ihrer Lebenswelten?

Glück und Glas, wie leicht bricht das! Ist dies die Spur, auf die das Gemälde uns führt: Salvator hält eine Miniatur einer als zerbrechlich entworfenen Schöpfung, die eben deshalb mindestens auf besonderen Schutz, letztlich auf Rettung angewiesen ist? Die Menschenwelt kann dieses Symbol, gäbe es überhaupt eine Botschaft Leonardos, als Ermutigung deuten, sich halb-wegs sicher in der Hand des Salvators aufgehoben wissen. Obwohl er sie doch jederzeit fallen lassen könnte – werden Vertrauen und Glaube der Betrachtenden nicht durch die hochgenau diesseitige Darstellung des be-sonders Zerbrechlichen unterstützt? Wenn ein so weitgreifend bedeutendes Objekt für alle durchsichtig und zugleich dermaßen fragil ist und für Ver-letzlichkeit der Menschen, der Welt, ja der Schöpfung überhaupt steht,

müssen wir dann, für die heutige und die vergangene Zukunft, nicht solide, also genau, wissen, wie sehr dies und in welchem Ausmaß es der Fall ist?

Licht, Nichtwissen und Eindeutigkeitsbegehren Hier mischt sich Naturwissenschaft in Kunstgeschichte und kulturelle Bil-dung ein, wird von ihr geradezu zu Hilfe gerufen. Seit langem hat sie er-heblichen Einfluss auf die deutende Betrachtung, nicht nur auf die Ab-sichtlichkeit der Konstruktionsleistung der Maler*innen, sondern auch auf die der Rezipient*innen, nicht zuletzt auf das Eindeutigkeitsbegehren, das die ästhetische vielleicht reizvolle Ambivalenz zugunsten der Unterschei-dung zwischen echt und nicht-echt zurückgestellt wissen möchte, übrigens auch aus Gründen des Kauf- und Verkaufspreises. Wieder einmal soll Ge-naues zutage kommen. Dabei hat Naturwissenschaft die stärksten Leistun-gen, auf die die Bezeichnung Kreativität anzuwenden ist, im Rücken: die Auseinandersetzung mit Licht. Als die Trennung zwischen Kunst und Wis-senschaft noch nicht klar vollzogen war, und das war in der Renaissance der Fall (vgl. Burckhardt 2009), umfasste diese nicht nur die zeitgenössische Malerei, die die Sehgewohnheiten durch die Visualisierung geometrischer Gesetze aufsprengte – und sich im geschichtlichen Gestaltwandel zur Abs-traktion der sogenannten Moderne eben davon wieder verabschiedete. Dar-über hinaus umfasste sie die mathematischen Berechnungen seiner Bre-chung, die experimentelle Aufspaltung seines Farbspektrums (Newton 2010/1730), die Messung seiner Geschwindigkeit und Krümmung (Ein-stein 2006/1911), ja der Rückschluss auf sein Verschlucktwerden (Hawking 1975). Diese sind – lux mundi – ebenso wegweisend, wie die Bündelungs- und Streuungstechnologien, die mit Linsen, Lupen für Nah- und Fernsicht zu tun haben. Um die Erde werden Laser, Glasfaser, Wellen und zugleich Korpuskeln geschickt, machen Smartphones ebenso funktionstüchtig wie Teleskope zur Veranschaulichung von Billionen Galaxien. In höchstem Maße kreativ verwirklichen Physik und Mathematik also eindrucksvoll die Chance, Natur als gesetzmäßig zu begreifen, diese in Form von Technolo-gien herrschend anzuwenden, Anwendungen auf alltägliche Lebenswelten

permanent rückwirken zu lassen, kurz: ihre erleichternde und gefährdende Macht zugleich zu erlangen, zu erhalten und zu erweitern.

Das Bündnis von Kreativität und Genauigkeit

Das Bündnis von Kreativität und Genauigkeit hat sich bewährt. In diese physikalische Forschungstraditionen der intensivsten Theoriearbeit und anwendungsinteressiertester Projektförderung wird die Hervorbringung neuer Einsichten und Objekte auf die Erlangung größtmöglicher Exaktheit – gezwungen? Nein: sie wird gesucht. Kreativität ist hier auf die Errei-chung maximal möglicher Präzision im Schöpferischen angelegt. Durch die Verwerfungen fehlerhafter Versuche hindurch bindet sich schöpferisches Vermögen an die Selbstverpflichtung der Naturwissenschaften, die mit dem historischen Entwicklungsstand technischer Instrumente Schritt hal-ten müssen und zugleich deren Vorreiter sind, sine qua non. Sie wollen jetzt aus Fehlern lernen, systematisch und nicht bloß en passant im Irrtum das Potential erkennen, wollen die Pseudoexaktheit von Exaktheit unterschei-den. Genaue Angaben zur Abweichung von Regelmäßigkeiten und Reich-weiten gehören zum state of the art; und dies nicht nur, weil Lichtstrahl und Gravitationsgesetz vermutlich der Zustimmung der Menschen gegenüber gleichgültig sind, sondern weil die scientific community und alle in der Wis-sensgesellschaft Wohnenden Nachvollziehbarkeit, Transparenz erwarten.

Nicht zuletzt soll es sich in der wiederholten Anwendung bewähren, seine physische Seite dann in soziale Verlässlichkeit übersetzt werden, wenn die Nicht-Expert*innen dem Expert*innenwissen ‚Glauben schenken‘ sollen.

Ohne Genauigkeit wird auch das Vertrauen zerbrechlich.

Umgekehrt ist die Verpflichtung auf Exaktheit eine Herausforderung, die zu neuen Kreativleistungen anspornt. Gott („der Alte“) würfele zwar nicht (Einstein, Born und Born 1972: 97f.), doch braucht der heiter-ge-strenge homo ludens hier, wie beim Murmelspiel, Regeln, um die Freiheits-räume zwischen vorlaufender Unbestimmtheit und eingetroffener Bestim-mung zu nutzen (Schiller 2000/1801). Der vernünftige Gebrauch der Freiheit im Einflussgebiet der Unvernunft eröffnet die wissenschaftliche Welt der Optionen, auf kontrollierte Weise Zufall mit Notwendigkeit zu

konfrontieren, Grenzen zu erkennen und zu verschieben, Gewohnheiten zu erleben und zu durchkreuzen – allesamt Merkmale des Kreativen, ob absichtsvoll durchgespielt, experimentell kontrolliert oder per Zufall auf-genommen. Und dann erreicht jene Selbstbindung an den Imperativ der Präzision auch noch das Eingeständnis einer Erkenntnis, die als „Un-schärfe“ (Heisenberg 1927; 1969) anzuerkennen ist, so dass zuletzt auch diese Verpflichtung zur präzisesten Eindeutigkeit gelockert werden muss, ohne sie jedoch völlig abzuschütteln. Alles dies zusammengenommen:

Welch eine Herausforderung besteht darin für die Künste und ihre Analy-tiker*innen, ihr Schöpfungspotential gerade dadurch sowohl zu entfalten als auch abzugrenzen von der Bindung an technisch-instrumentelle Ver-nunft, Person und Produkt zu lösen von der „Pseudomorphose des Geistes an die unwiderstehlich erfolgreiche mathematisch-naturwissenschaftliche Methode“ (Adorno 1982: 32).

Welch eine Chance, im Kräftefeld der Präzisionen das Andere dazu zu kultivieren.

Weltkugelsimulation, Hintergrundverdunkelung und Entzauberungsgewinn

In jenem weltlichen naturwissenschaftlichen Forschungsumfeld, das sich durch den Zuwachs an digital möglichen virtuellen Modellsimulationen ge-waltig ausdehnen konnte und heute Allen ermöglicht, Erd- oder Himmels-kugel auf dem Display des Notebooks herumtanzen zu lassen, Google Earth, in dem die Intros von Nachrichtensendungen mit mehrfach rotierenden vir-tuellen Globen aufwarten (vgl. z.B. Zweites Deutsches Fernsehen 2020), scheint die Forschungsleistung der Rekonstrukteur*innen einer Glaskugel-Darstellung in sakralem Kontext gut aufgehoben. Die Forschenden haben sich nicht mit der Anschauung des Salvator Mundi begnügt, sondern sie durch kritische Befragung in die kreative subjektive Leistung der Rezeption und Reflexion transformiert, um dann Argumente für den erheblichen me-thodischen Aufwand zu gewinnen, den das sinnvolle Hantieren mit digita-len Instrumenten nötig macht (vgl. Liang, Goodrich und Zhao 2019). Weil

höchste Genauigkeit möglich ist, wird sie nun zur Richtschnur der analyti-schen Schöpfungskraft derjenigen, die den Genauigkeitsanspruch anderer überprüfen.

Der Einfallsreichtum, der hier angewendet wurde, um den Exaktheits-anspruch (accuracy) eines Schöpfers der Renaissance an den technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters zu messen, tritt zu der manifestierten Kreativität Leonardos hinzu. Nachprüfung ist hier selbst ein kreativer Akt entlang der Frage, ob er vor fünfhundert Jahren noch hinter der aufbre-chenden Epoche perspektivischer Malerei zurück- oder schon auf der Fluchtlinie jener Exaktheitserwartungen liegt, die das digitale 21. Jahrhun-dert, aller Formentwicklungen der Malerei zum Trotz, meint, stellen zu dürfen. Schöpferisch ist die empirische Untersuchung des Anteils an Zu-kunftsexaktheit in Leonardos vergangenen Gegenwartswerken.

Wie ergiebig die physikalische Methode sowohl für die Erweiterung des Werkwissens als auch für die Deutungsrichtung der Bildinterpretation er-scheint, zeigt das Beispiel einer multispektralen Infrarot-Reflektographie, der das Gemälde von Jan Vermeer Das Mädchen mit dem Perlenohrring (1665) ausgesetzt wurde (Vandivere, Wadum und Leonhardt 2020). Vermeers Dar-stellung von The Girl in the Spotlight (ebd.), vielfach bewundert als eine die Moderne vorwegnehmende, beinahe plastisch wirkende Heraushebung des Gesichts durch Abdunkelung des Hintergrundes, hatte diesen ursprünglich in kräftig leuchtendem Grün gehalten; doch über die Jahrhunderte der Ta-ges- und Lampenlichtaussetzung verdunkelte dieses sich zu einem Schwarzton. So konnte die als intendierte Komposition gedeutete Darstel-lung, die Vermeer nach seiner Wiederentdeckung in den 1860er Jahren die Zuordnung als Modernist eintrug (vgl. Trinks 2020), entstehen, obwohl diese ansprechende Hintergrundverdunkelung von ihm gar nicht beabsich-tigt schien. Die Unterstellung, hier sei der absichtlich gewollte Vorschein der modernen Portraitkunst ersichtlich, wurde mit der Freilegung früherer Malschichten durch Infrarot und 3D-Modellierung in Frage gestellt, man-cher sieht in der computergestützten Aufdeckung gar eine Entzauberung der Moderne (ebd).

Sowohl bei Vermeer als auch bei Leonardo haben die Forschenden gute Argumente auf ihrer Seite. Hatte nicht Leonardo selbst immer wieder die

mechanische Berechenbarkeit des Unerkannten visualisiert, beschrieben, bewiesen – aber auch, absichtsvoll, zugleich mysteriös verschleiert, in den für ihn als typisch geltenden Sfumato verhüllt (Nagel 1993)? Und hatte sich nicht die Bewunderung des Publikums über Jahrhunderte auf diese seine Performanz eingelassen, indem sie das Spiel mit Vieldeutigkeit spielte, mit raffiniertem Verdecken, das, paradox genug, zugleich mit klarer und ein-deutiger Offensichtlichkeit aufwartet? Hat Leonardo dies nicht selbst, so-wohl im Salvator Mundi als auch in anderen Gemälden und oft in den Skiz-zen und Zeichnungen zur Mechanik von Flussläufen, Fluggeräten und Fernschussanlagen in bestechend ausdrucksstarker Klarheit in Szene ge-setzt (vgl. Codex Leicester 2016; Laurenza und Martin 2019)? Und wenn dann noch die erhabene Gestalt des Weltenretters mit den Mitteln einer exakt kalkulierten Darstellung der Kugelgestalt den mundanen Bedürfnis-sen der Gläubigen nach Wiedererkennung von Objekten aus dem Diesseits entgegenkommt, die säkulare Objekttreue also der überirdischen Aura eine evidenzbasierte Unterstützung unterlegt – dann ist dem Reiz des Nachmes-sens schwer zu widerstehen, noch dazu, wenn sich die Physik mit dem nun nicht mehr geheimnisvollen Exaktheitsstreben des Urhebers aus der Re-naissance in Einklang sieht. Ein Widerspruch zwischen sakralem Rettungs-versprechen und profanem Nachmessen ist nicht erkennbar, im Gegenteil.

Von jetzt ab, am Ende des Tages und der Nacht, sieht das Auge, nein: sieht der Mensch Anderes als vorher, hat der digitale Wissenszuwachs doch sei-nen kognitiven Betrachtungsrahmen in einem Detail verändert, das aber aufs Ganze geht.

Die Falte

Welche Überlegungen haben den falladäquaten Umgang in ihrem For-schungsprozess strukturiert? In Erinnerung gebracht wird optisches Grundwissen über fisheye-Krümmung:

„Hohlkugeln verzerren den Hintergrund auf eine bestimmte Weise. Beispielsweise wird eine gerade Hintergrundlinie, die durch

die Mitte der Kugel verläuft, nicht verzerrt. Nicht durch die Kugel-mitte verlaufende Linien werden dagegen so verzerrt, dass am Ku-gelrand eine Unterbrechung entsteht. Genau das zeigte eine Falte in Jesus' Gewand.“ (Szentpetery-Kessler 2020: o.S.)

Abgesehen vom Beweisstück, der Falte, die ihrerseits über die Jahrhunderte hinweg eine unüberschaubare Fülle an theoretischen und technologischen Überlegungen auf sich zog (vgl. Deleuze 2000) und die hier zum Indikator für Verzerrung wird, ist dieses Zwischenergebnis, Leonardo habe die Lini-enführung im Objekt technisch einwandfrei vorgenommen, erst einmal ge-sichert. Dann wird eine Interpretation angefügt, die von der Objektperfek-tion auf das PerfekObjektperfek-tionsbewusstsein seines Erschaffers schließt:

„Dies deutet stark darauf hin, dass da Vinci sich bewusst war, wie eine hohle Kugel gerade Linien im Hintergrund verzerrt. Mithilfe der Simulation schätzten die Forscher den Radius auf 6,8 Zentime-ter. Variationen der Dicke der Hohlkugelwand ergaben, dass sie nicht dicker als 1,3 Millimeter gewesen sein kann.“ (Szentpetery-Kessler 2020: o.S.)

Das ist ein für eine hohle Kugel nachvollziehbarer Messwert. Das Prü-fungsergebnis legt, so die Forschenden mit Referenz auf seine eigenen No-tizen (Richter 1883), nahe,

„… that Leonardo had an understanding of light refraction, (e.g.

no. 75, Fig. 8A), glass and crystal materials and diffused, direct, and reflected light (e.g., no.118, Fig. 8B), the relative position of

no. 75, Fig. 8A), glass and crystal materials and diffused, direct, and reflected light (e.g., no.118, Fig. 8B), the relative position of