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Unbedingt frei sein (wollen) – eine Reklamation

Laura Böckmann

Präludium

Unbedingt frei sein – wollen, oder können? Das klingt ein wenig antiquiert.

Verstaubt. Hat einen langen Philosophen-Bart. Als philosophisches Prob-lem habe ich es auch kennengelernt, und zwar zu Studienbeginn –das fühlte sich allerdings alles andere als staubig an: Wenige Jahre zuvor hatte Peter Bieri sein Buch unter dem Titel Das Handwerk der Freiheit (Bieri 2005) pu-bliziert und Studierenden wie Dozierende in der Tübinger Alten Bursa zer-brachen sich darüber den Kopf. In der Erziehungswissenschaft begegnete mir das Thema auf derart explizite Weise kein einziges Mal. Das mag für den Studiengang bezeichnend sein, bedeutet aber nicht, dass Selbstbestim-mung, Handlungsmacht und Determination in der Disziplin keine Agenda hätten. Innerhalb des pädagogischen Begriffsspektrums, das bei genauerem Hinsehen direkt auf das Problem des freien Willens verweist – neben Er-ziehung, Bildung, Sozialisation, Subjekt und Person vergesse man nicht Mündigkeit, Autonomie, Selbst- und Fremdbestimmung, Zwang und Ver-antwortung, um hier nur wenige zu nennen – werden Determination und Freiheit aber in der Hauptsache als soziale Determination und Handlungs-mächtigkeit verhandelt. Dem korrespondiert, dass der aus sozialwissen-schaftlicher, empirischer Forschung stammende Begriff Agency1 die Rede von Willensfreiheit weitgehend abgelöst2 zu haben scheint. Die Suche nach

1 Für einen systematischen Zugang zur Vielfalt von Agency-Konzepten vgl. Bethmann u.a. (2012).

2 ‚Abgelöst‘ ist vielleicht nicht das richtige Wort, da man sich nicht bewusst gegen den einen und für den anderen Begriff entschieden hat. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Perspek-tiven, die jeweils den Eigensinn des Menschen zu erfassen versuchen. Insofern eine stärker phi-losophisch geprägte Erziehungswissenschaft von einer fast durchweg empirisch geprägten „ab-gelöst“ wurde (vgl. Amos 2016a) und sich das Vokabular entsprechend innerhalb der

einem belastbaren kompatibilistischen3 Freiheitsbegriff (des Willens oder, in zweiter Instanz, einer Handlung) ist, bei allen Unterschieden, beiden Dis-kursen gemein; die zuletzt aufflammende inkompatibilistische, den freien Wil-len verneinende Position der Hirnforschung4, wird – das behaupte ich an dieser Stelle – zwar diskutiert und problematisiert, aber i.d.R. weder inner-halb der Philosophie noch den Sozialwissenschaften als belastbare Position vertreten.

Mit dem vorliegenden Text verfolge ich kein systematisches Anliegen.

Vielmehr nehme ich meine studiumsbedingte Position zwischen der Philo-sophie und der Erziehungswissenschaft sowie die Erfahrung einer speziel-len Beziehung – jene nun schon einige Jahre andauernde Verbindung zur Dozentin, Professorin und Mentorin Karin Amos – zum Anlass, eine ebenso eigensinnige wie persönliche Freiheit zu reklamieren, wie sie im Untertitel von Bieris Buch zum Ausdruck kommt, der da lautet: die Entde-ckung des eigenen Willens.5

Das klingt kitschiger, als es gemeint ist. Den eigenen Willen zu entde-cken meint nicht, einfach frei zu sein. Unser Wille macht uns Probleme, wir müssen uns um ihn kümmern – ein nie enden wollendes, anstrengendes Ringen um so etwas wie ‚Freiheit‘, das mehr ist als ‚nur‘ vernünftiges Über-legen und Handeln nach kritisierbaren Gründen. Und so handelt es sich bei dem vorliegenden Versuch um eine Art Reklamation gegen die gar zu theoretischen Versuche, so etwas wie ‚Freiheit’ zu erfassen.

Erziehungswissenschaft gewandelt hat, halte ich die Formulierung dennoch für angemessen. Da es in diesem Text um die Reklamation einer persönlichen Positionierung geht, wird die gesell-schaftliche Perspektive von Agency-Konzepten hier nicht zum Gegenstand gemacht. Ein syste-matischer Vergleich philosophischer und sozialwissenschaftlicher Perspektiven mit Blick auf menschlichen Eigensinn wäre allerdings wünschenswert – nicht zuletzt im Interesse einer päda-gogischen Anthropologie.

3 Kompatibilisten vertreten die Position, dass der Determinismus mit dem freien Willen verträglich sei. Determinismus wiederum bezeichnet die Annahme, dass alle Ereignisse die kausale Folge vorangegangener Ereignisse seien und von diesen zudem eindeutig bestimmt werden.

4 Die Experimente des Neurophysiologen Benjamin Libet in den 1980er Jahren lösten eine heftige Debatte um die Willensfreiheit aus. Neuere prominente Vertreter sind Gerhard Roth (2001), Wolf Singer (2002) u.v.a.m.

5 Karin Amos ist wie kaum ein* andere*r in der Lage, kritischen Eigensinn bei ihren Schützlingen zu fördern und herauszufordern. Dafür danke ich ihr von Herzen.

Einkreisung

„Wir sind, schrieb der Kritiker des ‚Encounter‘, fast buchstäblich so behandelt worden, wie es Dostojewski in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ so sehr fürchtete. Dostojewski war der Mei-nung, daß wir von dem durch die Wissenschaft behaupteten Deter-minismus bedroht seien, der jegliche Souveränität des Individuums, die sich in dessen freien Willen äußert, auf den Müllhaufen wirft […]. Er sah keinen anderen Ausweg, keine Rettung vor der grausa-men Vorhersehbarkeit unserer Taten und Gedanken, die uns der Freiheit beraubt, als den Wahnsinn.

[…] Nun ist aber dieser Determinismus, eine Marotte der Rationa-listen des 19. Jahrhunderts, gefallen und wird nicht mehr aufstehen, aber auf eine unerwartet wirksame Weise ist an seine Stelle die Wahrscheinlichkeitsrechnung mit ihrer Statistik getreten. […] Die Wissenschaft hat also nach dem Sturz des Determinismus ein Um-zingelungsmanöver vollzogen und sich von einer anderen Seite her an den Mann aus dem Kellerloch herangemacht“. (Lem 2018: 51f.) Ein solches Umzingelungsmanöver kann nicht zuletzt an der Entwicklung der Erziehungswissenschaft nachvollzogen werden; Karin Amos (2016a) spricht von einer „Durchempirisierung“ des Pädagogischen, die sich seit dem Schwerpunktwandel von einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu einer an empirischen Forschungsmethoden orientierten Erziehungswissen-schaft vollzieht. Darüber hinaus sei eine Verengung des Empirie-Verständ-nisses zu beobachten: Insbesondere das von der Empirischen Bildungsfor-schung transportierte Verständnis von Empirie blende Traditionen aus und erzeuge einen unhinterfragten Common Sense. Als „Gold Standard“ der Bildungsforschung werde „evidence based“ vor allem in Form randomi-sierter kontrollierter Versuche (randomized controlled trials, RCT) gehan-delt (vgl. Amos 2016a: 55f.). Neben der Anpassung der Erziehungswissen-schaft an die Standards einer an naturwissenErziehungswissen-schaftlich-technischer Forschung ausgerichteten „Normalwissenschaft“, müsse die Durchsetzung dieses Wissenschaftsverständnisses – dessen prominentester Ausdruck die

Algorithmisierung sei – als Zeichen der gesellschaftlichen Durchdringung der Wissenschaft (Szientisierung) aufgefasst werden, die wiederum in die Wissenschaft zurückwirke (Amos 2016a: 57).

„Das eine dominante Verständnis der ‚Empirie des Pädagogischen‘

setzt auf die Replizierbarkeit und Berechenbarkeit, auf immer prä-ziser werdende Methoden der Messung und Variablenkorrelatio-nen, kurz auf Komplexitätsreduktion, während das andere Ver-ständnis der ‚Empirie des Pädagogischen‘ Komplexitätsa-däquatheit, Unschärfen, Kontingenzen, Freiheits- und Entschei-dungsspielräume einbezieht und mit der Eigensinnigkeit der Sub-jekte und der Unprognostizierbarkeit ihres Verhaltens rechnet, diese aber dennoch streng wissenschaftlich zu erfassen sucht“.

(Amos 2016a: 61)

Diese Entwicklung ist nicht mehr ganz neu; Amos weist unter anderem auf die so genannte ‚Kybernetische Wende‘ der 1960er Jahre hin – eine Zeit, in der Stanislaw Lem begann, seine futurologischen Romane und Erzählun-gen zu schreiben. In seinen Schriften kommt auf ebenso hellsichtige wie humorvolle Weise zum Ausdruck, was Amos mit Verweisen auf Pongratz betont: Der Versuch, den Menschen mittels objektivierender Methoden

„approximieren“ zu wollen, setzt eine vorgängige Interpretation des Men-schen voraus, genauer: eine Anthropologie.6 Durch die Simulation dieser Anthropologie, so Amos, entsteht die Illusion von Sinn und Bedeutung (vgl. Amos 2016a: 67).

Lem spielt in seinen Erzählungen und Romanen die Wandelbarkeit von Sinn und Bedeutung meisterhaft durch. Er scheint auf ironische Weise da-vor zu warnen, die Perspektive einer technischen Wissenschaft als Quelle von Sinn und Bedeutung misszuverstehen. Gleichwohl ist diese Perspektive aber in den 1980er Jahren – Lems Eine Minute der Menschheit (siehe Zitat

6 „Schon in der Methode selbst steckt der uneingelöste Anspruch, der Weg zur Erkenntnis des Menschen gehe über seine Konstruktion im kybernetischen Modell, d.h. die kybernetische Me-thodologie impliziert selbst schon eine Anthropologie“ (Pongratz 1978: 19, zitiert in: Amos 2016a: 67).

oben) erscheint 1983 – noch eine äußerliche, deren Angebote und Lockun-gen man anzunehmen Lockun-geneigt, aber doch abzulehnen als fähig erachtet wurde. Die neuere Entwicklung wiederum scheint Dostojewskijs Mann aus dem Kellerloch zu einer antiquierten Ausnahmegestalt zu machen: Die Per-spektive der „Normalwissenschaft“ scheint uns überhaupt nicht mehr äu-ßerlich zu sein; aus einer Einkreisung, der man sich vielleicht durch Wahn-sinn zu entziehen trachten konnte, ist offenbar eine Einverleibung geworden.

„Kern der Disziplinartechniken ist die Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbstdisziplinierung, wobei Ziel der Fremddisziplinie-rung ist, dass sie in SelbstdisziplinieFremddisziplinie-rung ‚umschlägt‘, die Fremd-kontrolle zur SelbstFremd-kontrolle wird – ganz im Sinne des Schlüssel-bildes in Foucaults ‚Überwachen und Strafen‘, des Bentham’schen Panoptikums, mit dem der fremde Blick in den eigenen überführt wird“. (Amos 2016b: 200f.)

Amos führt aus, dass sich Kontrolltechniken zunehmend darauf ausrich-ten, nicht nur den Körper, sondern vor allem die Psyche in den Blick zu nehmen, Einstellungen und Haltungen zu fokussieren. Sie vertritt die These, dass zu dem Foucault’schen Tableau von auf den Körper gerichte-ten Disziplinierungsmaßnahmen ein weiteres disziplinarisches Regelwerk trete, „das sich als ausdifferenzierter Katalog zur psychischen Disziplinie-rung beschreiben lässt“ und die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdkontrolle obsolet erscheinen lasse. Dies drücke sich unter anderem in Form von ausdifferenzierten diagnostischen Instrumenten aus (Amos 2016b: 203).7 Unter Bezugnahme auf Byung-Chul Hans Aufsatz Psycho- politik führt sie schließlich aus:

7 Hier sieht Amos eine Gemeinsamkeit mit Schüler*innenleistungsstudien, die durch ihre Ver-knüpfungs- und Vernetzungspotentiale gekennzeichnet seien: Durch moderne VerVer-knüpfungs- und Kommunikationstechnologien erhalte „Kontrolle“ eine ganz neue Dimension. „Objekte“

schulischer Kontrollkultur seien aber nicht nur die Schüler*innen, sondern auch die Lehrer*in-nen und die gesamte Schule – sie beziehe sich auf Verhalten, DispositioLehrer*in-nen, Ergebnisse, Bezie-hungen und auf das System als Ganzes. Die herausragende Charakteristik der aktuellen Kontroll-Kultur sei „der Primat des Mess- und Zählbaren“ (Amos 2016b: 204).

„Letztlich bedeutet ‚Führung‘ auch und gerade im pastoralen Sinne, dass ich mich selbst ganz einem fremden Willen überantworte:

nicht mein Wille, Dein Wille geschehe. Han führt an dieser Stelle den Begriff der Transzendenz ein und stellt ihn der Immanenz des Lebens gegenüber. Die fremden (transzendenten) Bedürfnisse, die als eigene dekodiert werden, führten dazu, dass in der neuen Sub-jektivierung die Unterwerfung unter einen fremden Willen erhalten bliebe“. (Amos 2016b: 206)

Während in der Disziplinargesellschaft Kontrolle als Fremdkontrolle die primäre und Selbstkontrolle die sekundäre Form war – nach Kant: keine Mo-ralisierung ohne Disziplinierung – habe sich das Verhältnis umgekehrt:

Heute dominiert die Selbstkontrolle.

„Heute entblößen wir uns freiwillig ohne jeden Zwang, ohne jede Verordnung. Wir stellen freiwillig alle möglichen Daten und Infor-mationen über uns ins Netz, ohne zu wissen, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über uns weiß. Diese Unkontrollierbarkeit stellt eine ernstzunehmende Krise der Freiheit dar. Angesichts der Daten, die man freiwillig um sich wirft, wird außerdem der Begriff des Datenschutzes selbst obsolet. Wir steuern heute auf das Zeit-alter digitaler Psychopolitik zu. Sie schreitet von passiver Überwa-chung zu aktiver Steuerung fort. Sie stürzt uns in eine weitere Krise der Freiheit. Betroffen ist nun der freie Wille selbst“. (Han, Psycho-politik, zitiert in: Amos 2016b: 207)

Wie ist das zu verstehen? Inwiefern ist „der freie Wille“ jetzt, im „Zeitalter digitaler Psychopolitik“ betroffen, wo er es vorher noch nicht war? Bleibt dem Mann aus dem Kellerloch wirklich überhaupt kein Ausweg mehr?

Ach, Mein Dein

In der bisherigen Argumentation tritt ‚die‘ Wissenschaft als so etwas wie ein unsichtbarer Freund auf, der uns mit rhetorischen Argumentations- und Fintenreichtum einen Willen einzupflanzen scheint. Offenbar halten wir für wahr und sinnvoll, was den Stempel ‚evidence based‘ trägt, und kom-men überhaupt nicht mehr auf den Gedanken, dagegen ins Feld zu ziehen – sei es mittels Vernunft oder durch Wahnsinn. In dieser Perspektive kommt ‚mein‘ Wille nur noch als fremder Wille vor; der ‚freie‘ Wille wird zur Illusion erklärt – oder maximal zu einer ‚regulativen Idee‘ für unsere Vernunft.

Die These des freien Willens als regulative Idee vertritt auch Richard Münch (2011), ein Soziologe, der – was 2011 eine Hervorhebung wert ist – in der Tat von „Willensfreiheit“ und nicht von „Agency“ spricht. Münch richtet sich gegen die These einer vollständigen kausalen Determinierung des menschlichen Handelns und betont, es handele sich „immer nur um Prädispositionen, die in ganz unterschiedliche Handlungen umgesetzt wer-den, gerade unter Einwirkung von Wissen und Willen“ (Münch 2011: 920).

Allerdings beschäftigt er sich dann in aller Ausführlichkeit mit „überdurch-schnittlichen Häufigkeiten von Einstellungen und Verhaltensweisen bei be-stimmten Ausprägungen eines genetischen, psychischen oder sozialen Fak-tors“ (ebd.) – sodass sich auch der/die geneigteste Leser*in wundern mag, wo unter all diesen Dispositionen und Wahrscheinlichkeiten eigentlich noch Platz für einen (eigenen) Willen sei. Und doch kann Münch einen solchen ausmachen:

„Die Entwicklung einer Persönlichkeit, die zu moralischer Refle-xion und autonomer Entscheidung fähig ist, beruht auf einem komplexen Sozialisationsprozess, der mehrere Phasen durchläuft.

Es lassen sich demnach soziale Bedingungen dafür angeben, die Willensautonomie ermöglichen. Und es ist zu sehen, dass diese Entwicklung mehr oder weniger vollständig und erfolgreich durch-laufen werden kann. All das lässt sich auch unter der Bedingung sagen, dass neurobiologische, psychische und soziale Kausalitäten

die Ausübung von Willensfreiheit einschränken. Es geht ja nur da-rum, dass sich der Mensch von diesen Einschränkungen in einem gewissen, nicht von allen und nicht zu jeder Zeit gleich erreichten Maße befreien und dementsprechend mehr als das Tier reflektieren und autonome Entscheidungen treffen kann“. (Münch 2011: 922) Und schließlich:

„Verstehen wir unter Willensfreiheit die Fähigkeit des Menschen zu einem Handeln, das von Gründen geleitet wird, die sich im Hin-blick auf Wahrheit und Richtigkeit überprüfen lassen, dann ist sie keine Illusion, sondern eine regulative Idee, an der wir das mensch-liche Handeln messen können. Es ist die regulative Idee eines au-tonomen Subjekts“. (ebd.)

Die Willensfreiheit des autonomen Subjekts sei keine Frage des Ja oder Nein, sondern eine Frage des Mehr oder Weniger – nicht grundsätzlich sei mein Wille frei oder unfrei, sondern mehr oder weniger. Münch betont, dass wir unser Handeln von den Einflüssen, über die wir keine Kontrolle haben, teilweise befreien können, indem wir unsere Entscheidungen „mehr oder weniger auf kritisierbare Gründe stützen“ (Münch 2011: 922). Wir sollen uns Willensfreiheit also als eine Art vernünftigen Eigensinn vorstellen, den „zu kommunikativem Handeln“ fähige Menschen, deren Medium die Sprache, nicht die Kausalität sei (ebd.), ausbilden können. Ausbilden kön-nen sie eikön-nen solchen Eigensinn, indem sie zu manchen der von Sozio-log*innen, Psycholog*innen und Kognitionswissenschaftler*innen diag-nostizierten Prädispositionen und Wahrscheinlichkeiten anhand kritisierbarer Gründe „Ja“ oder „Nein“ sagen.

Münchs Hinweis auf den Modus der Sprache statt der Kausalität rich-tet sich gegen den andernorts behauprich-teten Determinismus – nicht aber ge-gen Kant, der die Freiheit des Menschen an seine Fähigkeit knüpfte, eine Kausalkette anzufangen. Diese Fähigkeit wiederum, so Kant, könne nur vom so genannten „noumenalen Selbst“ ausgehen, das außerhalb der kau-salen Ordnung der Natur, außerhalb der Zeit angesiedelt ist. Kant zufolge

müssen wir uns folglich von unserem empirischen Selbst distanzieren, da-mit uns Willensfreiheit zugeschrieben werden kann. So rekonstruiert Jo-hannes Giesinger (2010: 426) die kantische Position, wenn er sich mit der

„Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Erziehung“ auseinandersetzt. Er betont, dass die Rede von einer nicht-empirischen Vernunft (Kant) in eine Sackgasse führt: Wenn das noumenale, nicht-empirische Selbst mit mir als empirischer Person nichts zu tun hat, dann ist mein Wille ein zufälliges Ereignis. Es ist überhaupt nicht mehr mein Wille, nach dem ich handele, und meine Freiheit hat für mich keinen Wert mehr (vgl. Giesinger 2010:

429).

Wie auch Münch stellt daher Giesinger seine (bzw. eine basale Form von) Willensfreiheit auf empirische Füße: Er bestimmt Willensfreiheit als

„Handeln nach Gründen“, die man selbst akzeptiert, und Erziehung als

„Kommunikation von Gründen“ (Giesinger 2010: 429). Erziehung dürfe nicht, gleichsam als Pendant zur biologischen Determination, als pädago-gische Determinierung missverstanden werden und Freiheit nicht – wie etwa bei Luhmann – als Unberechenbarkeit. Erziehung sei normative Kom-munikation und das Kind habe die Fähigkeit, pädagogische Ansprüche zu-rückzuweisen oder zu ignorieren. Erziehung als Zwang wiederum be-schränke nur die Handlungsfreiheit, nicht aber die Freiheit des Willens.

Zwang steuere das kindliche Verhalten, führe aber nicht zur Akzeptanz von Gründen (vgl. Giesinger 2010: 431).

Wenn Giesinger Erziehung als normative Kommunikation konzipiert, die „einen Lernenden an[spricht], der bereits über Überzeugungen, Wün-sche und Wertvorstellungen verfügt, die er allenfalls höher gewichtet als die Gründe, die der Erzieher zur Geltung bringen möchte“ (Giesinger 2010:

433), dann will und kann er das mögliche Scheitern pädagogischen Han-delns verständlich machen. Er erklärt aber nicht, woher diese ‚anderen‘

Überzeugungen, Wünsche und Wertvorstellungen des Kindes kommen bzw. wie das Kind dazu kommt, sie als seine eigenen zu betrachten. Was wäre, wenn die Gründe, denen ein*e Schüler*in zu folgen geneigt ist (und die in Konkurrenz zu den moralischen Gründen stehen können, die zu akzeptie-ren eine Lehrkraft sie veranlassen möchte (vgl. ebd.)), gleichwohl fremde Gründe sind? Dann läge ein Fall scheiternden pädagogischen Handelns

vor, aber kein Beispiel für Willensfreiheit. Und nicht nur beim Scheitern pädagogischer Adressierung lohnt sich ein genauerer Blick. Während Gie-singer recht hat, dass sich Zwang gegen die Handlungs- und nicht gegen die Willensfreiheit einer Person richtet, so trifft das doch keineswegs auf nor-mative Kommunikation zu – zumal dann nicht, wenn sie in asymmetrischen Konstellationen stattfindet.8 Insbesondere im Falle gelingender pädagogi-scher Kommunikation besteht also Klärungsbedarf, ob es sich im Ergebnis um einen fremden oder den eigenen Willen handelt, dem Erziehungs-adresssat*innen folgen. Anders formuliert: Ich reklamiere hier einen an-spruchsvolleren Begriff von Willensfreiheit, weil m.E. das Handeln nach Gründen – kritisierbar hin oder her – das Attribut ‚frei‘ noch nicht verdient.

Mein Wille geschehe

„Mit Verlaub: Verstand, meine Herrschaften, ist eine gute Sache, das wird niemand bestreiten. Aber Verstand bleibt Verstand und genügt lediglich der Verstandesfähigkeit des Menschen. Das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, das heißt des gan-zen menschlichen Lebens, sowohl Verstand als auch alles andere Jucken eingeschlossen. Und wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung als rechte Nichtswürdigkeit erweist, ist es doch im-merhin Leben und nicht Quadratwurzelziehen. Denn ganz selbst-verständlich will ich leben, um meine gesamte Lebensfähigkeit zu

8 In einem späteren Text über Paternalismus als eigene Rechtfertigungsstruktur des Pädagogischen betont Giesinger (2019), dass man dem Problem der Macht, Autorität und Fremdbestimmung nicht ausweichen dürfe (vgl. Giesinger 2019: 262). In diesem Text definiert er Pädagogische Adressierung als „Minimalbegriff pädagogischen Handelns“ mit drei Punkten: 1. Asymmetrische Struktur (Status-Asymmetrie), 2. Ausrichtung pädagogischen Handelns auf Lernen und Entwick-lung, 3. Kommunikation als Mittel für Anregung und Anleitung zum Lernen (ebd.: 258). Im Zuge dessen schreibt Giesinger: „Die Adressaten sind der pädagogischen Kommunikation, die sich auf ihr Handeln und ihr Überzeugungs- und Wertesystem bezieht, in besonderer Weise ausge-setzt. Obwohl sie sich der pädagogischen Adressierung auf vielfältige Weise entziehen können, werden sie dazu neigen, das zu tun, was ihnen auferlegt wird, und das zu glauben, was ihnen gesagt wird. Obwohl Erziehung scheitern kann, bieten asymmetrische Konstellationen dieser Art – und entsprechende Formen der Kommunikation – die Möglichkeit, die Entwicklung und das Lernen von Personen maßgeblich zu beeinflussen“ (ebd.: 259).

befriedigen, nicht aber um zum Beispiel meiner Verstandesmäßig-keit Genüge zu tun, das heißt irgendeinem zwanzigsten Teil meiner gesamten Lebensfähigkeit“. (Dostojewskij 2020: 33)

„Sollten Sie behaupten, man könnte […] dies nach der Tabelle be-rechnen, sowohl das Chaos als auch die Finsternis und den Fluch9, so daß schon die Möglichkeit der Berechenbarkeit allem Einhalt gebietet und die Vernunft das letzte Wort behält – so wird der

„Sollten Sie behaupten, man könnte […] dies nach der Tabelle be-rechnen, sowohl das Chaos als auch die Finsternis und den Fluch9, so daß schon die Möglichkeit der Berechenbarkeit allem Einhalt gebietet und die Vernunft das letzte Wort behält – so wird der