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Oder: Christian Heinrich Zeller über Kleinkinderpflege und physische Erziehung

Sebastian Engelmann

Physische Erziehung – der Begriff erzeugt grafische Bilder, Vorstellungen von körperlicher Züchtigung, Maßregelung und Überwältigung. Der öf-fentlichkeitswirksam vorgebrachte Ruf nach Disziplin und Disziplinierung erscheint heute oft genug suspekt und wird von Vertreter*innen der Erzie-hungswissenschaft berechtigterweise kritisiert (vgl. Amos 2007). Obgleich dieser generellen Aussage zuzustimmen ist, hängt sie zugleich mit der Kör-pervergessenheit der Erziehungswissenschaft zusammen – im Zuge der Disziplinentwicklung wurden körperbezogene Praktiken zunehmend aus-geschlossen. Die Diskussionen um die Bedeutung von Körperlichkeit nimmt aber neuerdings wieder Fahrt auf. Die These, wir würden in einer zunehmend berührungslosen Gesellschaft leben (vgl. Thadden 2018), wird in einer sich auch physisch distanzierenden Gesellschaft immer plausibler.

Jüngere Arbeiten zur Genese der Pädagogik als Wissenschaft sprechen, ein-vernehmlich mit der neuerlich aufgenommenen Diskussion um den Körper in der Erziehungswissenschaft, von einer Entkörperung (Wehren 2020) des Denkens über die Erziehung, die sich beispielsweise in der zunehmenden Verwissenschaftlichung in den ersten Lehrbüchern zur Erziehung Ende des 18. Jahrhunderts zeigt. In diesen spielt der Körper zwar als Resonanzappa-rat eine Rolle, wird jedoch durch frühe neurophysiologische Überlegungen und moralisierende Entwürfe zur Charakterbildung überlagert (vgl. Engel-mann 2020a). Auch wenn eine solche Aussage für den sich etablierenden

wissenschaftlichen Diskurs der damaligen Zeit zutreffen mag, bleibt der Körper in popularisierten Schriften – gerichtet an eine konkret mit der Er-ziehungspraxis betraute, zumeist stillschweigend als weiblich imaginierte Leser*innenschaft – Hauptbezugspunkt pädagogischen Handelns. Er ist Bezugspunkt und Motor der potenziellen durch erzieherische Praxis ange-strebten Veränderung des Zöglings. Über die physische Erziehung des Kör-pers, so wird bereits hier als These formuliert, soll die Veränderung anderer Dispositionen ermöglicht werden. Weiter noch ist der Körper samt seinen verschiedenen Facetten für die Ratgeberliteratur durch die letzten 300 Jahre hinweg die Konstante pädagogischer Bezugnahme (vgl. Höffer-Mehlmer 2019). Heute taucht der Körper sowohl in theoretisch-abstrakter Perspek-tive als bildungsphilosophisch anregende Reflexionskategorie (Casale 2020) als auch in konkreter Form in einer zunehmenden Anzahl bildungs-historischer Arbeiten auf, die sich praxeologischer Fragestellungen anneh-men (vgl. Hoffmann-Ocon, De Vincenti und Grube 2020) oder das Thema anderweitig prominent platzieren (vgl. Berner 2018). Der Körper ist so als relevantes Thema in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion markiert – eine Körpergeschichte der Pädagogik steht weiterhin aus. Aus der Per-spektive der erziehungswissenschaftlichen Ratgeberforschung werde ich in diesem Beitrag die Frage beantworten, wie die oben bereits erwähnte phy-sische Erziehung in ausgewählter pädagogischer Ratgeberliteratur im 19.

Jahrhundert Form gewinnt. Damit schließe ich an bereits vorhandene Ar-beiten im Bereich der Ratgeberforschung an, die den Körper als relevant markiert haben (vgl. Höffer-Mehlmer 2019). Konkret gehe ich der Frage nach, wie physische Erziehung in den Erziehungsschriften des württem-bergischen Pädagogen, Juristen und Kirchenlieddichters Christian Heinrich Zeller (1779-1860) expliziert und in Form des pädagogischen Rats vermit-telt wird.1 Hierfür werde ich in einem ersten Schritt Christian Heinrich

1 Zellers Überlegungen drängen sich nicht gerade auf; nur selten finden sie Berücksichtigung in erziehungswissenschaftlichen Texten. Eine Auseinandersetzung mit Zeller ist dennoch geboten.

Der Pietist war nicht nur Teil der Inneren Mission, sondern auch eingebunden in die Diskussion über Armenfürsorge und Armutsbekämpfung – seine Schriften sind wohl auch Opfer der dis-kursiven Verknappung pädagogischen Sprechens geworden, die sich aus disziplingeschichtlicher

ler in aller Kürze vorstellen sowie sein pädagogisches Werk und dessen Re-zeption in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion verorten und den Forschungsstand zu Zeller umreißen. In einem zweiten Schritt folgt ein kur-zer Einblick in die erziehungswissenschaftliche Ratgeberforschung und den Forschungsstand zu Ratgeberliteratur im 19. Jahrhundert. In einem dritten Schritt wird am Material der Inhalt einer ausgewählten Schrift Zellers systematisiert und kontextualisiert. Der Text schließt mit einem Fazit, in dem ein Blick in die Gegenwart gewagt wird und weitere Forschungslinien in der erziehungswissenschaftlichen Ratgeberforschung aufgezeigt werden.

Christian Heinrich Zeller – Anmerkungen zu Biografie und Forschungsstand

Die Biografie Christian Heinrich Zellers und seiner Frau Charlotte Sophie Zeller hat bereits einige Aufmerksamkeit erfahren. Sie soll hier nicht im Mittelpunkt stehen; einige Eckpunkte müssen zur Orientierung genügen.

Das bisherige Interesse an der Familiengeschichte und der Arbeit des pie-tistischen Pädagogen beschränkt sich vorwiegend auf kleinere Darstellun-gen seines Werkes und Wirkens. Hervorzuheben sind die zweibändige Bi-ografie von Heinrich Thiersch (1876) und die Überlegungen von Gottfried Dehlinger (1982), die einen Einblick in die Lebensgeschichte Zellers er-möglichen. Christian Heinrich Zeller, geboren auf Schloss Hohenentrin-gen in der Nähe von TübinHohenentrin-gen, studierte dem Wunsch seines strenHohenentrin-gen Va-ters folgend an der Universität Tübingen Jura, wirkte aber nur für kurze Zeit aktiv als Anwalt. Er ging den Weg vieler studierter Kollegen seiner Zeit und nahm eine Tätigkeit als Hauslehrer an. Hier lernte er sowohl die Methoden als auch den damals einflussreichen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi persönlich kennen, der ihn maßgeblich beeinflusste. Pestalozzis erziehungstheoretische Überlegungen sollte Zeller nach seiner Wende zum Pietismus – in religiös überformter Manier – konsequent in einem Konzept

Perspektive kaum legitimieren lässt, zugleich aber aktuell aufgezeigt wird. Die Überlegungen Zel-lers tangieren sowohl historisch relevante Fragen nach dem Verhältnis von religiös inspirierter Armenfürsorge und Disziplinentwicklung als auch systematische Fragen nach der Bedeutung von Gnade in erziehungstheoretischer Perspektive.

zur Erziehung armer Kinder realisieren. Als Pädagoge war Zeller Autodi-dakt; er las das zu dieser Zeit einflussreiche Lehrbuch von August Herr-mann Niemeyer (vgl. Dehlinger 1982: 16; EngelHerr-mann 2019). Später wurde Zeller Schulinspektor in Zofingen, wo er das gesamte lokale Schulsystem neu ordnete, indem er die Kooperation der einzelnen Organisationseinhei-ten anmahnte und kontrollierte. Schließlich konnte er, seinem eigenen Wunsch folgend, 1820 in Beuggen in der Nähe von Basel eine Armenschule gründen, die eng mit einem sogenannten Rettungshaus verbunden war, die er bis zu seinem Tod 1860 leiten sollte (vgl. Dehlinger 1982: 9–22). Diese Armenschule entwickelte eine überregionale Strahlkraft – doch obgleich Zellers Werk Teil des Gefüges ist, das die „Strukturbedingungen pädagogi-scher Wissensproduktion“ (Jäger und Tenorth 1987: 90) im 18. und 19 Jahr-hundert mitprägte, wird beispielsweise seine erfahrungsbasierte Schrift zur Lehre in der Armenschule nur am Rande erwähnt. Dabei wird auf den

„frömmelnden Lehrton“ (Jäger und Tenorth 1987: 90) hingewiesen, der bei Zeller deutlich hervortrete. Erziehungswissenschaftliche Arbeiten zum Wirken des Pädagogen sind rar. Zeller bleibt damit in der Disziplin – und auch in der historischen Sozialpädagogik – eine Randnotiz. Der Tatsache zu trotz, dass die von ihm gegründete Institution als Teil der Rettungshaus-bewegung hervorgehoben wird: die „Einrichtung in Beuggen [wurde] zum Vorbild der 43 Rettungsanstalten, die allein bis 1843 in Württemberg er-richtet wurden und deren Arbeit über die engere Zielsetzung der Rettungs-häuser hinaus“ (Kraus 1987: 323) auch Kindern aus Arbeiterfamilien, taub-stummen Kindern und blinden Kindern den Schulbesuch ermöglichen sollte. Die Institution Zellers verweist mit dieser Ausrichtung auf die in-klusiven Tendenzen (vgl. Lindemann u.a. 2020), die schon in dieser frühen Phase der Pädagogik sowohl in der konkreten pädagogischen Praxis als auch der theoretisierenden Durchdringung ebendieser sichtbar wurden.

Dennoch: Seit geraumer Zeit ist die Diskussion über die Armenschule – oder auch nur eine Annäherung an die Schriften Zellers – kein Thema mehr für die Erziehungswissenschaft. Zellers Überlegungen zu einer „pietisti-schen Lehrerbildung“ (Dehlinger 1982: 43) und personelle Überschneidun-gen zu bereits erschlossenen Diskussionslinien lassen ihn aber auch als Ele-ment einer Geschichte der Professionalisierung von Lehrer*innenbildung

aufscheinen. Ersichtlich wird dies, wenn beispielsweise auf Vorläufer der Professionalisierungsbemühungen verwiesen wird, die auch im Evangeli-schen Schulblatt von Friedrich W. Dörpfeld Form finden sollten (vgl. Engel-mann 2020b).

In älteren Forschungsarbeiten, noch vor dem Zweiten Weltkrieg er-schienen, werden die Erziehungsratgeber Zellers nicht thematisiert Die Quelle findet keine Beachtung. Karl Ruth hatte in seiner umfassenden Ar-beit zu Zeller das Ziel, eine „quellenmäßige Darstellung der Zellerschen Pädagogik und damit derjenigen, als deren Hauptvertreter er zu gelten hat – der des schwäbischen Pietismus im 19. Jahrhundert – zu liefern, die zu-gleich die Gedanken Zellers in den Zusammenhang der Geschichte der Pä-dagogik einordnet“ (Ruth 1927: 12). Spätere Arbeiten wie die von Hui-Chung Ho (1989) – freilich mit über 60 Jahren Abstand – nähern sich der Pädagogik Christian Heinrich Zellers aus historisch-systematischer Per-spektive und fokussieren Zellers theoretische Verbindung von göttlicher Gnade und Erziehung, die als pietistischer Anschluss an Pestalozzis Erzie-hungstheorie gedeutet wird. Dem oben zitierten Kommentar zum fröm-melnden Ton des württembergischen Pädagogen entsprechend, kommt auch Ho zu dem Ergebnis, dass Zeller dem Menschen durch Erziehung

„primär helfen [will], seine Heimat im Himmel zu finden. Dabei birgt Zel-lers Erziehungsdenken keineswegs eine Anleitung zur Weltflucht, eher dazu, den Umgang mit den Dingen der Welt aus Gnade zu tun“ (Ho 1989:

140). Kurzum: Das Werk von Christian Heinrich Zeller ist zwar gelegentli-cher Referenzpunkt in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion, eine vertiefende Auseinandersetzung aus der Perspektive der erziehungswissen-schaftlichen Ratgeberforschung steht aber genauso aus wie eine differen-zierte Geschichtsschreibung der Rettungshäuser in Baden-Württemberg o-der eine Klärung von Zellers Verhältnis zu Pestalozzi im Lichte o-der jüngeren Pestalozzi-Forschung. Zumindest die erste Forschungslücke soll hier bearbeitet werden, wofür nun die erziehungswissenschaftliche Ratge-berforschung als methodischer Zugang umrissen wird – Zellers Überlegun-gen zu Gnade und Erziehungstheorie müssen an anderer Stelle berücksich-tigt werden.

Erziehungswissenschaftliche Ratgeberforschung – Zugriff und Kontur

Erziehungswissenschaftliche Ratgeberforschung ist ein bekanntes und ein komplett neues Forschungsfeld zugleich. Obwohl bereits zahlreiche Erzie-hungswissenschaftler*innen zu Erziehungsratgebern gearbeitet haben, konstituiert sich das Forschungsfeld aktuell neu. Sowohl historische als auch systematische und empirische Arbeiten entstehen und treiben die er-ziehungswissenschaftliche Ratgeberforschung voran. Als wiederkehrender Anlaufpunkt der neueren Forschung zum Thema ist die Dissertations-schrift von Michaela Schmid (2011) zu nennen. Schmid differenzierte den ohnehin übersichtlichen Forschungsstand zur Ratgeberforschung – zu dem auch die Arbeiten von Höfler-Mehmler (2013), Oelkers (1995), Kost (2019) und Cleppien (2017) gehören – nachvollziehbar aus. In Folge der grundla-gentheoretischen Ausrichtung findet sich bei Schmid eine weiterführende und allgemeine Arbeitsdefinition, die auch meine Ausführungen zur Erzie-hungsratgebern orientiert. Sie versteht Erziehungsratgeber als Informati-onsträger,

„die in unterschiedlichster medialer Form darauf abzielen, auf das erzieherische Tun bezogene Informationen zu vermitteln, so dass der Ratsuchende eine auf seine spezielle Situation bezogene Hand-lungsorientierung als Ergebnis des angeregten Reflexions-/ Bil-dungsprozesses erhält.“ (Schmid 2011: 22)

Ratgeber vermitteln folglich Informationen und sind an spezifische The-men bzw. Situationen gebunden. Es gibt keinen Ratgeber, in dem alle po-tenziellen Themen aufgegriffen werden. Jeder Ratgeber ist selbst voraus-setzungsreich und in gesellschaftliche Verhältnisse, wissenschaftliche Diskussionen und politische Kämpfe eingebunden. Auch wenn Ratgeber allgemeingültiges Wissen vermitteln wollen, sind sie jederzeit situiert. Zu-sätzlich zu dieser formalen Bestimmung wird bei Schmid aber auch ein normatives Kriterium eingezogen. Ratgeber sollen die Mündigkeit – hier

operationalisiert als eigenständige reflektierte Handlungsfähigkeit in spezi-fischen Situationen – der lesenden Subjekte intendieren:

„Wesentlich ist dabei, dass es sich um einen Prozess der Wissens-vermittlung und Aufklärung handeln sollte, bei welchem unter dem Aspekt der Bildung die Herstellung, Beibehaltung und/oder Opti-mierung der Mündigkeit des Ratsuchenden leitend sein muss.“

(Schmid 2011: 22)

In diesem spannungsreichen Gefüge offenbart sich die Funktion von Rat-gebern, die sie für die wissenschaftliche Betrachtung interessant macht.

Folgt man Ulf Sauerbrey, können Ratgeber durchaus erziehendes Potenzial entfalten. Im Zusammenspiel von vermittelter Intention und Aneignungs-disposition der Leser*innen werden Lesesituationen zu Erziehungsphäno-menen. Denn Lesesituationen sind, laut der erziehungstheoretischen Ein-ordnung Sauerbreys, trotz Abwesenheit einer zweiten Person als pädagogische Situationen zu begreifen. Dies ist der Fall, da

„Buchinhalte, die als gegenständliche Position die Lesesituation des einen Subjekts bedingen, immer von einem weiteren Subjekt pro-duziert worden sind, sodass dieses eine in Form der Schriftsprache medial dokumentierte Tätigkeit ins Lesegeschehen einbringt.“

(Sauerbrey 2019: 44)

Der Ratgeber ist „eine durchaus geeignete Textgattung, um auch Fertigkei-ten zu vermitteln“ (Sauerbrey 2019: 51–52). Wieso ist das so? Ratgeber stellen zunächst Wissen bereit. Sie stellen aber immer Wissen bereit, das im Buch selbst nicht aufgeführt, sondern bereits von konkreter Praxis abstra-hiert ist. Jedem Ratgeber wohnt ein Akt der Theoretisierung inne, der oft genug verschleiert wird, da Ratgeber oft ‚die eine‘ und ‚richtige‘ Lösung suggerieren – und die Leser*innen nicht selten eben diese Lösung suchen.

Die zunächst triviale Aussage, Ratgeber würden Wissen bereitstellen, of-fenbart sich so als keineswegs trivial, denn „Qualitätsstandards für Ratge-ber gibt es nicht, hier entscheidet allein der Markt“ (Oelkers 2019: 213).

Welche Ratschläge zu welchem Zeitpunkt gegeben werden und wie sie aus-formuliert sind, unterscheidet sich dann folglich in Abhängigkeit von Zu-sammenhang und Voraussetzungen, worauf ich am Beispiel unten genauer eingehen werde.

Anlässe für Ratschläge gibt es viele. Prinzipiell wird ersichtlich, dass jedwede pädagogische Situation zumindest theoretisch noch verändert wer-den kann. Das Thema der biophysischen Veränderung, des Wachstums, und der Umgang mit oftmals als problematisch markierten körperlichen Reaktionen von Kindern ist dann auch zeitübergreifend relevant für Rat-geber:

„So können diese neue Entwicklungsaufgaben für die Eltern sein, wie beispielsweise die Geburt, zu der sich zahlreiche Ratgeber fin-den lassen, körperliche, seelische oder Verhaltensrisiken und -prob-leme oder besondere Bedürfnisse, die sich aus dauerhaften Dispo-sitionen wie beispielsweise einer Behinderung ergeben.“ (Volk 2018: 11)

Diese Vielzahl an Themen ist nicht verwunderlich, denn weder ist die kind-liche Entwicklung vollständig biologisch determiniert, noch ist biologisch vorgegeben, wie man Kinder erzieht. Dennoch ist die Beeinflussung von konkreten materiellen Körpern stets ein Teil der Erziehung, was in der Rat-geberliteratur bereits in der Aufklärung dazu führte, dass der Körper unter dem Begriff der physischen Erziehung gesondert behandelt wurde: Losge-löst von den spezifischen Problemen und Ratschläge war physische Erzie-hung

„der Leitbegriff, unter dem viele Autor_innen Erziehungskonzepte verbreiteten, in denen die Pflege und Förderung der körperlichen, intellektuellen und sittlichen Entwicklung von Kindern als zusam-mengehörig betrachtet wurden. Sie wollten mit ihren Ratgebern ein Abrücken von bisher verbreiteten, aber riskanten Pflege- und Er-nährungspraktiken sowie von abergläubischen Vorstellungen und Handlungsweisen erreichen und damit zum Überleben wie auch zu

einer gesunden körperlichen Entwicklung von Kindern beitragen.“

(Volk 2018: 13)

Auch der Prozess der physischen Erziehung „muss, in welcher Form und zu welcher Zeit auch immer, gelernt werden. Bei diesem Lernen spielen eigene Erziehungserfahrungen, erziehende Vorbilder, mit Sanktionen ver-sehene Ge- und Verbote, aber auch Ratschläge anderer eine wichtige Rolle“

(Höffer-Mehlmer 2019: 239). Damit lassen sich in verschiedenen schriftli-chen Ratgebern ganz unterschiedliche Themen ausmaschriftli-chen, die in den ein-zelnen Epochen die pädagogischen und gesellschaftlichen Vorstellungen widerspiegeln – eine dieser Spiegelungen soll hier nun betrachtet werden.

Zellers Überlegungen zur Kinderpflege – Eine Annäherung

Im Mittelpunkt des Systematisierungsversuchs steht in diesem Kapitel eine Schrift von Christian Heinrich Zeller, die in der bisherigen Forschung nur am Rande berücksichtig wurde. Dabei handelt es sich um eine kurze Schrift mit dem prägnanten Titel Über Kleinkinder-Pflege. Eine kurze Anleitung für Mütter, Kinderwärterinnen und Kleinkinder-Erzieher, die zunächst 1841 veröf-fentlicht wurde. Weitere Schriften wie beispielsweise Zellers Lehren der Er-fahrung für christliche Land- und Armenschullehrer, die bekannter ist als erstge-nannte Schrift, werden hier nicht berücksichtigt. Zurück zur Kleinkinder-Pflege: Diese nimmt eine interessante Position in Zellers Werk ein, weist sie doch eine Parallele zu seinem Buch Kurze Seelenlehre, gegründet auf Schrift und Erfahrung, für Eltern, Erzieher und Lehrer, zum häuslichen und Schulgebrauche auf, deren Erstauflage 1846 erschien.

Zellers Seelenlehre ist dabei eine konsequente Applikation und Ausdiffe-renzierung der bereits in Über Kleinkinder-Pflege vorgestellten Überlegungen;

diese Beziehung wurde bis jetzt noch nicht hervorgehoben.2 Obwohl hier die Überlegungen Zellers in seiner Schrift über die Kleinkinderpflege im

2 Zitiert werden in diesem Beitrag die dritte, unveränderte Auflage von Über Kleinkinder-Pflege von 1844.

Mittelpunkt stehen, verweist die Nutzung des Begriffs Seelenlehre als Titel für das Buch doch auf eine zur Zeit von Zellers Wirken vermehrt geführte Diskussion um das Verhältnis von Psychologie und Pädagogik, die hier kurz umrissen werden muss. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19.

Jahrhundert wurden Seelenlehren – wie die bekannte Schrift von Johann Heinrich Campe (vgl. Koerrenz und Engelmann 2019: 17–31) – dazu ge-nutzt, psychologische Vorstellungen zu pädagogisieren und zu popularisie-ren. Mit dem erklärten Ziel der Selbstaufklärung durch die Lektüre von Seelenlehren sollten Erzieher*innen dazu befähigt werden, noch gekonnter mit Kindern umzugehen und sie besser zu verstehen. Die Seelenlehren wa-ren dabei stets in einen konkreten Kontext eingebunden und dienten ver-schiedenen Zielen: „Moral, Religion, praktische Lebenstüchtigkeit, Erwei-terung der Erfahrung unter klaren Begriffen oder eine vorbereitende Annäherung an die Wissenschaften“ (Jahnke 1991: 81). Dabei blieben die Seelenlehren immer konservativ. Sie verloren so schnell den Anschluss an den wissenschaftlichen Diskurs der Psychologie und integrierten die päda-gogisch-psychologische Kritik – beispielsweise durch Johann Friedrich Herbart – nicht in ihre Überlegungen. Die Ratgeber oszillierten folglich schon in dieser Zeit zwischen gutem Rat und wissenschaftlichem An-spruch. Sie sind unentschieden, ob sie nun „Wissenschaftspropädeutik o-der Lebenshilfe; Wissens- oo-der Selbsterfahrungslernen“ (Jahnke 1991: 86) sein wollen. Ebendieses Spannungsverhältnis – auf das im letzten Ab-schnitt erneut eingegangen wird – macht Schriften wie Seelenlehren inte-ressant für die erziehungswissenschaftliche Ratgeberforschung, entspre-chen sie doch der von Schmid aufgestellten allgemeinen Definition von Ratgebern. Zugleich sind sie im Spannungsfeld von wissenschaftlichem Anspruch, trivialem Rat und Normalisierungsbestrebungen verortet, was eine genaue Betrachtung – beispielsweise aus einer an Prozessen der Ver-wissenschaftlichung interessierten Perspektive wie sie in Tübingen in der Arbeitsgruppe um Karin Amos und Anne Rohstock etabliert wird – ge-winnversprechend erscheinen lässt.

Zellers Über Kleinkinder-Pflege entspricht exakt diesem doppelten An-spruch. Die kurze Schrift, die sowohl die physische als auch die seelische und geistige Erziehung von Kleinkindern thematisiert und mit konkreten

Ratschlägen zur Erziehung in diesem Alter schließt, bezieht ihre Autorität aus dem Verweis auf die Bibel und der Annahme, dass „auch das kleinste Kind […] Leib, Seele und Geist“ (Zeller 1844: 8) ist. Zugleich verspricht sie, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Zeit zu integrieren. Zeller ist daran gelegen, die Tätigkeit der weiblichen Erzieherinnen aufzuwerten:

„Das ist das Mutteramt, so still, klein und beschränkt es scheinet, ein großes Amt, und eine Kinderwärterinn hat einen viel wichtige-ren Beruf, als die Meisten bedenken. Es ist etwas Großes um ein kleines Kind. Ach, man sollte deswegen nicht die jüngsten, die un-erfahrensten, die leichtsinnigsten zu Kinderwärterinnen wählen, sondern die erfahrensten, die gewissenhaftesten, die treusten.“

(Zeller 1844: 6)

Die Erziehung von Kleinkindern wird von Zeller einerseits als notwendi-gerweise zu erlernender Fähigkeit markiert. Physische Erziehung – d.h. die körperliche Pflege und Unterstützung des Kindes – gehört für Zeller zur vorgeordneten Aufgabe der Kleinkindpfleger*innen. Im Ratgeber sollen Informationen bereitgestellt werden, die verhindern, dass die Kinder auf-grund von mangelndem Wissen der erziehenden Personen leiden: „Doch, wer muß nicht lernen, wenn er ein kleines Kind pflegen und erziehen soll?

– Sollen aber immer die Kleinen das Lehrgeld bezahlen? Kann und soll man nicht auch aus der Erfahrung Anderer lernen?“ (Zeller 1844: 6). Zeller hat mit dem verfassten Ratgeber folglich das Ansinnen, seine eigenen pä-dagogischen Erfahrungen aus der Praxis für Leser*innen aufzubereiten und ihnen dringend benötigte Informationen zur Kinderpflege bereitzu-stellen. Erziehung wird hier nicht als naturwüchsige und bspw. instinktiv durchgeführte Praxis verstanden, sondern als durch Erfahrung zu erler-nende Tätigkeit, die zwar von Zeller vornehmlich Frauen zugeschrieben, letztlich seiner Ansicht nach aber auch von Männern ausgeführt werden kann. Zugleich schreibt Zeller den Frauen besondere Charakterzüge zu und widmet seine Schrift „jungen Müttern und angehenden

– Sollen aber immer die Kleinen das Lehrgeld bezahlen? Kann und soll man nicht auch aus der Erfahrung Anderer lernen?“ (Zeller 1844: 6). Zeller hat mit dem verfassten Ratgeber folglich das Ansinnen, seine eigenen pä-dagogischen Erfahrungen aus der Praxis für Leser*innen aufzubereiten und ihnen dringend benötigte Informationen zur Kinderpflege bereitzu-stellen. Erziehung wird hier nicht als naturwüchsige und bspw. instinktiv durchgeführte Praxis verstanden, sondern als durch Erfahrung zu erler-nende Tätigkeit, die zwar von Zeller vornehmlich Frauen zugeschrieben, letztlich seiner Ansicht nach aber auch von Männern ausgeführt werden kann. Zugleich schreibt Zeller den Frauen besondere Charakterzüge zu und widmet seine Schrift „jungen Müttern und angehenden