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Heiterkeit, Optimismus und Tatendrang:

Alexander Kluge als Bildungstheoretiker1

Markus Rieger-Ladich

Wenn man mit den herrschenden Verhältnissen nicht einverstanden sei, gebe es, so Dietmar Dath, genau „zwei Ventile“, zwei Möglichkeiten: Kul-tur und Randale. Schon recht früh habe er das begriffen – und bald auch eingesehen, dass er für Variante zwei, die Randale, nicht „robust genug“ sei (Oehmke 2009: o.S.). Statt also den Kampf auf die Straße zu tragen, pro-duziere er Texte – schreibe seither Essays, Romane, Traktate, Biografien, Lyrik, Science-Fiction. Und all' dies in einem atemberaubenden Tempo.

Dietmar Dath ist Journalist, Publizist, Marxist. In den 1990er-Jahren Chef-redakteur des popkulturellen Zentralorgans SPEX, schreibt er seit einigen Jahren für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung und bespricht Kinofilme.

Die Einsicht, dass er für den Straßenkampf nicht so recht geeignet ist, formulierte er in einem Interview mit dem SPIEGEL, das er anlässlich der Publikation seines Essays Maschinenwinter (Dath 2008) gab. Dabei erläuterte er auch seine Schreibstrategie – und hielt, mit Blick auf Marx' berühmte Feuerbach-These (vgl. Marx 1971), fest, dass es darauf ankomme, die Welt eben nicht nur verschieden zu interpretieren, sondern auch dazu zu ani-mieren, in den Lauf der Dinge einzugreifen:

„Ich will daran erinnern, dass die Zustände nicht so sein müssen, wie sie sind. Der Leser soll sich fragen: Habe ich Einfluss auf die Zustände? Deswegen schreibe ich Texte, die nicht davon handeln,

1 Für den Support beim Abschluss des Manuskripts gilt mein herzlicher Dank Linnéa Hoffmann und Saskia Langer.

wie es ist, sondern davon, wie es sein sollte, wie es hoffentlich nicht sein wird oder wie es ganz neutral sein könnte. Und das sind nun mal spekulative oder phantastische Texte.“ (Oehmke 2009: o.S.) Zehn Jahre später hat er diesen Impuls, der sich ästhetischen Erfahrungen wie auch politischen Überlegungen verdankt, in dem umfangreichen, mehr als 900 Seiten zählenden Buch Niegeschichte (Dath 2019) ausgearbeitet. Dath legt damit eine höchst originelle Theorie der Science-Fiction vor und fasst diese, ausweislich des Untertitels, als „Kunst- und Denkmaschine“. Im Weiteren begreift er diese notorisch, auch von dem Verfasser dieser Zeilen, unterschätzte Gattung als eine Kunst, „deren Lese-, Seh- und Hörproto-kolle nicht versteinern, nicht erstarren, sondern im Fluss bleiben (kognitiv, künstlerisch, ethisch)“ (Dath 2019: 42).

Schreiben ist für Dietmar Dath ein Akt des Widerstands. In der Pro-duktion von Texten artikuliert sich mithin die Hoffnung, eine Gesell-schaftsordnung, die von einer „monströsen Ungerechtigkeit“ (Habermas 2011: 95) gekennzeichnet ist, von Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhält-nissen, von Rassismus, Sexismus und Faschismus, nicht länger schicksalhaft hinzunehmen. Dath lässt daher gegenhegemoniale Erzählungen kursieren.

Er erzählt Geschichten durchweg in herrschaftskritischer Absicht. Diese Geschichten sind mal phantastisch, mal kämpferisch, mal poetisch, mal analytisch, mal bizarr. Gemeinsam ist ihnen, trotz aller Differenzen im De-tail, dass sie die kapitalistische Gegenwart mit alternativen Entwürfen kon-frontieren – und uns, ihre Leser*innen, auf die Bühne der politischen Aus-einandersetzungen rufen.

Intellektuelle Militanz

Auch Alexander Kluge ist mit den herrschenden Verhältnissen durchaus nicht einverstanden. Er ist zwar von anderer Statur als Dietmar Dath, aber auch von Kluge ist nicht überliefert, dass er in der Vergangenheit den schwarzen Block verstärkt hätte (vgl. Stollmann 2010: 138 ff.). Gleichwohl lässt sich behaupten, dass Militanz in einem weiteren Sinne auch sein Werk kennzeichnet. Er hat sich gleichermaßen dafür entschlossen, seine Waffen

im Bereich der Kultur zu schmieden. Die beiden kennen sich; nicht zuletzt teilen sie ein ausgeprägtes Interesse an den Arbeiten von Karl Marx (vgl.

Kluge 2008). Kluge geht allerdings in einem Punkt über den etwa 40 Jahre jüngeren Dath hinaus: Er beschränkt sich nicht auf die Produktion von Texten. Kluge experimentiert seit etwa sechs Jahrzehnten mit unterschied-lichsten Formen und Formaten, arbeitet mit Genres und Gattungen aller Art – und bekennt sich ausdrücklich zu einer „radikale[n] Ausdrucksviel-falt“ (Kluge 2009: o.S.).

Kluge ist eben nicht nur Schriftsteller und einer der unkonventionells-ten, sicherlich aber der optimistischste Vertreter der Frankfurter Schule (vgl. Streckhardt 2016: 22–62); er ist überdies Jurist und Kirchenmusiker, Filmemacher und Fernsehproduzent; er ist ferner Autor von Hörspielen und der Erfinder völlig neuer Fernseh-Magazine; er führt, als reiche dies nicht, zudem Interviews mit realen und mit fiktiven Personen. Relativ neu ist, dass Kluge, der im nächsten Jahr (hoffentlich) seinen 90. Geburtstag feiert, nun auch in Museen und Kunstvereinen ausgestellt wird (vgl.

Nicodemus und Probst 2017). Seine Arbeiten erzeugen bemerkenswert große Resonanz. Parallel zur Biennale in Venedig, und keineswegs in deren Schatten, stellten so 2017 in der Fondacione Prada unter dem Titel The Boat is Leaking. The Captain Lied Alexander Kluge, der Fotokünstler Thomas De-mand und die Bühnenbildnerin Anna Viebrok gemeinsam ihre Arbeiten aus (vgl. Strauss 2017). Nur kurz darauf wurden – zeitlich parallel in 2019 – im Folkwang-Museum in Essen Alexander Kluge. Pluriversum und im Würt-tembergischen Kunstverein in Stuttgart Alexander Kluge. Gärten der Koopera-tion gezeigt. Und hier, in der Landeshauptstadt, lud der Württembergische Kunstverein im Sommer 2020, nur wenige Monate nach dem Lockdown, zu einer Schau ein, die den Titel trug: Alexander Kluge. Oper: Der Tempel der Ernsthaftigkeit.

Mein Beitrag für diese Festschrift stellt den Versuch dar, das Gespräch über die Anforderungen an eine zeitgenössische Bildungstheorie, das wir in Tübingen schon vor einigen Jahren begonnen haben (vgl. etwa Amos 2016; Grabau 2017; Rieger-Ladich, Rohstock und Amos 2019; Rieger-La-dich 2020), ein wenig fortzuführen. Zu diesem Zweck werde ich im

Fol-genden einige ästhetische Strategien Alexander Kluges vorstellen und er-läutern, weshalb ich denke, dass es gute Gründe dafür gibt, ihn einen sub-versiven Bildungstheoretiker zu nennen. Dabei knüpfe ich an Überlegun-gen an, die ich an anderer Stelle angestellt habe (vgl. Rieger-Ladich 2014;

2016), und führe diese weiter. Zunächst wende ich mich zwei kurzen, au-ßerordentlich dichten Sätzen zu, in denen Kluges künstlerisches Selbstver-ständnis zum Ausdruck kommt. Im Anschluss stelle ich – in der gebotenen Kürze – drei unterschiedliche Formate seiner künstlerischen Praxis vor. Ich schließe mit Bemerkungen zur bildungstheoretischen Dimension dieses in-tellektuellen Unternehmens. Dabei werde ich ein besonderes Augenmerk auf die Dimension der Zeit sowie die unterschiedlichen Formen der Un-terbrechungen werfen.

Auf dem Rangierbahnhof

Im Herbst 2001, nur zwei Monate nach dem Angriff auf die Twin-Tower, wird Kluge in Stuttgartder Schiller-Gedächtnispreis verliehen. Aus seiner Preisrede, die den Titel trägt: Einen Moment lang schien die Gesellschaft wie ein Garten: Silvester 1799 (Kluge 2012b), greife ich zwei kurzen Passagen heraus.

Nach Hinweisen auf Schiller, die er eingangs gibt, erinnert Kluge an den Jahreswechsel 1799 und führt hierzu aus: „Goethe und Schiller sitzen zu-sammen und durchdenken die Zukunft der Welt, es ist nicht utopisch, von einer künftigen Zivilisation und einer Überwindung der Geburtsfehler der Spezies Mensch zu denken. So wörtlich abwechselnd Goethe und Schiller“

(Kluge 2012b: 54). Und weiter Kluge in dem ihm eigenen Stil: „Ich emp-finde den starken Wunsch, unser 21. Jahrhundert, als Waggon betrachtet, an dieses 18. Jahrhundert anzukoppeln und nicht an die Giftbecher des 19.

und 20. Jahrhunderts“ (Kluge 2012b: 54).

Kluge stellt sich also unsere Gegenwart, das 21. Jahrhundert, als einen Waggon vor – und dieser Waggon scheint sich in eine unheilvolle Richtung zu bewegen. Seinen Grund hat dies augenscheinlich darin, dass – um hier im Bilde zu bleiben – in der Vergangenheit zahlreiche Weichen falsch ge-stellt wurden. Ohne dass Kluge dies näher erläutert, spricht mit Blick auf

seine weiteren Arbeiten vieles dafür, dass er hier etwa an den Nationalis-mus, die beiden Weltkriege und die Shoah denkt. Den 11. September vor Augen, sucht er im Herbst 2001 nach einem Ausweg aus der verhängnis-vollen Geschichte. In bewusster Opposition zur akademischen Geschichts-schreibung, die sich zumeist für Folgen, Kausalitäten und Gesetzmäßigkei-ten interessiert (vgl. aber: Rohstock 2021), und eher von Walter Benjamins Geschichtsdenken inspiriert (vgl. Benjamin 2010; Streckhardt 2016: 248–

280), fragt er: Wie wäre es, wenn wir den Waggon des 21. Jahrhunderts – metaphorisch gesprochen – von den Gleisen nähmen? Wenn wir seine ra-sende, scheinbar unaufhaltsame Fahrt stoppen könnten? Wenn wir ihn vom 19. und dem 20. Jahrhundert ab- und, ganz behutsam, an das 18. Jahrhun-dert ankoppeln könnten? Wie wäre es, wenn wir, im übertragenen Sinne, Goethe und Schiller zu unseren Lokführern machten?

Wenn wir – als Zuhörer*innen oder als Leser*innen – uns auf Fragen solcher Art einlassen, sind wir bereits mitten im Universum des Alexander Kluge. Und es geht weiter; nach knappen Hinweisen auf den Gaskrieg von 1916, auf die Konzentrationslager und Tschernobyl erwähnt Kluge die Sammlertätigkeit der Brüder Grimm. Er fährt fort: „Das entspricht einem literarischen Prinzip der Dekonstruktion, das ich an der Schwelle des 21.

Jahrhunderts für lebenswichtig halte: stete Unterbrechung unglücksbrin-gender Selbstverständlichkeit“ (Kluge 2012b: 56).

Hier, in diesem knappen Satz, findet sich das ganze Programm Alexan-der Kluges wie in einer Nussschale. Was genau erscheint Kluge nun an Alexan-der Schwelle des 21. Jahrhunderts als „lebenswichtig“? Wie lässt sich dies ge-nauer verstehen? Ich lese diesen Satz nun von hinten nach vorne, beginne also am Ende des Satzes.

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Für „Selbstverständlichkeiten“ ist charakteristisch, dass wir ihnen meist keine besondere Aufmerksamkeit schenken und sie kaum einmal zum Ge-genstand einer kritischen Reflexion machen.2 Problematisch ist dies insbe-sondere in jenen Fällen, in denen Selbstverständlichkeiten für Leid verant-wortlich sind, in denen sie – so Kluge – „Unglück bringen“. Und dies geschieht immer dann, wenn Machtverhältnisse im Kleid des Natürlichen auftreten, wenn die Kämpfe um Ressourcen und Kapital, um Aufmerksam-keit und Anerkennung gar nicht in den Blick geraten (vgl. Eagleton 2000;

Janczyk 2020). Am meisten leiden darunter die Verlier*innen der Vertei-lungskämpfe sowie jene, die nicht mit der etablierten symbolischen Ord-nung übereinstimmen. Wie verletzend „Selbstverständlichkeiten“ sein kön-nen, bezeugen am zuverlässigsten wohl noch immer diejenigen, die von der etablierten Norm abweichen. Besonders eindringlich zeigt dies Ralph Elli-sons Roman Invisible Man aus dem Jahr 1952 (Ellison 2001). Im Prolog die-ses Romans, der davon erzählt, was es bedeutet, als Schwarzer in einer ras-sistischen Gesellschaft aufzuwachsen, beklagt sich der namenlose Erzähler darüber, „unsichtbar“ zu sein, von den Weißen schlicht nicht wahrgenom-men zu werden. Selbstverständlichkeiten sind daher immer auch ein Aus-druck von Herrschaftsverhältnissen. Überdies gilt auch hier: Wer von der herrschenden Ordnung begünstigt wird, erlebt dieses Privileg häufig gar nicht als Privileg (vgl. Eribon 2009; Rieger-Ladich 2021).

Es sind also diese „unglücksbringenden Selbstverständlichkeiten“, die es nach Kluge zu unterbrechen gilt. Und zwar – nicht einmal, sondern im-mer wieder aufs Neue. Es geht um die „stete Unterbrechung“. Kluge

2 Siegfried Kracauer wählt eine ähnliche Beobachtung zum Ausgangspunkt seiner Studie Die An-gestellten, die 1930 erstmals erscheint. Hier heißt es: „Hundertausende von Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völker-stämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern.“ Und er fährt fort: „Hinter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen Intellektuellen nicht leicht. Die Angestellten sel-ber? Sie am allerwenigsten haben das Bewußtsein ihrer Situation. Aber ihr Dasein verläuft doch in voller Öffentlichkeit? Durch seine Öffentlichkeit ist es, dem ‚Brief Ihrer Majestät’ in E.A. Poes Erzählung gleich, erst recht vor Entdeckung geschützt. Niemand bemerkt den Brief, weil er obenauf liegt. Freilich sind gewaltige Kräfte im Spiel, die es hintertreiben möchten, daß einer hier etwas bemerkt“ (Kracauer 1971: 11).

träumt nicht von dem einen, großen, ultimativen Befreiungsschlag, also da-von, dass der oft beschworene „gordische Knoten“ endlich zerschlagen werde, sondern rechnet damit, dass wir eine gewisse Beharrlichkeit bewei-sen müsbewei-sen. Doch wie genau soll das betrieben werden? Wie lasbewei-sen sich Ideologien der Ungleichheit, die für Unglück verantwortlich sind, mit Aus-sicht auf Erfolg bekämpfen?

Kluge verweist in diesem Zusammenhang auf den Bereich der Litera-turtheorie und bringt mit der Dekonstruktion einen Begriff ins Spiel, der von dem französischen Philosophen Jacques Derrida in den 1970er Jahren geprägt und später, insbesondere über Literatur-Departements US-ameri-kanischer Universitäten, popularisiert wurde. Für dekonstruktivistische Lektüren ist es kennzeichnend, dass sie die untersuchten Texte gleichsam unter das Mikroskop legen und deren interne Organisation, ihre Verwei-sungssysteme und semantischen Felder entschlüsseln (vgl. Derrida 2001).

Durch skrupulöse Lektüren gilt es, ihre innere Logik freizulegen. Derrida identifizierte die zentralen Begriffe und legte die Oppositionen, mit denen sie arbeiten, frei. Und er sensibilisierte für deren ausgrenzende Effekte.

Dabei gilt: Jede Lektüre muss neu ansetzen; es gibt kein standardisiertes Verfahren, kein etabliertes Regelwerk. Nur das Ziel blieb für den poststruk-turalistischen Zeichentheoretiker stets dasselbe: Es ging Derrida darum, die zirkuläre Metaphysikkritik zu überwinden (vgl. Derrida 1967) und das Gewaltförmige des abendländischen Denkens freizulegen. Er wandte sich daher hierarchischen Gegensatzpaaren wie etwa Mann/Frau, Weiß/Schwarz, Okzident/Orient zu und suchte diese wenn nicht zu über-winden, so doch wenigstens zu destabilisieren. Der in Paris lehrende Phi-losoph, aufgewachsen als französischer Jude in einem arabisch geprägten Vorort Algiers (vgl. Peeters 2013), arbeitete mithin an der gezielten Dele-gitimierung des abendländischen Vokabulars und setzte sich für die Ent-wicklung neuer, weniger ausgrenzender Begrifflichkeiten ein.3

3 Die technische Seite dieses anspruchsvollen Verfahrens haben Katharina Mai und Michael Wet-zel treffend beschrieben. Sie unterscheiden zwei Gesten, die für dekonstruktive Lektüren cha-rakteristisch sind. „Die Dekonstruktion ist eine Praxis der Lektüre. Sie greift »in einer doppelten Geste« die den metaphysischen Gegensatzpaaren inhärente Hierarchie an. In einem ersten […]

Schritt wird die bisher unterdrückt gebliebene Seite des Gegensatzpaares hervorgehoben und

Und davon lässt sich nun auch Alexander Kluge anregen. Er betreibt ebenfalls eine forcierte Kritik jener Narrative, welche die herrschenden Verhältnisse gegenüber der Kritik immunisieren. Als „lebenswichtig“ gilt es ihm, solche Erzählungen aufzudecken, welche als Legitimationsquelle wahrgenommen werden (und auf diese Weise machtförmige Effekte frei-setzen). Zu diesem Zweck muss es darum gehen, das Bekannte einzuklam-mern, das Vertraute zu befremden und unsere Wahrnehmungsmuster auf elementare Weise zu irritieren – und dies, wie schon erwähnt, nicht in ei-nem einmaligen Akt, sondern immer wieder aufs Neue.

Anders als der Philosoph vom Collège de France, dessen Lektürepraxis stets eine besondere intellektuelle Strenge ausstrahlte, wendet Kluge diese ins Sinnliche. Seine Variante der Dekonstruktion ist daher kein kühles Ex-erzitium; sie kennt viele Formen und Gestalten. Sie kann Gestalt annehmen in Büchern und Reden, aber durchaus auch im bewegten Bild – in Filmen, Interviews und TV-Magazinen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von einem beträchtlichen, nie nachlassenden Vertrauen in den Eigensinn der beteilig-ten Akteure geprägt sind (vgl. Schulte 2002). Und dies gilt bei Kluge immer für beide Seiten: eben nicht nur für jene der Produzent*innen, sondern eben auch für jene der Rezipient*innen, die in der Tradition kritischer Ge-sellschaftstheorien meist vernachlässigt, wenn nicht eklatant unterschätzt wurde (vgl. Boltanski 2010).4 Von den unterschiedlichen Formaten, die Kluge im Laufe der Zeit entwickelt hat, beschränke ich mich für diesen

[…] explizit gemacht. Dadurch wird […] die Etablierung eines Begriffs mit dem durch die Kon-struktion Ausgeschlossenen zusammengedacht. Durch diese Vervollständigung kommt Bewe-gung in die philosophische Terminologie. Nicht an der bloßen Umkehrung der Verhältnisse in-teressiert, arbeitet die Dekonstruktion in einem zweiten Schritt an der ‚Verschiebung‘ der bisherigen Begrifflichkeit. So erst kann […] eine neue Begrifflichkeit entstehen. […] Der kon-struktive Zug der Dekonstruktion besteht [auch] darin, eine neue, nicht hierarchische Begriff-lichkeit zu entwickeln […]“ (Mai und Wetzel 2004: 166 f.).

4 Über diese Rehabilitierung der Rezipient*innen konstituierten sich schon in den 1960er-Jahren die Cultural Studies. Deren ‚Gründerväter‘ kamen ebenfalls aus einer marxistischen Tradition und wollten – ähnlich wie Kluge – die klassische Ideologiekritik nicht länger weiterführen. Sie setzten sich für eine Form emanzipatorischer Theoriebildung ein, die das Erbe von Paternalismus und Entmündigung derer, die es doch zu befreien galt, hinter sich lässt. So führt etwa Stuart Hall aus:

„Die verdunkelnden und mystifizierenden Effekte einer Ideologie werden nicht länger als Pro-dukt einer Täuschung oder einer magischen Illusion betrachtet, noch werden sie einfach einem falschen Bewusstsein zugeschrieben, in das unsere armen, umnachteten, theorielosen Proletarier auf ewig eingekerkert wären. Die Verhältnisse, in denen die Leute leben, sind immer die ‚wirkli-chen Verhältnisse‘, und die Kategorien und Begriffe, die sie verwenden, helfen ihnen dabei, diese gedanklich zu erfassen und zu artikulieren“ (Hall 2004: 25).

Beitrag auf drei. Ich wende mich dem Schreiben von Büchern zu, der Pro-duktion von Fernsehmagazinen sowie dem Kuratieren von Ausstellungen.

Bücher schreiben

2000 erscheint Alexander Kluges Chronik der Gefühle. Das Buch besteht aus zwei Bänden, jeder zählt mehr als 1000 Seiten. Die Geschichten, die hier präsentiert werden, sind in einer schmucklosen Sprache verfasst, die den ausgebildeten Juristen erkennen lassen und bisweilen an Kanzleideutsch er-innern. Zumeist sind sie nicht länger als zehn, fünfzehn Seiten; einige um-fassen nur wenige Zeilen. Häufig werden sie um Abbildungen ergänzt – Stiche, Fotos, Zeichnungen, Comics, Karten. Das Themenspektrum reicht von historischen Begebenheiten wie der Bombardierung Halberstadts im Zweiten Weltkrieg, die Kluge selbst erlebt hat und die in seinem Werk eine prominente Rolle spielt (Kluge 2000b: 9ff.), über unterschiedliche Lebens-läufe und Skurrilitäten wie einen Friseurtermin Hitlers bis hin zu einer Landkarte, die das „Königreich der Liebe“ abbildet.

Dieses funkelnde Kuriositätenkabinett lässt keinerlei einheitliche nar-rative Ordnung erkennen und – nicht weniger wichtig – alle Versuche einer gattungstheoretischen Zuordnung souverän ins Leere laufen. Beim Blät-tern in den beiden voluminösen Bänden wächst überdies bald der Verdacht, dass manche der geschilderten Begebenheiten der Phantasie des Autors entsprungen sein müssen (vgl. Rutschky 2000). Und so nimmt die Unsi-cherheit mit der Lektüre jeder neuen Geschichte noch weiter zu: Was ist hier wahr, was erfunden? Was hat sich tatsächlich ereignet, was hätte sich ereignen können? Was rechtfertigt hier den Indikativ, was verlangt nach dem Konjunktiv? Was verdiente gar den Konjunktiv Plusquamperfekt (vgl.

Rieger-Ladich 2014)?

Kluge selbst ermutigt zu einer eigenständigen Lektüre, zu radikal sub-jektiven Formen der Aneignung dessen, was er als Materialsammlung zu-sammengestellt hat. So schreibt er in seinem Vorwort zu Band I, den „Ba-sisgeschichten“:

„Was Menschen brauchen in ihren Lebensläufen, ist ORIENTIE-RUNG. So wie Schiffe navigieren. Das ist die Funktion eines so umfangreichen Buches: daß einer vergleicht, sich abstößt oder sich anziehen läßt, weil ein Buch wie ein Spiegel funktioniert. Niemand wird so viele Seiten auf einen Schlag lesen. Es genügt, wenn er, wie bei einem Kalender oder einer CHRONIK, nachprüft, was ihn be-trifft. Die subjektive Orientierung: Worauf kann ich vertrauen? Wie kann ich mich schützen? Was muß ich fürchten? Was hält freiwillige Taten zusammen?“ (Kluge 2000a: 7).

Seine literarischen Texte sind daher nicht dem Naturalismus verpflichtet (vgl. Kluge 1987). Kluge stellt sich erklärtermaßen nicht in die Tradition englischer oder französischer Romanciers, die mit ihrem Schreiben auch zur Aufklärung gesellschaftlicher Krisenphänomene beitragen (vgl. Auer-bach 1994: 422–459). Anders als etwa seinerzeit Charles Dickens, Honoré de Balzac und Emile Zola oder gegenwärtig Virginie Despentes, Édouard Louis und Zadie Smith, die sich auch als Zeitdiagnostiker*innen verstanden (bzw. verstehen), ist er an den Gesetzen des realistischen Erzählens nicht sonderlich interessiert. Ungleich wichtiger ist es ihm, literarische Texte zu verfassen, welche Räume des Imaginären eröffnen, den schlechten Status quo überschreiten und das Gegebene verwandeln – also dem Ausdruck

Seine literarischen Texte sind daher nicht dem Naturalismus verpflichtet (vgl. Kluge 1987). Kluge stellt sich erklärtermaßen nicht in die Tradition englischer oder französischer Romanciers, die mit ihrem Schreiben auch zur Aufklärung gesellschaftlicher Krisenphänomene beitragen (vgl. Auer-bach 1994: 422–459). Anders als etwa seinerzeit Charles Dickens, Honoré de Balzac und Emile Zola oder gegenwärtig Virginie Despentes, Édouard Louis und Zadie Smith, die sich auch als Zeitdiagnostiker*innen verstanden (bzw. verstehen), ist er an den Gesetzen des realistischen Erzählens nicht sonderlich interessiert. Ungleich wichtiger ist es ihm, literarische Texte zu verfassen, welche Räume des Imaginären eröffnen, den schlechten Status quo überschreiten und das Gegebene verwandeln – also dem Ausdruck