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Regina Ammicht Quinn

Gebrauchsanleitung

Loseblattsammlungen gibt es für Steuergesetze, Verwaltungsvorschriften, homöopathische Arzneibücher, Schulplaner, die Praxis des Rechnungswe-sens, pädagogische Materialien und anderes. Dem mit Loseblattsammlun-gen assoziierten Chaos widerspricht deren häufige Nutzung für Ordentli-ches, Ordnungen und Anordnungen. Im digitalen Zeitalter werden Loseblattsammlungen altmodisch und Schreibtische, die explodierten Lo-seblattsammlungen ähneln, (vermutlich) seltener. Nach wie vor aber reprä-sentieren sie eine bestimmte Art des Denkens und Arbeitens: fluktuierend, fluide, evolvierend, revidierend. Blätter können hinzugefügt und entfernt werden, eigene Blätter zwischen die bedruckten geheftet werden. Und das manchmal etwas mühsame Blättern macht das Lesen und Denken, Sich-Informieren, Lernen, Agieren und Schreiben zum körperlichen Vorgang.

Zwischenblatt: Motto

„Nick Greene [...] sagte, dass eine Theater spielende Frau ihn an tanzende Pudel erinnerte. Johnson wiederholte diesen Ausspruch zweihundert Jahre später über predigende Frauen. Und hier, sagte ich und öffnete ein Buch über Musik, haben wir diese Worte

1 Ich danke Thomas Quinn und Ingrid Hotz-Davies für Gespräche, Kritik und Anregungen.

der, im Jahr des Herrn anno 1928, über Frauen, die versuchen Mu-sik zu schreiben. ‚Von Mlle Tailleferre kann man nur Dr. Johnsons Ausspruch über weibliche Priester wiederholen, transponiert in die Sprache der Musik: Sir, wenn eine Frau komponiert, so ist das, als ob ein Pudel auf den Hinterbeinen läuft. Es ist nicht gut gemacht, aber man ist überrascht, dass es überhaupt gemacht wird.‘ So genau wiederholt sich Geschichte“. (Woolf 1928/1981: 62f.)

Erstes Blatt: Nachruf, erster Versuch

Hat die Rede von den Intellektuellen heute, im 21. Jahrhundert, den Cha-rakter eines Nachrufs? Sind diejenigen, die hier jemandem etwas nachru-fen, Mitglieder einer Trauergemeinde, die sich schon seit 1984 am Grabmal des Intellektuellen (Lyotard 1984/2007) versammeln und herauszufinden su-chen, wer die verstorbene Person denn gewesen sei?

Wenn dem so ist, dann handelt es sich um eine andauernde Trauerver-sammlung, bei der Einigkeit bislang nicht erreicht werden konnte, Lob- und Schmähreden auf die verstorbene Person sich abwechseln, während nicht einmal wirklich Sicherheit darüber herrscht, ob sie denn nun wirklich tot ist.

Dass nicht einmal Einigkeit über das Ableben herrscht, ist symptoma-tisch. Denn so wie ‚Identität‘ zum Thema der Zeit wird, weil der Begriff zugleich eine Krisenanzeige ist, entstand der Begriff der ‚Intellektuellen‘

aus dem Widerspruch.

Eine der Geburtsstunden ist der Dreyfus-Prozess des Jahres 1894 in Paris, einem Skandal von Geheimnisverrat, Korruption, Nationalismus, verdecktem und offenem Antisemitismus auf der einen und dem Kampf um Demokratie auf der anderen Seite. Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wurde zu Unrecht der Spionage angeklagt, und er wurde zur Sym-bolfigur, an der sich die Spaltung der Gesellschaft manifestierte. Emile Zo-las Manifest J’accuse…!, einem an den Präsidenten der Republik adressierten offenen Brief, der am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore erschien (Zola in Bering 2011: 29–38), war eine entscheidende Wende der

politi-schen Affäre. Zola, die Kernfigur des progressiven Lagers, war vom kon-servativen antisemitischen Lager so verhasst, dass er nach London fliehen musste. Indem er aber die juristischen Fehler und Beweisfälschungen im Prozess öffentlich beim Namen genannt hatte, wurde die Debatte letztlich zur zukunftsweisenden Auseinandersetzung um die Bewertung von Staats-raison und Gerechtigkeit. Als „les intellectuels“ bezeichneten sich diejeni-gen, die bereit waren, sich zu politisieren, demokratische Werte und wis-senschaftliche Wahrheiten zu vertreten (Bering 2019: 6). Für die Gegenseite wurde „Intellektuelle“ zum Schimpfwort: Sie galten als „instinktlos-abs-trakt“ daherredende, „dekadente“, „inkompetente“, „jüdische“ „Vater-landsverräter“ (ebd.)

Auseinandersetzungen wie diese scheinen relativ resistent gegenüber den Veränderungen der Zeit. Für neuere wie ältere Selbstpositionierungen des Populismus ist ‚der Intellektuelle‘ der Gegner. Populismus ist dann „a revolt against the Smart Guys“. Dies ist das Urteil von Russel Kirk (1988:

o.S.), der auch als „father of American conservatism“ gilt und selbst ein konservativer ‚Intellektueller‘ war (Continetti 2018). Anlässlich des US-Wahlkampfes im Jahr 1988 schrieb Kirk: „I am very ready to confess that the present Smart Guys, as represented by the dominant mentality of the Academy and of […] the Knowledge Class today, are insufficiently en-dowed with right reason and moral imagination“ (Kirk 1988: o.S.). Und heute bezeichnet sich die AfD als „Partei des gesunden Menschenver-stands“ (Probst 2019: o.S.), der gegen die Knowledge Class gerichtet ist, aber nicht einen „common sense“ als gemeinsamen „Sinn“, sondern Ausgren-zungen und Spaltungen hervorbrachte (ebd.).

So genau wiederholt sich Geschichte.

Ob Intellektuelle gelobt oder geschmäht werden – in aller Ungenauig-keit scheinen drei Merkmale für sie charakteristisch zu sein. Es sind Merk-male, die jeweils ihre eigene Problematik haben: Kreativität – das kreative Wahrnehmen und Verknüpfen der Fragen einer Zeit; Kommunikation mit und inmitten von Öffentlichkeiten, die manchmal als ‚Volk‘, manchmal auch als ‚der kleine Mann‘ vorgestellt werden und Kritik, durch die ‚Geist‘ und ‚Macht‘

je neu in ein Verhältnis gesetzt werden und eingreifendes Denken (vgl. Brecht

1967; Gilcher-Holtey 2007) geübt wird. Dies sind (problemeröffnende) Be-schreibungen, die entscheidende Namen der Geistesgeschichte außen vor lassen, dafür aber Walter Dirks das vorläufig letzte definitorische Wort ge-ben: Intellektuelle sind „Fachleute eines integrierenden Dilettantismus“

(Dirks 1961: 29; vgl. Jäger 1999: 7).

Neben diesen drei Merkmalen gibt es ein viertes. Es scheint so selbst-verständlich zu sein, dass es im Diskurs kaum genannt wird: Der Intellek-tuelle ist männlich, und der Diskurs über IntellekIntellek-tuelle ist ein Diskurs männlicher Präzedenzfälle und vereinzelter weiblicher Ausnahmen, die die Normalität weniger in Frage stellen als bestärken. In Dietz Berings Publi-kation Die Intellektuellen im Streit der Meinungen aus dem Jahr 2011 (Bering 2011) werden 30 Intellektuelle vorgestellt (von Zola bis Habermas). Eine Frau (Barbara Vinken in Bering 2011: 307–319) gibt es, die aber nicht – wie die anderen 30 – als ‚Intellektuelle‘ präsentiert wird, sondern der die Auf-gabe zukommt, zu bestätigen, dass kaum Frauen als ‚intellektuell‘ wahrge-nommen werden. Barbara Vinken wählt dabei nicht das J'accuse-Format, sondern Witz und Zynismus.

Diese Männlichkeit des Intellektuellen-Diskurses hat nun aber ihre ei-gene Brisanz. Denn zur Geschichte der Intellektuellen-Schelte gehört das Motiv des männlichen Intellektuellen, der in unvollkommener, verkümmer-ter Weise männlich ist (Kreisky 2000: 38). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden Intellektuelle nicht nur als die „entartete[n] Söhne“ des Großbür-gertums bezeichnet, sondern als – schlimmster Vorwurf im Diskurs – „ef-feminiert“ (Brunkhorst 1987: 18). Diese Verweiblichung bezieht sich auf sozial und moralisch minderwertige Formen der Weiblichkeit, so dass In-tellektuelle sich zu ‚richtigen‘ Männern verhalten wie Prostituierte zu ‚gu-ten‘ Frauen. So spricht Max Scheler vom „Dirnentum“, dem „Luxus und Raffinement“, den „sinnlichen Launen“ und dem „Geschäftsgeist“ der In-tellektuellen (Scheler 1979: 83 ff.; Brunkhorst 1987: 19). Intellektuelle ha-ben nicht nur nicht die Hosen, sondern Röcke an – genauer: „Gazeröck-chen“: „Die Intellektuellen sind das Gehirn-Bordell des Bürgertums [...], die Balletteusen der Fleischlosigkeit, nackt bis zu den Gazeröckchen: sie tanzen immer Begriffstänze auf kleinen Privatbühnen, scharf betrachtet von den lüsternen Augen derer, die sie mieteten“ (Anonymus 1919: 2, zit.

in Stark 1984: 159). Intellektuelle sind männlich in einer entwerteten Form der Männlichkeit, zumindest, wenn man sie mit den „tough guys“ ver-gleicht, die für Adorno (1944/1983: 52) in kritischer und für die populäre Medienkultur heute nach wie vor in weitgehend affirmativer Weise als Ge-genmuster gelten.

Was also hat es mit ‚dem Intellektuellen‘ auf sich? Falls er tot ist, lohnt es sich, forensische Fragen zu stellen: Ist er an seiner Kopflastigkeit gestor-ben, an seiner Überflüssigkeit gegenüber den relevanteren Experten? An Unterkühlung, weil „nackt bis zu den Gazeröckchen“ oder weil er ein emo-tionsloser Akademiker ist? Oder ist die Todesursache doch seine Ge-schlechterblindheit? Und wo sind die Frauen – in diesem Diskurs und in der Praxis intellektuellen Lebens?

Zweites Blatt:

Nähtischklaviere und andere Unterbrechungen

Natürlich lässt sich diese Frage nach dem Verbleib der Frauen in Diskurs und Praxis der Intellektualität nicht abschließend beantworten. Zumindest manche von ihnen aber saßen im 19. Jahrhundert am Nähtischklavier, und einige sitzen da immer noch.

In der westlichen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ge-hörte es für Frauen zum guten Ton, Klavier zu spielen; das Klavier war Teil ihres Alltags wie die Handarbeit (vgl. im Folgenden auch Ammicht Quinn und Heesen i. E.). „Die Fräuleins übernahmen die Herrschaft am Klavier“, formulierte ein Zeitgenosse (siehe Wehmeyer 1983: 83; vgl. Emme 1989:

116–129). Denn „[e]in Frauenzimmer kleidet es sehr wohl, wenn es Klavier spielt“ (Krille 1938, zit. n. Emme 1989: 122). Was aber gespielt werden sollte, sind „kleine Sächelchen, denn die zierthen die Mädchen mehr, als wenn sie ihre Kräfte in hohem Fluge versuchten. Es blickt dort mehr die beschränkte, aber liebliche Weiblichkeit hervor“ (Guthmann 1806: 515, zit.n. Emme 1989: 122). Was hier eingeübt wird – Fingerspitzengefühl, Taktempfinden und Fleiß – sind die Grundbausteine weiblicher Sittlichkeit.

Die Vorstellung von Weiblichkeit, die dieser Sittlichkeit zugrunde liegt, be-inhaltet zugleich ein spezifisches weibliches Arbeitskonzept, das Frauen an-gemessen ist:

„Frauen pflegen einem äußeren Eindrucke, selbst einem flüchtigen, leicht nachzugeben, springen bisweilen mit einer für Männer un-glaublichen Schnelligkeit von einer Empfindung zur andern, von einem Gegenstande ihrer Beschäftigung zu einem anderen über, während die Thätigkeit des Mannes in der Regel in der einmal an-genommenen Richtung verharrt“. (Biedermann 1856: 74 f.)

Im Musikinstrumentenmuseum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem steht ein Nähtischklavier, das ideale Fraueninstrument: Es kombiniert ein Kleinstklavier mit einer Nähtischschublade und -arbeits-platte. „Ohne sich erheben zu müssen – im wörtlichen und übertragenen Sinn –, kann die Frau von einer Beschäftigung zur nächsten überwechseln, erst ein bisschen handarbeiten, dann ein bisschen herumtasten“ (Emme 1989: 124). Mit „unbegreiflicher Schnelligkeit“ (ebd.) kann sie vom Etü-denspielen zum Strümpfestopfen wechseln und umgekehrt.

Damit zeigt sich eine Geschichte weiblicher Kreativität, die im „Näh-tischklavier“ mit traditionellen weiblichen Arbeitsmustern und Selbstbil-dern verbunden ist: ein hohes Maß an Unterbrechungs- und Ablenkungs-bereitschaft, verbunden mit einer Reduktion der kreativen Ansprüche auf etwa zwei Oktaven. Das, was heute Multitasking genannt und häufig Men-schen, die sich um Kinder kümmern, zugeschrieben wird, bleibt der Ge-genentwurf zum ‚großen Werk‘ des Genies.

Judy Chicago, 1939 geboren, US-amerikanische Künstlerin, die durch ihre Installation The Dinner Party (1974–1979) weltweit bekannt wurde, be-schreibt in ihrer Autobiografie (Chicago 1984), wie sie Kontakt zu anderen Künstlerinnen suchte – auch außerhalb des aktuellen Kunstbetriebs:

„Uns fiel bei diesen Besuchen auf, dass wir bestimmte Vorstellun-gen von einem Atelier hatten. [...] Für uns war ein Atelier eine Loft oder ein Gewerberaum. Erschrocken stellten wir fest, dass wir öfter

in Schlafzimmer, Esszimmer oder Veranden geführt wurden und nicht in die üblichen, 2000 Quadratmeter großen, weißgetünchten ehemaligen Lager- oder Speicherräume. Anfangs fiel es mir schwer, die Arbeiten zu ‚sehen‘, denn ihnen fehlte der Raum, der ihnen Be-deutung und Ernsthaftigkeit verlieh – wie ich es gelernt hatte [...].

Das Schlafzimmeratelier oder das Studio im Hinterzimmer stem-pelte Frauen zu Dilettantinnen ab, selbst wenn ihre Arbeiten gut waren“. (Chicago 1984: 112f.)

Aber nicht nur die Arbeitsräume, sondern auch die Arbeitsgewohnheiten waren ungewöhnlich:

„Bei vielen Frauen durchdrangen sich Kunst und Leben so weit, dass es schwierig war zu unterscheiden, wo das eine aufhörte und das andere begann. Alle möglichen Gegenstände – Toilettenartikel, Kinderspielzeug, Haustiere, alte Postkarten, Gemälde und Zeich-nungen – vermischten sich zu einem reichen weiblichen Lebens-raum. Diese Lebens-Kunstwelt fanden wir bei vielen Frauen, die ihre künstlerische Arbeit in eine Vielzahl anderer Tätigkeiten ein-gliederte, etwa Frühstück vorbereiten, die Kinder zur Schule brin-gen, Wäsche waschen, malen. Während die Farbe trocknet, wa-schen sie Geschirr ab und danach geht es wieder zurück ins Atelier, bis die Kinder von der Schule nach Hause kommen“. (Chicago 1984: 113)

Das fehlende Zimmer für sich allein (Woolf 1928/1981) wurde zum Ort einer anderen Art der Kunst und erscheint auch im literarischen Schaffen von Frauen als prägend. „Wie sie im Stande war, das alles zu bewerkstelligen, ist überraschend“, so Jane Austens Neffe in einer Biografie seiner Tante,

„denn sie hatte kein separates Arbeitszimmer, in das sie sich zu-rückziehen konnte, und der größte Teil der Arbeit musste im ge-meinsamen Wohnzimmer geleistet werden, wo man allen Arten zu-fälliger Unterbrechung ausgesetzt war. Sie achtete darauf, dass ihre

Arbeit von Bediensteten oder Besuchern oder gar von irgendwel-chen Personen außerhalb der eigenen Familie nicht vermutet wurde“. (James Edward Austen-Leigh 1869/2014, zit. n. Woolf 1928/1981: 76)

Was wäre, so fragt Virginia Woolf, aus Stolz und Vorurteil geworden, hätte Jane Austen nicht bei jedem Quietschen der Türangel ihr Manuskript unter einem Löschblatt verstecken müssen? (ebd.: 77)

Neben Unterbrechungsbereitschaft und der zugemuteten Reduktion des Anspruches kommt hier noch ein weiteres Motiv dazu: die Scham über eine als unnatürlich empfundene Tätigkeit. Für Jane Austen wäre ein Näh/Schreibtisch durchaus dienlich gewesen – bis jemand die Wohnzim-mertür ganz geöffnet hätte, wäre die Schublade mit den Knöpfen und Gar-nen schon demonstrativ herausgezogen.

Ob der Bereich der Intellektualität völlig mit dem Kunstbetrieb ver-gleichbar war und ob er gerade heute noch verver-gleichbar ist, sei dahinge-stellt. Deutlich aber ist, dass die hier beschriebenen Eigenheiten traditio-neller weiblicher Arbeitsmuster und Selbstbilder einen deutlichen Einfluss auf die Tatsache hatten, dass der Diskurs der Intellektualität ein männlicher Diskurs war – und bis heute geblieben ist.

Drittes Blatt: Kreativität oder Wer ist ‚genial‘?

Jenseits des Nähtischklaviers gibt es heute eine neue Diskussion um Krea-tivität. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass Kreativität als letz-ter und bedrohletz-ter Rückzugsort des Menschlichen im Zeitalletz-ter künstlicher Intelligenz gilt. Oder galt. Zum anderen wird eine Verschiebung in der Vor-stellung von Kreativität deutlich. Nach wie vor ist das Konzept mit Kunst verbunden, ergänzt durch Bereiche des Designs. Dort aber, wo auf höchs-tem Niveau in den Naturwissenschaften, in der Mathematik, im Ingenieurs-wesen und der Technikentwicklung geforscht und gearbeitet wird und vor allem dort, wo Management innovativ sein muss, ist ‚Kreativität‘ gefordert.

Damit wird Kreativität nicht nur als Voraussetzung für eine neuartige, im weitesten Sinn künstlerische Schöpfung verstanden; Kreativität zeigt sich

hier vor allem als Problemlösungsfähigkeit und ist eng verbunden mit In-novation, und Innovation mit Erfolg. (vgl. dazu Ammicht Quinn und Heesen, i. E.)

John Baer und James C. Kaufman stellen in ihrer Studie über Gender Differences in Creativity (Baer und Kaufman 2008) fest, dass die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlechterdifferenzen und Kreativität eine vernachlässigte Frage ist – auch weil der Gegenstandsbereich schwer fass-bar ist. Zugleich stoßen sie auf eine Widersprüchlichkeit zwischen Tester-gebnissen, die Kreativität messen oder vorhersagen wollen und tatsächlich als kreativ anerkannten Leistungen (Baer und Kaufman 2008: 76). Bei Kre-ativitätstests und kreativen Leistungen zeigen sich keine relevanten Diffe-renzen zwischen Mädchen und Jungen, möglicherweise eine leichte Präfe-renz für Mädchen (ebd.: 75). Bei Erwachsenen werden dann deutliche Diskrepanzen sichtbar: Als bedeutend anerkannte kreative Leistungen wer-den weitaus häufiger von Männern hervorgebracht. „…[W]e would argue“, so Baer und Kaufman, „that assuming any gender differences in creativity are most likely the product of differing environments would represent the best overall synthesis of what we currently know about gender differences in creativity“ (ebd.: 98).

Proudfoot, Kay und Koval nehmen diese Frage 2015 mit einer neuen Perspektive auf: Sie untersuchen in fünf aufeinander aufbauenden Studien den Gender Bias in der Zuschreibung von Kreativität (Proudfoot, Kay und Koval 2015). Die Vorstellung von ‚Kreativität‘ ist, so das Ergebnis, eng mit als männlich verstandenen Stereotypen verknüpft, etwa Unabhängigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Selbstbewusstsein, bewusstes Durchbrechen von Regeln usw. Im Vergleich beziehen sich als weiblich verstandene Stereotype auf Kooperationsfähigkeit, Empathie, Fürsorge, Hilfsbereitschaft und ver-gleichbare Eigenschaften (ebd.: 1754) und sind damit zwar ein möglicher Grund für Unterbrechungsbereitschaft, nicht aber für Meisterwerke.

„Thinking outside the box“ wird Männern zugeschrieben, während von Frauen „connecting the dots“ erwartet wird (ebd.: 1753). Das heißt nicht, dass Männer kreativer sind, aber dass das, was sie tun, als kreativ gedeutet und anerkannt wird – weil das Verständnis von ‚Kreativität‘ sich in großen

Teilen mit dem Verständnis von ‚Männlichkeit‘ überlappt. Dabei wird zu-gleich ein bestimmtes Verständnis von ‚Kreativität‘ vorausgesetzt: Nach wie vor werden Jungen verspottet, wenn sie Ballett tanzen oder Aquarelle malen wollen. All dies erscheint wenig ‚maskulin‘. Aber dort, wo es um Zuschreibungen von Unabhängigkeit, Autonomie, Selbstbewusstsein und Eigenwilligkeit geht, nähert sich diese Zuschreibung von Männlichkeit ei-ner populären Vorstellung von Kreativität an – oder die populäre Vorstel-lung von Männlichkeit einer Zuschreibung von Kreativität.

„Ich glaubte einmal, das Talent des Schaffens zu besitzen, doch von dieser Idee bin ich zurückgekommen, ein Frauenzimmer muss nicht com-ponieren wollen – es konnte noch keine, sollte ich dazu bestimmt sein?“

(Litzmann 1920: 289). Clara Schumann, Komponistin und Pianistin, hier in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1839, steht damit in einer langen Reihe von Künstlerinnen. Diese Reihe reicht bis heute, und Clara Schu-mann ist deutlich näher bei aktuellen Beobachtungen und Studien als es der zeitliche Abstand vermuten ließe. Auch heute wird in populären Zu-schreibungen ein Nähtischklavier impliziert: Natürlich sind auch Frauen kreativ, aber meistens auf zwei Oktaven, nicht auf dem großen Flügel. Das Klavierspielen und Nähen zielt nicht in die ‚Höhe‘, sondern in den Alltag, von dem manche immer noch annehmen, er befinde sich in den Niederun-gen.

Ein Blitzlicht darauf werfen TED Talks, in denen berühmte, kluge, in-teressante usw. Menschen ihre Ideen einem breiteren Publikum vermitteln.

In Proudfoots dritter Studie wurden Reaktionen der Nutzer*innen auf die hochgeladenen TED Talks untersucht. In einem Evaluationsinstrument konnte unter einer Reihe von 14 Beschreibungen (wie „beautiful“, „coura-geous“, „informative“, „ok“ und anderen) drei Wörter gewählt werden, die am treffendsten erschienen. Unter den 100 meist gesehenen Talks waren 28 Talks von Frauen. Über alle Themenbereiche hinweg („fashion design“

als Ausnahme) wurde die Bewertung „ingenious“/„genial“ signifikant häu-figer Männern zugeschrieben als Frauen (Proudfoot u.a. 2015: 1755f.). Nur

„fashion design“ ist der Ort, an dem die beschränkte aber liebliche Weiblichkeit hervortreten darf.

‚Genial‘ ist damit eine Zuschreibung, die nicht so richtig auf Frauen passt. Zu oft fehlt hier – wie in Judy Chicagos Beschreibung – der Raum, um die Leistungen zu sehen. In ihrer Studie Evidence of Bias Against Girls and Women in Contexts that Emphasize Intellectual Ability aus dem Jahr 2018 (Bian, Leslie und Cimpian 2018: 1139–1153) beschreiben die Psycholog*in-nen Lin Bian, Sarah-Jane Leslie und Andrei Cimpian die Ergebnisse einer Testanordnung: Hier sollen Testpersonen fiktive Menschen fiktiven Stel-lenausschreibungen zuordnen. „The odds of referring a woman (vs. a man) were 38.3% lower when the job description mentioned brilliance“ (ebd.:

1143). Und wenn fünf- bis siebenjährige Kinder andere Kinder aussuchen sollten, um mit ihnen ein Spiel zu spielen, für das man „really, really smart“

sein muss, wurden Mädchen signifikant seltener gewählt (ebd.: 1146).

Es scheint also eine ausgesprochen langlebige und wirkmächtige Mei-nung zu sein, dass Frauen nicht nur weniger mathematisch oder logisch begabt, sondern auch weniger kreativ und damit weniger erfolgreich sind.

Und dies hat eine relevante Prägekraft für das, was Charles Taylor social imaginaries nennt: „The social imaginary is not a set of ideas: rather, it is what enables, through making sense of, the practices of a society“ (Taylor 2004: 2). Wer also ist ‚genial‘? Was sind die social imaginaries der Wissen-schaft?

Viertes Blatt: Intellektuelle, Expert*innen und die Wissenschaft

„Ladies“, schreibt Virginia Woolf über die Universität Oxbridge, „are only admitted to the library if accompanied by a Fellow of the College or

„Ladies“, schreibt Virginia Woolf über die Universität Oxbridge, „are only admitted to the library if accompanied by a Fellow of the College or