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2.3. Persönlichkeit

2.4.3. Der Temporallappen

2.4.3.1. Die Anatomie des Temporallappens

Der Temporallappen liegt unterhalb der sylvischen Fissur und vor dem Okzipital- und dem Parietallappen und beinhaltet die Brodmann-Areale 20, 21, 22, 37, 38, 41 und 42 (Birbaumer & Schmidt, 1991; Kolb & Whishaw, 1996). In den lateralen Anteilen des Temporallappens befinden sich auditorische Areale (Brodmann-Areale 41, 42, 22) und Anteile der ventralen visuellen Verarbeitungsbahn (Brodmann-Areale 20, 21, 37, 38). Die Insula, die aus den nach innen gefalteten Anteilen der sylvischen Fissur besteht, beinhaltet den gustatorischen Kortex und den auditorischen Assoziationskortex. Mit dem Kortex um den Sulcus temporalis superior verfügt der Temporallappen über eine multimodale Region, die auditorisches, visuelles und somatisches Input erhält. Zu den medialen Anteilen des Temporallappens zählen Amygdala, Hippokampus, Unkus, Subikulum, entorhinaler Kortex, perirhinaler Kortex und der Gyrus fusiformis (Kolb & Whishaw, 1996). Insbesondere der Hippokampus reagiert sehr empfindlich auf Sauerstoffmangel, der z.B. bei Geburtskomplikationen auftreten kann. Zudem hat der Temporallappen eine sehr niedrige Krampfschwelle. Diese beiden Aspekte erklären, warum Temporallappenepilepsien im Vergleich zu anderen fokalen Epilepsieformen deutlich häufiger auftreten (Matthes &

Schneble, 1999).

Der Temporallappen enthält Teile des limbischen Systems, das mit der Kontrolle des vegetativen Nervensystems, mit emotionalen und motivationalen Vorgängen (z.B. Angst, Wut, Sexualität, Aggression) und mit Lern- und Gedächtnisprozessen in Verbindung gebracht

wird (Gazzaniga et al., 2002; Markowitsch, 2000; Zilles & Rehkämper, 1998). Es besteht hauptsächlich aus phylogenetisch älteren Hirnarealen. Verschiedene Autoren unterscheiden sich jedoch darin, welche Regionen sie zum limbischen System zählen. Zilles und Rehkämper (1998) nennen folgende Hirnareale: Hippokampus, Area entorhinalis, Septum, Gyrus zinguli, Amygdala, rostraler Thalamus (Nucleus anterior thalami), Teile des Epi- (Nucleus habenulae) und Hypothalamus (Corpus mamillare), Teile des Mittelhirns (Nucleus interpeduncularis) und die Formatio reticularis.

Der Temporallappen verfügt über eine Vielzahl von Verbindungen zu anderen Hirnregionen. Er erhält Input aus den sensorischen Systemen und sendet seinerseits Informationen an die parietalen und frontalen Assoziationsgebiete sowie an das limbische System und an die Basalganglien. Auch innerhalb des Temporallappens besteht ein dichtes Netz von Verbindungen (Kolb & Whishaw, 1996).

2.4.3.2. Die Funktionen des Temporallappens

Die folgenden Abschnitte zielen nicht auf eine möglichst vollständige Darstellung der Funktionen des Temporallappens ab. Vielmehr sollen nur die Funktionen detailliert beschrieben werden, die für die vorliegende Arbeit relevant sind.

Hörwahrnehmung und visuelle Wahrnehmung

Aufgrund der soeben beschriebenen anatomischen Gegebenheiten ist der Temporallappen an der Verarbeitung akustischer und visueller Reize beteiligt (Kolb &

Whishaw, 1996). Auf eine ausführliche Darstellung dieser Funktionen wird hier aus dem bereits genannten Grund verzichtet.

Sprache

Im posterioren Bereich des (linken) Gyrus temporalis superior, im Übergangsbereich zum Parietallappen, befindet sich das Wernicke-Areal. Schädigungen in diesem Areal führen zu einer Störung des Sprachverständnisses. Die Patienten sprechen zwar fließend, aber ihre Wörter und Sätze haben inhaltlich keinen Sinn (Gazzaniga et al., 2002). Damit handelt es sich schwerpunktmäßig um eine rezeptiv-sensorische Störung der Sprache (Huber & Ziegler, 2000). Schädigungen in links temporoparietalen kortikalen und subkortikalen Arealen können auch zu einer Anomie, d.h. einer Störung in der Wortfindung, führen. Bei erhaltenem Sprachverständnis wird der Sprachfluss häufig dadurch unterbrochen, dass die Patienten nach bestimmten Worten suchen. Diese Schwierigkeiten zeigen sich auch in Aufgaben zur

Benennung von Objekten (Huber, Poeck & Weniger, 2000). Auch bei Epilepsiepatienten mit linkstemporalem epileptischem Fokus treten Störungen des Benennens in entsprechenden Tests auf (z.B. Mayeux, Brandt, Rosen & Benson, 1980; Perrine & Kiolbasa, 1999; Saykin et al., 1995). Mayeux et al. (1980) fanden in ihrer Untersuchung zudem einen negativen Zusammenhang zwischen der Benennensleistung einerseits und dem für Temporallappenepilepsie als typisch postulierten Persönlichkeitsmerkmal der

„Umständlichkeit“ bzw. „Circumstantiality“ (Bear & Fedio, 1977) andererseits. Sie schlossen daraus, dass der weitschweifige und umständliche Sprachstil dieser Patienten weniger Ausdruck eines Persönlichkeitsmerkmals ist, sondern vielmehr ein Versuch der Patienten, Probleme in der Wortfindung durch ausführliche Umschreibungen zu kompensieren.

Gedächtnis

Vor allem bei Schädigungen der mesialen (Amygdala, Hippokampus, Parahippokampus) aber auch der damit verbundenen kortikalen Areale des Temporallappens kommt es zu Beeinträchtigungen des deklarativen Gedächtnisses, d.h. dem bewussten Lernen und Abrufen von Information (Hartje & Sturm, 2000; Helmstaedter, 2000). Zudem zeigt sich eine funktionelle Hemisphärenasymmetrie für die Art der einzuspeichernden Information: Die linksseitige Temporalregion wird mit dem Gedächtnis für verbales bzw.

verbal kodierbares Material, die rechtsseitige Temporalregion mit dem Gedächtnis für visuell-räumliches schwer verbalisierbares Material, z.B. komplexe Figuren oder Gesichter, in Verbindung gebracht (Hartje & Sturm, 2000; Helmstaedter, 2000; Kolb & Whishaw, 1996).

Dem Hippokampus wird traditionell eine herausragende Bedeutung für das Gedächtnis zugesprochen. Seine genaue Funktion ist jedoch bis heute noch nicht ganz geklärt. Bell und Davies (1998) nehmen an, dass der Hippokampus Teil eines multiplen Gedächtnissystems ist.

So sind z.B. auch neokortikale Areale am Gedächtnis beteiligt (Eichenbaum, 2000; Kandel et al., 1995; Kolb & Whishaw, 1996). Zudem führt nicht nur die Zerstörung des Hippokampus, sondern auch die Zerstörung von Strukturen, mit denen er in engem Kontakt steht sowie eine Zerstörungen der entsprechenden anatomischen Verbindungen (entorhinaler Kortex, Fornix, Mamillarkörper, Subikulum) zu Gedächtnisdefiziten. Eine weitere Struktur, die vor allem dann für Gedächtnisprozesse von Bedeutung ist, wenn diese eine emotionale Komponente enthalten, ist die Amygdala. Da Amygdala und Hippokampus eng miteinander verbunden sind, können Gedanken und Erinnerungen, die im Hippokampus verarbeitet werden, durch die Beteiligung der Amygdala eine emotionale Färbung bekommen (Le Doux, 1992).

Emotionalität

Nach bilateralen Läsionen des medialen Temorallappens beobachtete man bei Tieren eine als „Klüver-Bucy-Syndrom“ bezeichnete Verhaltensänderung, deren Kennzeichen Zahmheit, Hypoemotionalität, visuelle Agnosie, orale Tendenzen und Veränderungen im sexuellen Verhalten sind. Und auch bei Menschen sind ähnliche Verhaltensänderungen z.B.

nach Schädel-Hirn-Traumen oder Epilepsie-Operationen beobachtet worden. Vorraussetzung ist immer das Vorliegen bilateraler medial-temporaler Läsionen (Euler & Mandl, 1983; Peper

& Irle, 1997). Innerhalb des limbischen Systems wird vor allem die Amygdala mit emotionalem und sozialem Verhalten in Verbindung gebracht (Le Doux, 1992, 1996; Kirsch, 2006). In Bezug auf die beim Klüver-Bucy-Syndrom entstehende Hypoemotionalität vermutet man, dass die affektive Bedeutung visueller Information (z.B. Bedrohlichkeit eines Reizes), die in kortikalen Arealen verarbeitet wird, ohne die Beteiligung der Amygdala nicht erfasst werden kann. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass alle primären sensorischen Eingangsbereiche des Kortex mit der Amygdala in Verbindung stehen. Im visuellen System verlaufen diese Verbindungen durch den striären Kortex, den prästriären Kortex und den temporalen Neokortex, der dann zur Amygdala projiziert. Auch Schädigungen des temporalen Neokortex oder der Input- oder Output-Routen des Temporallappens können daher Symptome des Klüver-Bucy-Syndroms hervorrufen (Le Doux, 1992). Die Amygdala ist eine Ansammlung von funktionell sehr unterschiedlichen Kernen, denen eine Bedeutung für emotionale Lern- und Gedächtnisvorgänge zugeschrieben wird. Schädigungen der Amygdala führen (bei Mensch und Tier) zu Defiziten in der Angst-Konditionierung, einer Form des klassischen Konditionierens, die zu den impliziten Lernvorgängen zu zählen ist (Adolphs, 2003; Gazzaniga et al. 2002). Wie bereits angesprochen beeinflusst die Amygdala über ihre Verbindungen zum Hippokampus jedoch auch deklarative bzw. explizite Lernvorgänge.

Ereignisse bzw. Informationen mit emotionaler Bedeutung können besonders gut und lange erinnert werden. Dies wird mit einem durch die Amygdala vermittelten erhöhten Arousal erklärt, das die Konsolidierung der Gedächtnisinhalte im Hippokampus verstärkt (Gazzaniga et al., 2002). Eine Reihe von Befunden spricht für eine Beteiligung der Amygdala an der Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke, und hier insbesondere bei der Emotion Angst (Adolphs, 2003; Adolphs, Tranel, Damasio & Damasio, 1994; Adolphs, Tranel, Damasio &

Damasio, 1995). Dies könnte durch ihre Aufgabe, visuelle Reize mit einer emotionalen Bedeutung zu verbinden erklärt werden. Im Tierversuch können durch Reizung der Amygdala überlebenswichtige Kampf- und Fluchtreaktionen ausgelöst werden, die durch eine Abtragung der Amygdala reduziert werden (Euler & Mandl, 1983). Auch beim Menschen

kommt es durch die elektrische Stimulation der Amygdala zu Angstgefühlen (Kandel et al., 1995; Kolb & Whishaw, 1996). Chirurgische Eingriffe an der Amygdala extrem aggressiver und gewaltbereiter Personen führen zu einer Reduktion der Aggressivität (Peper & Irle, 1997). Die Amygdala hat jedoch nicht nur eine Bedeutung für Furcht oder negative emotionale Reaktionen, sondern ist auch an der Verknüpfung von belohnenden Eigenschaften mit ursprünglich neutralen Reizen beteiligt (Kandel et al., 1995).

Die Meinung, dass das limbische System allgemein mit der Entstehung emotionalen Verhaltens und mit der Auslösung somatischer Begleiterscheinungen emotionaler Reaktionen in Verbindung steht, ist allgemein akzeptiert. Es jedoch als „emotionales Gehirn“ zu bezeichnen stellt nach Kolb & Whishaw (1996) eine grobe Vereinfachung dar. So zeigt beispielsweise die funktionelle Verknüpfung von orbitofrontalem Kortex und Amygdala, dass an der Verarbeitung von Emotionen unterschiedliche Gehirnregionen beteiligt sind, die miteinander in Verbindung stehen.

2.4.3.3. Abschließende Bemerkungen

Die soeben beschriebenen Erkenntnisse über die kognitiven Funktionen des Temporallappens werden auch bei Epilepsiepatienten zur Lokalisation und Lateralisation eines epileptischen Fokus im Rahmen der neuropsychologischen Diagnostik genutzt (Elger, Helmstaedter & Kurthen, 2004; Helmstaedter, 2000; Helmstaedter & Kurthen, 2001). Neben seinen kognitiven Funktionen hat der Temporallappen, und hier insbesondere die limbischen Strukturen, auch für Emotionalität und Persönlichkeit eine wichtige Bedeutung. Bestimmte Auffälligkeiten in der Persönlichkeit („Circumstantiality“/„Umständlichkeit“) scheinen zudem zumindest teilweise durch kognitive Defizite (Wortfindungsstörung) mit bedingt zu sein.

Nachdem im Vorangegangenen die Funktionen des Frontal- und des Temporallappens sowie deren Relevanz für Persönlichkeitsveränderungen und psychopathologische Auffälligkeiten erläutert wurden, soll in den nächsten Abschnitten geklärt werden, welche Persönlichkeitsveränderungen und psychiatrischen Auffälligkeiten bei Epilepsiepatienten gehäuft auftreten.

2.5. Persönlichkeitsveränderungen und psychopathologische Auffälligkeiten bei Epilepsie

Bei der Untersuchung von Verhaltensauffälligkeiten bei Epilepsie muss zwischen zwei Formen unterschieden werden (Matthes & Schneble, 1999; Swinkels, Kuyk, van Dyck &

Spinhoven, 2005): Zum einen können so genannte periiktale (präiktale, iktale und postiktale) Auffälligkeiten auftreten, die unmittelbar mit dem Anfallsgeschehen in Verbindung stehen. Die vorliegenden Arbeit beschäftigt sich jedoch mit interiktalen, überdauernden Verhaltensauffälligkeiten. Diesbezüglich stößt man in der Literatur häufig auf den Begriff der „epileptischen Wesensänderung“, der impliziert, dass bei Epilepsiepatienten epilepsiespezifische Verhaltens- bzw. Persönlichkeitsveränderungen vorliegen (Abschnitt 2.5.2.). Zum anderen findet man auch Angaben zu klassischen psychiatrischen Auffälligkeiten bei Epilepsiepatienten (Abschnitt 2.5.3.). Zunächst werden im Abschnitt 2.5.1. mögliche Ursachen für beide Formen interiktaler Verhaltensauffälligkeiten vorgestellt.