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2.3. Persönlichkeit

2.5.2. Die „epileptische Wesensänderung“

Über die mögliche Existenz einer „epileptischen Wesensänderung“ wird kontrovers diskutiert. Dieser Begriff beinhaltet die Annahme, dass bei Epilepsiepatienten eine charakteristische bzw. epilepsietypische Persönlichkeitsveränderung vorliegt. Devinsky (2003) nennt einige Eigenschaften, die Epilepsiepatienten und insbesondere solchen mit

Temporallappenepilepsie, vermehrt zugeschrieben werden: Mit dem Begriff „Viscosity“ wird die Tendenz beschrieben, interpersonelle Kontakte aufgrund von umständlichen Umschreibungen und Wiederholungen im Gespräch sowie aufgrund eines mangelnden Verständnisses für soziale Signale zum Beenden einer Interaktion unangemessen in die Länge zu ziehen. Auch wird von „Hyposexualität“ berichtet, die sich in einer verringerten Libido oder Störungen der sexuellen Erregbarkeit äußern kann. Zudem zeigt sich eine verstärkte Tendenz zur „Religiosität“ sowie zum ausführlichen, detaillierten und teilweise zwanghaften Schreiben. Letzteres wird als „Hypergraphie“ bezeichnet. Außerdem sollen bei den Patienten vermehrt aggressive Verhaltensweisen auftreten („Aggression“).

Viele Jahrhunderte wurde die Epilepsie in erster Linie mit negativen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht. Die Patienten wurden für nicht vertrauenswürdig oder sogar für gefährlich gehalten und dementsprechend gemieden (Benson, 1991). Im Mittelalter wurde die Epilepsie für eine göttliche Strafe bzw. für eine dämonische Besessenheit gehalten (Matthes

& Schneble, 1999). Im späten 19. Jahrhundert setzte sich die Ansicht durch, dass die Epilepsie einen degenerativen Effekt auf die Persönlichkeit und die Moral habe. Ärzte beschrieben Epilepsiepatienten als exzentrisch, misstrauisch, übellaunig, dickköpfig, eigensinnig, gerissen, leicht reizbar und im Umgang insgesamt schwierig (Schwartz, 1996).

Schwartz (1996) kritisiert, dass die heutigen wissenschaftlichen Untersuchungen zu einer epileptischen Persönlichkeitsveränderung und die in diesem Zusammenhang verwendete Sprache zu einer ähnlichen Stigmatisierung der Patienten führen wie damals. Auf der anderen Seite führten Bemühungen, die Epilepsiepatienten zu entstigmatisieren, zu einer völligen Leugnung der möglichen Existenz epilepsiebedingter Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen (Benson, 1991). Heute ist man sich aufgrund klinischer Beobachtungen jedoch weitgehend darin einig, dass zwar nicht alle, aber dennoch einige Epilepsiepatienten Persönlichkeitsveränderungen aufweisen (Benson, 1991).

Während Begriffe wie „epileptische Wesensänderung“ oder „epileptische Persönlichkeitsstörung“ relativ allgemein gehalten sind und implizieren, dass bei Epilepsiepatienten generell Störungen der Persönlichkeit vorliegen, bezieht sich das so genannte „Geschwind-Syndrom“ bzw. das „Gastaut-Geschwind-Syndrom“ auf eine umschriebene Anzahl von Persönlichkeitsmerkmalen, die spezifisch für Patienten mit Temporallappenepilepsie sein sollen (Benson & Hermann, 1997). Insgesamt bezieht sich ein Großteil der Untersuchungen und Theorien zu Persönlichkeitsauffälligkeiten bei Epilepsie auf Patienten mit Temporallappenepilepsie. Dies mag zum einen daran liegen, dass es sich hierbei um die häufigste symptomatisch fokale Epilepsieform handelt. Zum anderen sind hier

aufgrund der Funktionen des limbischen Systems am ehesten Veränderungen der Persönlichkeit zu erwarten.

Gastaut und Mitarbeiter (Gastaut, Morin, & Lesèvre, 1955; Gastaut, Roger &

Lesèvre, 1953) beobachteten bei Patienten mit Temporallappenepilepsie Verhaltensauffälligkeiten wie Hyposexualität, erhöhte Reizbarkeit bzw. eine allgemein erhöhte Emotionalität und eine mentale Verlangsamung. Letztere wird auch, wie bereits erwähnt, als „Viscosity“ („Zähigkeit“) bezeichnet. Gelegentlich zeigten die Patienten Wutausbrüche, seien jedoch abgesehen davon eher ruhig, depressiv und hypersozial.

Geschwind knüpfte an die Forschung von Gastaut an und ging davon aus, dass bei Patienten mit Temporallappenepilepsie ein erhöhter Einfluss von Affekten auf das Verhalten und die Kognition besteht. Die gleiche abnormale limbische Aktivität, die für die Anfälle verantwortlich sei, müsse auch als Ursache für die Verhaltensänderungen gesehen werden (Waxman & Geschwind, 1975). Bear (1979) spricht von einer sensorisch-limbischen-Hyperkonnektivität bei diesen Patienten, die dazu führt, dass sensorischen Reizen vermehrt emotionale Bedeutung zugeschrieben wird. Einige der bei Temporallappenepilepsie beobachteten Persönlichkeitszüge stehen zudem genau im Gegensatz zu den beim Klüver-Bucy-Syndrom beobachteten Verhaltensänderungen. Dementsprechend geht man beim Klüver-Bucy-Syndrom von einer sensorisch-limbischen-Diskonnektion aus (Bear, 1979;

Geschwind, 1965). Das Gastaut-Geschwind-Syndrom manifestiert sich in einem erhöhten Interesse an philosophischen und religiösen Fragestellungen (Religiosität), in einer Tendenz zu umfangreichem, manchmal auch zwanghaftem Schreiben oder Malen, das häufig kosmischer oder philosophischer Natur ist (Hypergraphie) und in einer Änderung des Sexualverhaltens (Hyposexualität) (Geschwind, 1983; Waxman & Geschwind, 1975). Bear und Fedio (1977) überarbeiteten die Theorien von Gastaut und Geschwind und postulierten 18 Eigenschaften, die für Patienten mit Temporallappenepilepsie charakteristisch sein sollten (Tab. 2.5.2.).

Tabelle 2.5.2.: Achtzehn charakteristische Eigenschaften von Patienten mit Temporallappenepilepsie, nach Bear & Fedio (1977)

Emotionality Guilt Hypergraphia

Elation, Euphoria Hypermoralism Religiosity

Sadness Obsessionalism Philosophic interest

Anger Circumstantiality Dependence, Passivity

Aggression Viscosity Humorlessness, Sobriety

Altered sexual interest Sense of personal destiny Paranoia

Sie untersuchten mit dem Bear-Fedio-Inventory (BFI) über Selbst- und Fremdurteile, ob sich Patienten mit unilateralen temporalen Anfallsherden bezüglich dieser 18 Traits von Patienten mit neuromuskulären Störungen und von Gesunden unterscheiden.

Epilepsiepatienten charakterisierten sich selbst durch Eigenschaften wie

„Humorlessness/Sobriety“, „Dependence“ und „Obsessionalism“, während die Fremdbeurteiler sie mit den Eigenschaften „Circumstantiality“, „Philosophical interest“ und

„Anger“ in Verbindung brachten. Zudem gab es Lateralitätsunterschiede: Rechtstemporale hatten höhere Ausprägungen in der Eigenschaft „Elation/Euphoria“ während Linkstemporale sich höher bei den Eigenschaften „Anger“, „Paranoia“ und „Dependence“ einschätzten. An der Studie wurde jedoch vor allem die kleine Stichprobengröße (insgesamt 48 Patienten in den beiden Epilepsiegruppen und den beiden Kontrollgruppen) und das Fehlen einer Kontrollgruppe mit Epilepsiepatienten mit anderen Epilepsieformen (nicht Temporallappenepilepsie) kritisiert. Verschiedene Autoren versuchten diese Mängel zu beheben und die Ergebnisse von Bear & Fedio (1977) zu replizieren. Sowohl Devinsky und Najjar (1999) als auch Shetty und Trimble (1997) geben einen Überblick über diese Studien.

Die Ergebnisse fielen sehr unterschiedlich aus. Devinsky & Najjar (1999) kommen zu dem Schluss, dass Epilepsiepatienten (Temporallappenepilepsie und generalisierte Epilepsie) im Vergleich zu Gesunden oder nicht-psychiatrischen Patienten mit anderen Störungen erhöhte Ausprägungen in den BFI-Eigenschaften zeigen. Ob sich Epilepsiepatienten (Temporallappenepilepsie und generalisierte Epilepsie) im BFI jedoch von psychiatrischen Patienten unterscheiden oder nicht, wird aufgrund der widersprüchlichen Studienergebnisse (Bear, Levin, Blumer, Chetham & Ryder, 1982; Mungas, 1982; Rodin & Schmaltz, 1984) kontrovers diskutiert. Auch der Vergleich von Patienten mit Temporallappenepilepsie und solchen mit generalisierten Epilepsien erbrachte inkonsistente Ergebnisse (Brandt, Seidman &

Kohl, 1985; Hermann & Riel, 1981; Rodin & Schmaltz, 1984; Sorensen, Hansen, Andersen, Hogenhaven, Allerup & Bolwig, 1989). Aber wenn signifikante Unterschiede vorlagen, dann hatten meist die Patienten mit Temporallappenepilepsie die höheren Eigenschaftssausprägungen im BFI (Devinsky & Najjar, 1999). Für die von Bear und Fedio (1977) gezeigten Lateralitätsunterschiede zeigte sich zwar nur geringe Evidenz. Man kann jedoch sagen, dass Patienten mit linkstemporalem Fokus eher zu höheren Eigenschaftsausprägungen tendieren als Patienten mit rechtstemporalem Fokus (Devinsky &

Najjar, 1999; Shetty & Trimble, 1997). Aufgrund der inkonsistenten Studienergebnisse ist die Frage nach spezifischen Persönlichkeitsveränderungen bei der Epilepsie im Allgemeinen und der Temporallappenepilepsie im Besonderen auch heute noch stark umstritten.

Schwartz (1996) kritisiert zudem, dass die Einordnung der Verhaltensauffälligkeiten bei Epilepsie als eine Form der Persönlichkeitsstörung zum einen eine Stigmatisierung der Patienten mit sich bringt und zum anderen wenig Raum für Interventionsmöglichkeiten lässt.

Er schlägt daher vor, die Auffälligkeiten mit dem Begriff „Soziale Apraxie“ zu beschreiben.

Hier kommt es aufgrund von Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsstörungen zu einer Fehlinterpretation sozialer Reize, zu einer Beeinträchtigung der Affektregulation, zu einer mangelnden Zuweisung von Prioritäten in Bezug auf eigene Ziele und Bedürfnisse, zu einer verminderten Fähigkeit, soziale Situationen richtig einzuschätzen, und zu einer unbeholfenen und ungeschickten Kommunikation und Durchführung eigener Vorhaben innerhalb des sozialen Umfeldes. Insgesamt führt diese Störung zu Schwierigkeiten in der Anpassung an die Anforderungen des sozialen Umfeldes. Die Verwendung des Apraxie-Konzeptes legt nach Meinung von Schwartz (1996) im Gegensatz zum Konzept der „epileptischen Persönlichkeit“

eher eine Interventionsmöglichkeit nahe und ist zudem weniger negativ besetzt.

Neben der Suche nach epilepsiespezifischen Verhaltensauffälligkeiten beschäftigte man sich auch mit der Frage, ob klassische psychiatrische Störungen bei Epilepsiepatienten häufiger auftreten als bei Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen oder gesunden Personen. Entsprechende Forschungsergebnisse werden im Folgenden dargestellt.