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Szenario „Neue Energiepolitik“ (NEP)

Verzeichnis der Abkürzungen, Akronyme und Symbole

4 Charakterisierung der Szenarien

4.3 Szenario „Neue Energiepolitik“ (NEP)

Das Szenario „Neue Energiepolitik“ ist ein so genanntes „Zielszenario“, bei dem unter-sucht wird, welche technischen Massnahmen im Energiesystem umgesetzt werden müssen, um ein gegebenes Ziel zu erreichen.

Im Unterschied zu dem Zielszenario IV der Energieperspektiven 2035 wird das Zielsys-tem im Szenario „Neue Energiepolitik“ nunmehr sehr einfach gewählt:

Die energiebedingten CO2-Emissionen pro Kopf sollen bis zum Jahr 2050 auf 1 - 1.5 t abgesenkt werden. Dieses Ziel gilt als derjenige weltweite Durchschnittswert für Treib-hausgasemissionen, der dauerhaft nicht überschritten werden sollte, um die globale Erwärmung auf einen Korridor um maximal 2 °C einzuschränken. Im Gegensatz zu den für Industrieländer üblichen absoluten Emissionszielen wurde aufgrund der Sondersi-tuation der Schweiz mit stark wachsender Bevölkerung der Ansatz des pro-Kopf-Zieles gewählt, um möglichen Benachteiligungen vorzubeugen.

Die derzeitigen energiebedingten CO2-Emissionen in der Schweiz (in der Abgrenzung der Schweizer Energiebilanz ohne internationalen Flugverkehr und Raffinerieverluste) betragen ca. 5 t pro Kopf. Die Schweiz liegt damit am unteren Rand der Emissionen der Industrieländer. Die Gründe hierfür liegen einerseits in der für Industrieländer unty-pischen Wirtschaftsstruktur (grosser Dienstleistungssektor, sehr geringer Anteil ener-gieintensiver Industrien) sowie der bislang CO2-freien Stromerzeugung. Da in den ver-schiedenen Varianten der Stromerzeugung die CO2-Intensität unterschiedlich hoch ist, ergibt sich ein Zielkorridor.

Zusätzlich zu diesem Ziel, aus dem sehr weitreichende Anforderungen an die Trans-formation des Energiesystems folgen, wird bei diesem Szenario verstärkt berücksich-tigt, dass die Menge an nachhaltig erzeugbaren und verwendbaren (Primär-) Biomas-sen begrenzt ist. In der Schweiz betragen sie gem. der Potenzialstudie von Infras 2004 [Infras, 2004, vgl. auch Exkurs Biomasse im Anhang] ca. 130 PJ. Diese Begrenzung wird bei dem Einsatz und den Substitutionen der unterschiedlichen biogenen Energie-träger (Holz, feste Biomassen wie Biokohle, biogene Anteile im Abfall, Klärgas, Kom-pogas, Deponiegas, Bioerdgas sowie Biotreibstoffe) berücksichtigt. Theoretisch wird ein Import nachhaltig produzierbarer Biomassen in Höhe von bis zu 30 PJ zugelassen.

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Aus dieser strengen Restriktion folgen strategische Anforderungen an den Einsatz von Biomassen: Einerseits ist es notwendig, die knappen Ressourcen möglichst effizient einzusetzen, also vor allem in höhergrädige Prozesswärme, gekoppelte Strom- und Wärmeerzeugung sowie Güter- und Luftverkehr. Langfristig zeigt sich jedoch, dass der gesamte Verbrauch nicht so weit reduziert werden kann, dass die seltenen nachhalti-gen Biomassen für alle Einsatzzwecke hinreichen würden. Daher müssen sie vor allem dort eingesetzt werden, wo auf lange Sicht keine Substitutionsoptionen (weder tech-nisch noch bezüglich der Energieträgercharakteristik) bereit stehen. Dies ist vor allem der motorisierte Güter- und Flugverkehr, da dieser auch auf lange Sicht die hohe Ener-giedichte der flüssigen Kohlenwasserstoffe benötigen wird. Es wird davon ausgegan-gen, dass die biogenen Treibstoffe vor allem im Ausland produziert werden und impor-tiert werden. Insofern werden sie den Importbilanzen zugerechnet. Insgesamt wird je-doch darauf geachtet, dass die gesamte „zulässige“ Menge an biogenen Energieträ-gern die schweizerische Nachhaltigkeitsgrenze nicht überschreitet.

Diese Zielsetzung ist etwas strenger als diejenige des Zielszenarios IV („Wege zur 2000-Watt-Gesellschaft“) der Energieperspektiven 2035, denn dort wurde davon aus-gegangen, dass die 2000-Watt-Gesellschaft (in einer spezifischen Definition, vgl. Kap.

4 Band 2 der Energieperspektiven 2035) bis zum Jahr 2100 anzustreben sei.

Seit der Durchführung der Arbeiten der Energieperspektiven 2035 von 2003 - 2007 hat Prognos einige weitere ambitionierte Zielszenarien mit ähnlichen Zielen für Deutsch-land ausgearbeitet (z.B. die Szenarien für ein Energiekonzept 2010 der deutschen Bundesregierung samt Folgearbeiten im Zusammenhang mit dem deutschen Atom-ausstieg, das Projekt „Modell Deutschland - Klimaschutz vom Ziel her denken“ im Auf-trag des WWF Deutschland 2009 sowie „Das energiewirtschaftliche Gesamtkonzept“

im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2010). Aus den Erfahrungen dieser Szenarienarbeiten konnten strategische Setzungen und Vorgehensweisen ab-geleitet werden, die es ermöglichten, die Zielszenarien jeweils in dem gebotenen en-gen Zeithorizont zu implementieren.

Grundsätzlich wird ein vierstufiges Vorgehen gewählt:

• Ausschöpfung aller Effizienzoptionen mit heute bekannten Technologien (bester Stand des Marktes); dies schliesst eine moderate Wärmepumpenstrategie und Elektromobili-tätsstrategie für den motorisierten Personenverkehr ein;

• Substitution von fossilen Brenn- und Treibstoffen durch erneuerbare Optionen, soweit möglich und im Rahmen der Biomasserestriktionen;

• Weiterentwicklung der neuen Schlüsseltechnologien sowohl im Material- als auch im Pro-duktionstechnikbereich, um mit weniger Energie- und Rohstoffeinsatz (wegen einer Vor-kettenbetrachtung) insgesamt werthaltigere Produktionsformen sowie angepasste Pro-dukte aufzubauen.

• Wenn nach einem solchen Vorgehen das Ziel noch deutlich verfehlt wird, wird über mode-rate „Suffizienzstmode-rategien“, d.h. Veränderungen bei den Mengengrössen wie Wohnflä-chen, Ausstattungen, Veränderungen der Verkehrsmengenstruktur (modal split) und Pro-duktion nachgedacht. Dieses logische Vorgehen steht im Einklang mit den Ergebnissen zahlreicher Arbeitsgruppendiskussionen (sowohl im Rahmen der Schweizer Energieper-spektiven als auch der entsprechenden Projekte in Deutschland), dass zunächst weder Strategien einer begrenzten Zulassung von gestrandeten Investitionen noch Suffizienz-strategien als akzeptabel angesehen werden, so lange technologische und nur begrenzt

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das Verhältnis von Lebens- und Arbeitsformen verändernde Optionen zur Verfügung ste-hen. Erst wenn sich zeigen sollte, dass diese immer noch zu deutlichen Zielverfehlungen führen, sollte ernsthaft in die zeitliche und mengenmässige Entwicklung der Mengenkom-ponenten eingegriffen werden.

Daher wurde zur Entwicklung der Grundlagen für Szenario IV vor allem ein technolo-giebasierter Ansatz gewählt, der im Folgenden beschrieben wird. Zusätzlich zur Tech-nologiebasierung wird davon ausgegangen, dass Ersatzinvestitionen nicht lange über die technische Lebensdauer hinausgezögert werden und der Anteil energetisch ineffi-zienter Ersatzinvestitionen wie „Pinselsanierungen“, die auf lange Zeit vertane Chan-cen bedeuten, deutlich verringert wird.

Daher wurden – unterstützt durch eine Expertenbefragung mit Spiegelung mit den Ex-perten einer erweiterten Arbeitsgruppe [Prognos, 2006] – vor allem die Potenziale der neuen Schlüsseltechnologien

• Informations- und Kommunikationstechnologie mit verstärktem (auch kognitivem) Innova-tionsgehalt, auch auf Metaebenen, incl. Opto-Elektronik,

• Biotechnologie inkl. Bionik (und ggf. Neuroelektronik),

• Mikrotechnologie inkl. mikrominiaturisierter Produktionstechnologie,

• Nanotechnologie, insbesondere in Bezug auf Werkstoffe,

• neue Energieumwandlungs- und -transporttechnologien,

auf ihre Effizienzpotenziale und ihre Möglichkeiten, das gesamte System effizienter zu organisieren, hin ausgelotet. Hierbei war es wichtig, eine Beschränkung auf solche technischen Lösungen vorzunehmen, die bereits jetzt im Versuchsstadium sind oder Weiterentwicklungen bereits bekannter Lösungen darstellen, wie die Vakuumdäm-mung. Vollständig neuartige Produkte, Produktionsweisen, Dienstleistungsausprägun-gen oder Energiesysteme bleiben unbetrachtet – es wird also ein vorsichtiger „Techno-logieshift“ unterstellt, jedoch kein „Systembruch“.

Es zeigte sich, dass für alle Sektoren bereits mit bekannten hocheffizienten (Quer-schnitts-)Technologien ein hoher Grad an Zielerreichung bewerkstelligt werden kann.

Weitere Technologieentwicklungen vor allem bei Werkstoffen für den Gebäudebereich, Prozesstechnik (z.B. Infrarotlaser, biologische Verfahren in der Chemie- und Pharm-Industrie sowie bei der Produktion von biogenen Energieträgern) sowie Kühltechnik (Betonkernkühlung, Absorptionskälte, ORC, bivalente Wärmepumpen), Einsatz mass-geschneiderter Werkstoffe zur Oberflächengestaltung und -beschichtung machen die Zielerreichung einfacher.

Einige der Technologien, die in 2006 im Rahmen der Energieperspektiven von den Arbeitsgruppen noch als recht spekulativ eingeschätzt wurden, sind mittlerweile sehr deutlich zu sehen. Hierzu gehören

• LED- und OLED-Beleuchtungstechnologien bis hin zu Projektionstechnologie.

• Optoelektronik und Photonik als nächste Generation der physikalischen Basis für weiter-entwickelte Informations- und Kommunikationstechnologie.

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• Miniaturisierung, Visoren bei Displaytechnologien.

• Nanotechnologische Oberfläche:

Dämmstoffe auf der Basis von Nanoschäumen.

lab on chip zur materialeffizienten Produktion von Werkstoffen und Analy-setechnik.

Elektromobilität, wenn auch mit langfristigem Zeithorizont.

Hochfunktionale textile und materialeffiziente Werkstoffe auf Basis nach-wachsender Rohstoffe.

Diese Technologien werden nicht zwingend unterstellt, jedoch wird ein gewisser Anteil davon im Laufe der Zeit in den entsprechenden Verwendungszwecken eingesetzt.

Bezüglich der Infrastruktur wird von folgenden Voraussetzungen ausgegangen:

• Neubau grosser Fernwärmenetze oder NT-Wärme-Infrastruktur wird nicht unterstellt.

• Ebenso wenig wird der systematische Neubau von Kältenetzen angenommen.

• Ein signifikanter Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur wird nicht unterstellt. Als Option wird Wasserstoff als Energiespeicher sowohl für das Elektrizitätssystem (z.B. zur Auf-nahme von PV-Überleistungen und winterlicher Mitverbrennung in Gaskombikraftwerken) oder für Flottenbetriebe von Lieferflotten in kleinen Mengen mit berücksichtigt.

• Mit dem Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung muss der Ausbau der Netze auf ver-schiedenen Ebenen einhergehen.

• Im Verkehrssektor ändert sich die Aufteilung nach Verkehrsträgern. (Verlagerung auf die Schiene.) Hier wird - zusammen mit der steigenden Bevölkerung - davon ausgegangen, dass die hierfür erforderliche Infrastruktur ausgebaut wird (vgl. Verkehrsteil des Szena-rios).

Im Grundsatz könnte es notwendig sein, die Rückwirkungen eines oben geschilderten veränderten Technologieeinsatzes sowie der Technologieentwicklungen auf die Bran-chenstrukturen abzubilden. Eine solche Iterationsschleife konnte hier nicht vorgenom-men werden. Im Szenario IV der Energieperspektiven 2035 wurde dies umgesetzt, mit dem Ergebnis, dass die damals ermittelte Branchen- und Produktestruktur der heutigen vorgegebenen Strukturentwicklung (vgl. Kap. 3) sehr ähnlich wurde. Die Entwicklung der Schweizer Wirtschaftsstruktur der letzten 10 Jahre, die unter anderem zu dieser Einschätzung von ECOPLAN im Auftrag der Bundeskanzlei und des Bundesamtes für Statistik, begleitet von einer interdepartamentalen Arbeitsgruppe, führte, zeigt also durchaus in eine energie- und materialeffiziente sowie wissensintensive Richtung.

Auch diejenigen Branchen, die verstärkt von den Veränderungen des Szenario „Neue Energiepolitik“ profitieren, nämlich Chemie (vor allem wegen der neuen hochwertigen Werkstoffe), Elektrotechnik, Elektronik, Maschinenbau sind ohnehin bereits „Gewinner“

in der vorgegebenen Branchenstruktur. Die Erfahrungen aus den analogen Szenarien-projekten für Deutschland zeigen, dass die zusätzlichen rückgekoppelten Veränderun-gen der Branchenstruktur klein wären (im einstelliVeränderun-gen Prozentbereich), daher lässt sich die hier abgebildete konservative Vorgehensweise rechtfertigen.

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Bezüglich sonstiger Infrastruktur sowie Arbeits- und Gesellschaftsorganisation sind verschiedene Veränderungen, die im Szenario IV der Energieperspektiven 2035 als innovativ und veränderungsnotwendig kontrovers in den Arbeitsgruppen diskutiert wur-den, bereits jetzt als Entwicklungen sichtbar, z. T. auf dem Markt und daher bereits im Szenario „Weiter wie bisher“ untergebracht:

Diese technischen Optionen haben unter anderem einen Einfluss auf die Organisation von Arbeitsplätzen. Beispielsweise werden die Flächen im Dienstleistungssektor auf-grund besserer Ausnutzung und vermehrtem nichtlokalen Arbeiten (z.B. in Heimbüros, aber auch unterwegs, z.B. im öffentlichen Raum) reduziert. Die Verkehrsleistungen werden durch bessere Ausnutzung und Steuerung reduziert, sowie der modal split nochmals deutlich zur Schiene hin verschoben, vgl. Kap. 2. Ausser diesen Verände-rungen im Verkehrssystem wurde keine Änderung der Mengengrössen wie Produkti-onsmengen, Energiebezugsflächen oder Dienstleistungsintensität notwendig. Eine ernsthafte „Suffizienzstrategie“ ist somit aus heutiger Sicht für ein solches zielorientier-tes Szenario nicht notwendig.

Trotz der grundsätzlichen technischen Machbarkeit, die sich bereits heute abzeichnet, sind für die konkrete Umsetzung deutliche Veränderungen sowohl im regulatorischen als auch im internationalen Umfeld notwendig. Beispielsweise wird für die Elektromobi-lität eine globale Technologieentwicklung in internationaler Arbeitsteilung benötigt, un-ter Berücksichtigung gewisser Ressourcen- und Rohstofffragen. Auch für die Umset-zung der konkreten Querschnitts- und Effizienztechnologien in den Unternehmen ist es gerade für exportierende Branchen und Unternehmen notwendig, mittelfristig gewisse Harmonisierungen in den internationalen Rahmenbedingungen zu erreichen (z.B. CO2 -Handel und -preise, Anreize für Stromeffizienz, regulatorische Rahmenbedingungen, die den Technologieentwicklungen folgen, angepasstes Marktdesign auf den Strom-märkten), damit auch international die Wettbewerbsfähigkeit gewahrt bleibt. Wenn die-se Rahmenbedingungen gesichert sind, ist die Schweizer Industrie - wie oben ausführt - aufgrund ihrer Branchenstruktur und Produktpalette sehr gut aufgestellt und ge-hört eher zu den Gewinnern einer solchen technologisch und effizienzgetriebenen Entwicklung.

Um zu solchen harmonisierten Vereinbarungen zu kommen, ist als Voraussetzung ei-nerseits ein starker gesellschaftlicher Konsens über die Ziele und zur Umsteuerung notwendig, andererseits entsprechend tief greifende Instrumente, damit auch die neu-en Chancneu-en und Risikneu-en gleichmässig verteilt werdneu-en, und drittneu-ens eine ähnliche Ent-wicklung im europäischen Umfeld, idealer Weise in allen Industrieländern, sowie auch weltweit einen Paradigmenwechsel. Dieser ist einerseits notwendig, damit die entspre-chenden gerichteten Technologieentwicklungen tatsächlich einigermassen effizient und mit gleichmässigen Forschungsbelastungen in den Industrieländern durchgeführt wer-den können. Internationale Aufgabenteilung wäre hier das Gebot der Stunde. Anderer-seits wäre selbst ein europäischer Alleingang sehr ambitioniert und würde zu kompara-tiven Nachteilen auf den Weltmärkten in den stärker international ausgerichteten Wirt-schaftszweigen führen.

Im Rahmen dieser Arbeit werden explizit keine Instrumentenableitungen für dieses Szenario durchgeführt. Grundsätzlich wäre es bei entsprechenden internationalen Rahmenvereinbarungen möglich, eine Reihe von Umsetzungsschritten über entspre-chende Märkte, marktorientierte Suchprozesse und marktorientierte Instrumente (Preisrelationen oder Anforderungen an Qualitäten) zu organisieren. Auch die Trans-aktionsleistungen werden sich unter solchen Bedingungen innerhalb kurzer Zeit über den Markt organisieren.

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