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Möglichkeiten und Grenzen der Methoden und der Perspektiven

Verzeichnis der Abkürzungen, Akronyme und Symbole

2 Methodisches Vorgehen

2.6 Möglichkeiten und Grenzen der Methoden und der Perspektiven

2.6.1 Grundsätzliches

Grundsätzlich sind auch bei einer detaillierten Modellierung von Zukunftsentwicklungen Warnhinweise angebracht:

Auch sehr komplexe Modell-Systeme können nicht alle für die Entwicklung der Ziel-grössen bedeutenden Einflussfaktoren berücksichtigen. Das gilt insbesondere für indi-viduelle Entscheidungen, die durch Werte und Prioritäten ausserhalb der rein ökonomi-schen Rationalität beeinflusst werden. Zum Teil können solche Einflussfaktoren als exogen vorgegeben werden, zum Teil finden sie keinen Eingang in die Modelle.

Die Qualität der Modelle hängt von der Qualität der Grundlagen (Statistiken, Energie-verbräuche, Kohorten) ab, mit denen sie arbeiten. Hier gibt es an vielen Stellen noch Verbesserungsmöglichkeiten.

Szenarien versuchen, konsistente Welten abzubilden. Diese Welten müssen jedoch durchaus nicht eindeutig sein. So sind manche der die Szenarien definierenden Bedin-gungen nur hinreichend, aber nicht notwendig, bei anderen kann es umgekehrt sein.

Die Ergebnisse der Szenarien hängen stark von exogenen Rahmenbedingungen ab, die sich z. T. volatil ändern können. Die Szenarien konzentrieren sich auf langfristige Aussagen und rechnen mit geglätteten durchschnittlichen Rahmenbedingungen. Kon-junkturell oder durch singuläre Ereignisse ausgelöste Extremwerte (wie z.B. jährliche BIP-Fluktuationen oder Ölpreis-Peaks) werden nicht abgebildet, sondern unterliegen der Durchschnittsbildung.

Volatilitäten und konjunkturelle Schwankungen bestimmen jedoch sehr stark jeweils die aktuelle Wahrnehmung und Zukunftseinschätzung durch die Öffentlichkeit, wie sich an den Debatten über die Energiepreise der Jahre 2005 / 2006 gezeigt hat. Szenarien und deren Diskussion und Kritik können zumindest teilweise den Charakter der Projektion des „Jetzt“ in ein „Später“ – mit gewissen Anpassungen, die aus dem resultieren, was vom jeweiligen Protagonisten für wahrscheinlich gehalten wird - nicht vermeiden. Dies ist durchaus Teil des Begründungszusammenhangs einer Szenarien-Aufgabenstellung:

Es geht ja zum Teil gerade darum, Notwendigkeiten für Gegenmassnahmen und An-satzpunkte für ein gezieltes Gegensteuern zu identifizieren, wenn die gegenwärtigen Dynamiken in die Zukunft projiziert werden.

In der hier vorliegenden Arbeit werden als bewusste Entscheidung der Programmlei-tung keine Katastrophenszenarien oder „Wildcards“ betrachtet – das sind unvorher-sehbare Ereignisse mit weltweiten Auswirkungen wie Asteroideneinschläge, schwere Kernkraftunfälle, das plötzliche Auftauchen einer risiko- und nebenwirkungsfreien kos-tenlosen unerschöpflichen Energiequelle o.ä.. Falls solche Ereignisse auftreten wür-den, wären eine Reihe der hier betrachteten Fragestellungen nicht mehr relevant.

Allerdings können Sensitivitäten betrachtet werden, aus denen hervorgeht, wie robust oder anfällig die Energiesysteme gegenüber Schwankungen in den Rahmenbedingun-gen sind. Aus Zeitgründen werden allfällige Sensitivitätsanalysen bei dieser Aufgabe erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt.

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Bei sehr langfristig orientierten Szenarien muss in Betracht gezogen werden, dass sich sowohl der Technologiefortschritt als auch die Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisa-tion stetig verändert. Insbesondere wird mit einer zunehmenden Entwicklung von wis-sensintensiven und weniger materialintensiven Produkten sowie Prozessschritten in einem Land wie der Schweiz eine saubere Trennung zwischen Industrie- und Dienst-leistungsbranchen schwierig. Die Flexibilisierung von Arbeitsprozessen und das Ausla-gern und Outsourcing zahlreicher Aufgaben aus Industrieprozessen in industrienahe Dienstleistungsbetriebe (z.B. IT, Entwicklung, Test) führt zu einer leicht „künstlichen“

Unterscheidung von Industrie- und Dienstleistungssektor, die bereits heute schwer zu interpretieren ist. Dieser Punkt sollte berücksichtigt werden, wenn die Branchenent-wicklung sowie die Energieverbräuche des Industrie- und Dienstleistungssektors be-trachtet werden.

Viele gesellschaftliche und methodische Probleme wie z.B. externe Kosten, die Vertei-lung der mit Klimawandel oder Kernkraftunfällen verbundenen Risiken, die Kosten des Einsatzes von Politikinstrumenten oder Aushandlungsprozesse in Risikofragen können im Rahmen dieser Modellrechnungen nicht gelöst werden. Dafür sitzen andere Konsor-tien mit anderen Modellen an weitaus grobkörnigeren Fragestellungen. Für kommende Aushandlungsprozesse wurden aber durch die Szenarienarbeiten Faktengrundlagen geschaffen.

Um eine dauerhaft durchhaltbare energiepolitische und energiewirtschaftliche Strategie festzulegen und einen Konsens über eine mögliche und zulässige Erreichung der z. T.

in den Auswirkungen konfligierenden Ziele zu erreichen, müssen letztlich auch ethi-sche Fragestellungen in den gesellschaftlichen Diskurs einfliessen:

• Was will sich die Gesellschaft leisten? Diese Fragestellung beinhaltet im Kern die Frage der Grundlagen und Funktionsweisen einer postindustriellen reichen westeuropäischen Gesellschaft: Welche Ansprüche an Komfort, Lebensstil, Versorgung, Wirtschaft, gesell-schaftliche Disparitäten, Umgang mit einer alternden Bevölkerung, etc. werden formuliert?

• Was ist die Gesellschaft bereit, dafür in Kauf zu nehmen? Diese Frage betrifft zumeist und zumindest Kosten, Risiken (z.B. grosse Anlagenunfälle, Blackoutrisiken, Abhängigkeitsri-siken), Einschränkungen von Freiheiten, Gesundheitsgefährdungen sowie Komplexitäts-entwicklungen.

• Was kann die (jetzige) Gesellschaft verantworten? Diese Fragestellungen beinhaltet ins-besondere die Auseinandersetzung mit negativen Auswirkungen auf Regionen, Men-schen(gruppen) und Generationen, die nicht direkt von den angestrebten Nutzen profitie-ren. Hierzu gehören z.B. langfristige Umweltschäden, irreversible Auswirkungen von Energienutzungen (radioaktive Abfälle, die über Jahrzehntausende gesichert werden müssen, Klimawandel), Proliferationsrisiken, Risiken von Grossunfällen, geopolitische Ri-siken aufgrund von Verteilungsungleichgewichten?

2.6.2 Systemgrenzen und allgemeine Voraussetzungen

Aufgrund der Systemgrenzen, der Trägheit der Energiesysteme und der Stetigkeit der Entwicklungen der letzten ca. 25 Jahre werden einige Annahmen über Voraussetzun-gen und unveränderte RahmenbedingunVoraussetzun-gen getroffen:

• Es wird davon ausgegangen, dass im EU-Umfeld weiterhin eine wettbewerbs- und libera-lisierungsorientierte Energiepolitik sowie eine ernsthafte Effizienz- und Klimapolitik

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ben werden; beide Politikfelder und -ziele sind mit zähen Aushandlungsprozessen und langsamen Fortschritten verbunden.

• Auf EU-Ebene sowie auf nationaler Ebene in Ländern mit einem bereits spürbaren und wachsenden Anteil fluktuierender erneuerbarer Energien im Stromnetz zeigt sich derzeit, dass die bisherigen Marktmechanismen im Zusammenspiel mit den Fördermechanismen für erneuerbare Energien nicht mehr genügend Anreize für den Bau von physikalisch be-nötigter konventioneller Kraftwerkskapazität sowie den Bau (und z. T. den Betrieb) von Speichern zu bieten scheinen. Wie ein künftiges „Marktdesign“ aussehen kann, ist derzeit noch sehr offen. In dieser Arbeit wird daher weder explizit noch implizit auf die Marktorga-nisation rekurriert; die Betrachtung ist vorrangig physikalisch und gesamtwirtschaftlich.

Bezüglich des schweizerischen Energiesystems wird von den folgenden grundsätzli-chen Voraussetzungen ausgegangen:

• Die Infrastruktur des Systems mit gut funktionierenden Elektrizitätsnetzen, derzeit hinrei-chenden Grenzübergangskapazitäten und ausreihinrei-chenden Ausgleichsmöglichkeiten zwi-schen Erzeugungs- und Nachfrageregionen bleibt erhalten.

• Falls eine stärkere „Dezentralisierung“ der Elektrizitätserzeugung und insbesondere ein verstärkter Zubau von erneuerbaren Energien auf tieferen Netzebenen erfolgt, müssen Netzfragen untersucht werden. Dies wurde in einem ersten Schritt von Consentec [Con-sentec, 2012a und b] und der Universität Graz durchgeführt. Die wichtigsten Ergebnisse sind in Kap. 3.4 zusammen gefasst.

• Bezüglich der Wärme-Infrastruktur gibt es keine tiefen Eingriffe oder Veränderungen; es werden keine grossen neuen Fernwärmenetze unterstellt. Der Ausbau von Nahwärme-netzen, die Nutzung von Niedertemperaturwärmequellen wie bspw. Abwassernetzen ist grundsätzlich denkbar.

• Es wird nicht davon ausgegangen, dass in nennenswertem Umfang Wasserstoffinfra-struktur bis 2035 aufgebaut wird; diese Annahme wurde durch die Experten-Befragung [Prognos, 2006] im Zusammenhang mit der Entwicklung des Szenario IV der Energieper-spektiven 2035 gestützt. Grundsätzlich wird aber die Möglichkeit, Wasserstoff als Ener-giespeicher oder Energieträger (auch im Verkehr) einzusetzen, nicht ausgeschlossen.

Von einer durchgängigen Wasserstoffinfrastruktur (z.B . für den Individualverkehr) bis 2050 wird nicht ausgegangen.

• Sowohl die Entwicklungen der letzten Jahre bei den Biotreibstoffen, die unerwünschte Auswirkungen auf Lebensmittelmärkte sowie weitere Flächenkonkurrenzen mit nachhalti-ger Landnutzung, verdeutlichten, dass nachhaltig zu gewinnende Biomassen eine knappe und kostbare Ressource sind. Wenn Flächenkonkurrenzen zur Nahrungskette (menschli-che Nahrung wie Tierfutter), zur stoffli(menschli-chen Nutzung sowie zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Ökosystems (z.B. Regenwald) ausgeschlossen werden, bleiben weltweit erstaunlich geringe Potenziale zur energetischen Nutzung von Biomassen übrig.

In den Industrieländern wird mit weniger als durchschnittlich 10 % der Primärenergiebilanz gerechnet; bei einem globalen pro-Kopf-Equity-Ansatz sind dann auch die möglichen Im-portmengen beschränkt.

Für eine „einfache“ Substitutionsstrategie von fossilen Energieträgern zu biogenen Ener-gieträgern sind damit die Ressourcen nicht vorhanden. Zusätzlich ist bei sehr knappen Ressourcen ggf. strategisch zu entscheiden, wo sie eingesetzt werden sollten (auch um ggf. ein entsprechendes Marktdesign zu gewährleisten). Hierzu werden im Szenario

„Neue Energiepolitik“ Überlegungen angestellt.

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2.6.3 Offene Fragen

Mit Bottom-up-Energiesystemmodellen lassen sich Energieverbrauch, Energieträger, Aufwand für Verwendungszwecke und auch Kosten der Energieversorgung unter ver-schiedenen Voraussetzungen über den soziodemographischen und politischen Rah-men sehr präzise ermitteln. Für Fragestellungen ausserhalb des Energiesystems sind sie nicht geeignet.

Im Zusammenhang mit Energiesystemprognosen und -szenarien wird in der politischen Debatte immer wieder gefordert, ausserhalb des Systems liegende Effekte zu quantifi-zieren. Hierzu gehören die „Externen Kosten“ mit ihren Rückwirkungen auf nationale und internationale Wohlfahrtsfragen sowie – verstärkt durch den zunehmenden Hand-lungsdruck in Fragen der Klimaveränderungen – der „Externen Nutzen“ sowie „secon-dary benefits“ politischer Eingriffe.

Die Frage der externen Kosten wird seit dem Kernkraft-Unfall von Chernobyl 1986 ver-stärkt bearbeitet. Die mittlerweile für viele Bereiche, Energietechniken und Energieträ-ger vorliegenden Vorschläge streuen allerdings aus systematischen Gründen z. T. er-heblich: Die berechneten Kosten hängen davon ab, welche Effekte mit in die Auswer-tung einbezogen werden und wo die Systemgrenze gesetzt wird. Insbesondere bei Kernenergie gibt es für die Eintrittswahrscheinlichkeiten von grossen Unfällen, die Art eines betrachteten Unfalls, die Schadenshöhe, Schadensradien und zeitliche Auswir-kungen sehr grosse Bandbreiten, wie z.B. die in [Prognos, 1992] gezeigte „Hohmeyer-Voss-Kontroverse“ zeigt. Eine objektive Festlegung auf Systemgrenzen gibt es grund-sätzlich nicht; hier ist das bestmögliche Ergebnis eine möglichst breit abgestützte Kon-vention. Mittlerweile liegen mit der ExternE- Methodik und dem Nachfolgeprojekt „ne-wExternE“ [ExternE, 2005] zunehmend akzeptierte Methodiken vor. Die Arbeit ist aller-dings noch im Fluss. Je nach Fragestellung können spezifisch veränderte Systemgren-zen sinnvoll sein. Eine aktualisierte Arbeit zu externen Kosten wird von ECOPLAN im Sommer 2012 veröffentlicht.

In die Berechnungen der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen mit dem Gleichge-wichtsmodell (Ecoplan) wurden externe Kosten, soweit plausible Bandbreiten vorlagen, einbezogen.

Die Situation bezüglich „externer Nutzen“ – insbesondere von Energieeffizienzmass-nahmen und der Nutzung erneuerbarer Energiequellen – ist einerseits mit Fragen des Strukturwandels, andererseits mit subjektiven Einschätzungen bezüglich der Lebens-qualität verbunden, hat also auch grundsätzlich qualitative Aspekte. Ein typischer (Spezial-)Fall ist die positive Entwicklung der Luftqualität in energieeffizienten Gebäu-den mit kontrollierter Lüftung.

Eine weitere Facette der Frage indirekter Kosten sind die (unbekannten) Kosten des Klimawandels und die im Umkehrschluss vermiedenen Kosten durch Klimaschutz-massnahmen und Abschwächung der Klimaerwärmung. Der Stern-Review [Stern, 2006] hat erste Anhaltspunkte gegeben, die wissenschaftlichen Arbeiten hierzu sind allerdings bei weitem nicht abgeschlossen. Auch hier ist zunächst auf der qualitativen und methodischen Ebene zu klären, welche Effekte in welcher Stärke und mit welchen Radien einbezogen werden müssen – und was die Referenz ist. In diesen Fragen sind in den vergangenen Jahren keine grossen methodischen Fortschritte zu verzeichnen.

Besser zu operationalisieren und auch zu quantifizieren sind CO2- (bzw. Treibhaus-gas-)Vermeidungskosten. Für die Stromerzeugung lassen sich diese Kosten recht

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verlässig ermitteln, bei Effizienzmassnahmen ist der Unschärfenbereich grösser. Bei der fossilen Stromerzeugung sind CO2-Kosten eingerechnet. Die unterschiedlichen Zusammensetzungen der Energiepreise in den Szenarien „Weiter wie bisher“ und

„Neue Energiepolitik“ spiegeln die unterschiedlichen globalen Voraussetzungen hierzu.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Debatte über die mögliche Entwicklung der Energiesysteme nicht umhin kommt, die mit Modellen und Szenarien ermittelten quan-titativen Grundlagen durch qualitative Aspekte zu ergänzen. Hierzu gehören vor allem

• Risikofragen und Akzeptanzfragen bei Kernenergie sowie

• Fragen der gesellschaftlichen Abstützung ambitionierter Klimaziele.

Diese Fragen müssen in Verbindung mit quantitativen Ergebnissen wie Stromgeste-hungskosten verschiedener Technologien sowie Einsparkosten diskutiert werden, um einen möglichst breit abgestützten Konsens über eine Strategie zu erreichen.

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3 Gemeinsame Rahmendaten für die