• Keine Ergebnisse gefunden

Das System der Transzendentalphilosophie

1. Die Vorreden: Kants Forderung nach systematischer Einheit

5.2. Das System der Transzendentalphilosophie

Dass die Gedanken zu den drei Ideen in die Sphäre der Transzendentalphilosophie gehören, ist offensichtlich. Schon zuvor tauchen immer wieder Formulierungen wie diese auf: „Unter dem Begriffe von Gott denkt sich die Transc. Philos. [...]“ und ein Absatz später: „Beyde [Gott und Welt;

AP] werden als ein Höchstes gedacht nach dem transsc: Idealism […]“602.

Abschließend widmet sich Kant nun ausführlich der Frage: „Was ist Transzendentalphilosophie?“.

Die Antworten auf diese Frage stellen immer den Versuch dar, das gesamte System seiner Philosophie zusammenzuführen. Hier möchte ich diejenigen Aspekte herausgreifen, die im Rahmen dieser Arbeit thematisiert wurden.

Zwei prägnante Definitionen von Transzendentalphilosophie sind gleich zu Beginn als Antwort auf die obige Frage zu finden:

„Das Princip[,] welches das G a n z e der Philosophie als in einem System bestimmt[,] ist die Transcendentalphilosophie[.]

Transsc: Phil. ist der Act des Bewustseyns[,] dadurch das Subject seiner selbst Urheber wird und dadurch auch von dem ganzen Gegenstande der technisch//practischen und moralisch//practischen Vernunft in Einem System in Gott alle Dinge als in einem System zu ordnen.“603

und:

„Transsc: Phil. ist das subjective Princip sich selbst zu einem System constituierenden Ideen von Objecten der reinen Vernunft und ihrer Autonomie nach Begriffen: ens summum summa intelligentia, summum bonum – We l t , M e n s c h e n p f l i c h t u n d G o t t [ . ]

Es ist das Princip der durchgängigen Bestimmung der Vernunft zur theoretisch//speculativen und zugleich moralisch//practischen Vernunft in der Begründung der Einheit des unbedingten Ganzen als des All (vniversum) der Dinge in ihrer synthetischen Einheit nach Begriffen a priori der Elemente derselben: Gott, die Welt und der dem Pflichtgesetz unterworfene Mensch in der Welt.“604

Transzendentalphilosophie soll das Ganze der Philosophie zu einem System zusammenführen.

Dieses Ziel hatte Kant bereits in den ersten Blättern niedergelegt.605 Hier am Ende des Spätwerks wird nun darüber hinaus betont, dass das Subjekt dabei aktiv gestaltend ist, indem es sein eigener

602 OP, AA 21:13 (beide Zitate).

603 OP, AA 21:78.

604 OP, AA 21:79f.

605 Vgl. hierzu meine Erörterung der Vorreden des Opus postumum.

184 Urheber ist606 und „alle Dinge als in einem System“607 ordnet. Dabei spielen, wie aus der vorherigen Textanalyse bereits bekannt, die Ideen die zentrale Rolle als „Princip der durchgängigen Bestimmung der Vernunft“608.

Seit der Selbstsetzungslehre hat das Subjekt bei Kant diese aktive Rolle inne. Der Mensch handelt und positioniert sich so selbst: „Der Mensch ist selbst ein Weltwesen[,] welches sich zu einem Gliede constituirt[.]“609 In diesem Zusammenhang steht auch die Nennung von Personen und ihrer Tätigkeiten: „Wie ist der M e t a p h y s i ke r vom Tr a n s s c . P h i l o s o p h e n unterschieden?

Darin[,] daß dieser blos das Formale jener aber das Materiale (das Object, den Stoff) beherzigt[.]“610

Wie zu erwarten ist, beleuchtet Kant immer wieder von neuem den Systemgedanken für das Ganze der Transzendentalphilosophie:

„Systeme können aus empirischen Erkentnisgründen (observation und Experiment)[,] nämlich der Erfahrung[,] hervorgehen: sie erfodern aber zur Basis derselben die vollständige Aufzählung der Formen[,] die nur aus der Vernunft (mit ihrer absoluten Nothwendigkeit) hervorgehen können[;]

und die Philosophie[,] die sie mit apodictischer Gewißheit darstellt[,] heißt alsdann Transsc.

Philosophie: weil sie auch die Gegenstände (G o t t , We l t und der dem Pflichtprincip unterworfene M e n s c h in der Welt) enthält[.]“611

Ein System kann es demnach nur geben, wenn die Vernunft a priori alle dazu notwendigen Formen vollständig aufgezählt hat. Weil die Philosophie, die dieses System darstellt, auch Gegenstände wie Gott, Welt und Mensch beinhaltet, heißt sie Transzendentalphilosophie.

Im Weiteren werden die drei Ideen als Kräfte beschrieben. Diese Kennzeichnung ist neu und weckt beim Leser Assoziationen mit der Kräftetheorie aus den Anfängen des Opus postumum:

„Transsc. Phil. ist ein System der Erkentnis[,] welche von allem Object abstrahirend blos das Formale der synthetischen Erkentnis a priori aus Begriffen (im Gegensatz mit der Mathematik) zum Princip sich constituirt. – Sie abstrahirt also von allem Object[,] aber ist eben darum um so weiter umfassend und was die Erkentnisformen betrift (als Philosophie) allumfassend und was den Grad anlangt a p o d i c t i s c h , nicht blos a s s e r t o r i s c h ; denn die wäre blos mit dem Z u f ä l l i g e n beschäftigt[.]

Transsc. Phil. ist aber auch das Princip eines Systems der Ideen, die an sich problematisch (nicht assertorisch) sind[,] aber doch als mögliche[,] die Vernunft afficierende Kräfte gedacht werden

606 Dieser Gedanke kann hier aufgrund meiner Auslassung der Selbstsetzungslehre nur unzureichend deutlich sein. Im Kapitel der Selbstsetzungslehre führt Kant eine theoretische sowie eine praktische derselben auf. In der theoretischen, die der praktischen vorangeht, setzt das Subjekt sich selbst. Dieser Vorgang ist durchaus mit der Setzung des Ich´s von Fichte vergleichbar.

607 OP, AA 21:78.

608 OP, AA 21:79f.

609 OP, AA 21:81.

610 OP, AA 21:78f.

611 OP, AA 21:82.

185 müssen: Gott, die Welt und der dem Pflichtgesetz unterworfene Mensch in der Welt[.]“612

D.h. die Transzendentalphilosophie hat zwei Aufgaben: Zum einen ist sie System der Erkenntnis.

Zum anderen ist sie „Princip eines Systems der Ideen“. Eben diese Ideen werden „als mögliche[,]

die Vernunft affizierende Kräfte gedacht“613.

Doch warum nun beschreibt Kant die Ideen als „Kräfte“? Hier schlage ich vor, die Parallele zu den physikalischen Kräften aus dem ersten Teil des Opus postumum („Lose Blätter“ bis

„Elementarsystem“) als Grundlage der Interpretation zu verstehen. So könnte man die Ideen als

„gedanklichen Kräfte“ verstehen. Mit diesem Terminus wird die Aktivität seitens des Subjekt impliziert, was in Kants Sinne sein müsste.

Für die Ideen gilt des Weiteren eine bereits bekannte Formel: Dieselben gilt es für die Erfahrung zu begründen: „(Die Autonomie der Ideen nicht aus der Erfahrung sondern für die Erfahrung nicht als einem Aggregat der Wahrnehmungen sondern als Princip sie als Einheit a priori zu begründen)[.]“614 Aus den „Ätherbeweisen“ ist dem Leser dieser Arbeit die Betonung, dass etwas

„für die Erfahrung“ und nicht „aus der Erfahrung“ bewiesen werden soll, bereits vertraut. Dort hatte der Äther die Funktion eines transzendentalen Ideals inne und wurde von Kant als „Faktum“

bezeichnet. Im Teilkapitel zuvor wurde deutlich, dass das wichtigste, neue Element des Ideenbegriffs dasjenige ist, dass eine Idee etwas Erfahrungskonstitutives ausmacht.

Abschließend kann man also sagen, dass die Transzendentalphilosophie, so wie sie Kant im Opus postumum versteht, eine Fortführung des Verständnisses derselben aus der kritischen Zeit ist.

Durch meine Analyse konnte ich diese Verbindung immer wieder aufzeigen und auch für diese letzten Textabschnitte ist sie zutreffend. Försters Definition von Transzendentalphilosophie kann im Rückblick demnach auf Kants Gesamtwerk angewendet werden: „Transzendentalphilosophie ist die systematische Bestimmung aller Begriffe und Prinzipien, durch die Erkenntnis a priori möglich ist.“615 Auch durch Kants Definition von Philosophie im Allgemeinen kann bestätigt werden: Hier in den letzten Abschnitten des Opus postumum ähnelt sie ebenfalls der aus der KrV:

„Philosophie ist entweder als ein habitus zu philosophiren oder als ein Werk zu betrachten[,]

wodurch ein Werk[,] das von ihr hinausgeht als System absoluter Einheit entsteht[.]“616

612 OP, AA 21:83.

613 Vgl. OP, AA 21:83.

614 OP, AA 21:92.

615 Förster: Transzendentalphilosophie. S. 2319.

616 OP, AA 21:80.

186 Mit Blick auf die Gesamtheit der vorliegenden Arbeit gilt es jedoch noch zwei Fragen zu beantworten: Welche Rolle spielt in diesem Kapitel der Äther? Und: Welche der von mir zu Beginn erarbeiteten „Lücken“ wird hier geschlossen?

Mit der Beantwortung der ersten Frage möchte ich beginnen, um so die zweite noch einmal deutlicher zu sehen. Klar ist nach der Betrachtung dieser Abschnitte zum „Ganzen der Transzendentalphilosophie“, dass der Äther hier keine explizite Rolle mehr spielt. Doch seine grundlegende Funktion bleibt weiterhin bestehen und darf im Zuge der Gesamtphilosophie nicht vernachlässigt werden. Das Ergebnis des Kapitels zum „Elementarsystem der bewegenden Kräfte“

war unter anderem, dass der Äther als Grundlage für die Körperbildung fungiert. Der Körper ist wiederum konstitutiv für die Welt, weshalb der Äther auf diese Weise auch eine (und zwar ganz ursprüngliche) Voraussetzung für die Idee Welt ist.

Die Frage, welche der „Lücken“ Kant hier schließt, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die Einführung der drei Ideen in das Opus postumum dient der Einheit der gesamten Transzendentalphilosophie Kants.

Für die Lösung der „Lücken“-Problematiken kann man auf die kürzest mögliche Weise wohl das Folgende feststellen: Während die Lücke, die mit der Objektkonstruktion zusammenhängt, bereits im Kapitel zum „Elementarsystem“ durch das Material Äther gelöst wurde, gelingt die Lösung des Problems des Objektbezugs schließlich in den Textpassagen zum „Ätherbeweis“ durch den Begriff des Äthers als Schema. Ziel ist es dort, den Raum wahrnehmbar zu machen; zwischen Sinnlichkeit und Verstand ist eine Vermittlung möglich. Die drei Ideen und ihre Zusammenführung in der Einheit der Transzendentalphilosophie ergänzen nun den „Überbau“ für beide der bereits gelösten Probleme, da sie das Ziel haben theoretische und praktische Philosophie zu vereinen.

Wie alle Ergebnisse dieser Arbeit miteinander zusammenhängen, möchte ich im Schlusskapitel darlegen.

187