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Ein regulatives und zugleich konstitutives Prinzip: der Äther

1. Die Vorreden: Kants Forderung nach systematischer Einheit

2.3. Zusammenfassung der Ergebnisse der „Losen Blätter“ und des „Oktaventwurfs“

3.1.4. Ausblick: Kluft oder Lücke? Interpretationen zum Problem des Spätwerks

3.2.3.2. Ein regulatives und zugleich konstitutives Prinzip: der Äther

In einer der folgenden Textpassagen aus dem „Übergang A/B“ werden die Grundsätze ein weiteres Mal aufgeführt. Der Kontext ihrer Nennung gibt jedoch einige Rätsel auf:

„Dieser Übergang ist nicht blos Propädeutic[,] denn das ist ein schwankender Begriff und betrift nur das Subjektive der Erkenntnis. Es ist ein nicht blos regulatives sondern auch constitutives

398 Hall: The Post-Critical Kant. p. 51.

399 Watkins, Eric: Kant and the Metaphysics of Causality. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press. 2005. p.

193.

400 Hahmann; Rollmann: Weltstoff und absolute Beharrlichkeit: S. 176ff.

401 Ebd. S. 176.

126 formales a priori bestehendes Princip der N. W. zu einem System.

Axiomen der Anschauung, Anticipationen der Wahrnehmung, Analogien der Erfahrung, Postulate des empirischen Denkens überhaupt.“402

Der Übergang sei nicht nur propädeutisch, denn schließlich müsse er objektiv sein, damit er selbst ein System sei und gelinge. Dieser Teil des Zitats ist weder überraschend noch neu. Doch der zweite Satz bedarf einer genaueren Betrachtung. Kant fordert dort, dass das Prinzip des Überganges beides ist: sowohl regulativ als auch konstitutiv. Im zweiten Abschnitt folgt die Nennung der Grundsätze des reinen Verstandes. Der Zusammenhang der beiden Absätze ist jedoch nicht offensichtlich. Warum ist Kant ein Prinzip wichtig, das sowohl regulativ als auch konstitutiv ist? Und: Wie steht es in Verbindung mit den Grundsätzen des reinen Verstandes?

Wie ich bereits angeführt habe, sind Prinzipien im Allgemeinen Grundsätze zur Aufstellung eines Systems. An dieser Stelle sind dem Leser bereits mechanische, dynamische und mathematische sowie empirische Prinzipien bekannt. Die Forderung nach einem Prinzip, das konstitutiv und regulativ zugleich ist, führt auf ein neues Terrain.

Zunächst möchte ich eine Annäherung an eine Lösung mittels grundlegender Definitionen versuchen. Birken-Bertsch fasst Kants Unterscheidung zwischen regulativen und konstitutiven Grundsätzen des reinen Verstandes so zusammen:

„konstitutive Grundsätze des Verstandes haben einen Aspekt von Erscheinungen zum Gegenstand, den wir 'a priori bestimmt geben, d. i. construiren können' (KrV A 179 / B 221), regulative dagegen berechtigen nur dazu, Erscheinungen 'nach einer Analogie mit der logischen und allgemeinen Einheit der Begriffe zusammenzusetzen' (KrV A 179 / B 224).“403

Die Grundsätze haben demnach eine verschiedene Reichweite in Bezug auf die Erkenntnis von Erscheinungen. Während es mittels konstitutiver Grundsätze für den Verstand möglich ist, die Beschaffenheit eines Gegenstandes zu beschreiben, kann der Verstand mittels regulativer Grundsätze von einer Erscheinung zur nächsten gehen und so unsere Erkenntnis erweitern.

Die Grundsätze des Verstandes werden auch selbst in regulative und konstitutive unterschieden.

Axiome der Anschauung und Antizipationen der Wahrnehmung sind konstitutive Grundsätze;

Analogien der Erfahrung und Postulate des empirischen Denkens regulative.

Hier fällt auf, dass die beiden Absätze des Zitats nicht recht zusammenzupassen scheinen, denn im ersten ist von einem Prinzip die Rede, das regulativ und konstitutiv zugleich sein soll. Man

402 OP, AA 22:240f.

403 Birken-Bertsch, Hanno: “konstitutiv/ regulativ”. In: Kant Lexikon. hrsg. von Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter. 2015. S. 1264.

127 könnte also versuchen die Passage auf zwei Weisen zu lesen: entweder a) die Grundsätze sind eine Auflistung des vorhandenen Materials oder b) sie werden darüber hinaus zu Rate gezogen, um zu überprüfen, ob sie geeignete Kandidaten für einen solchen Grundsatz liefern.

Option b) muss ausgeschlossen werden, denn es wird nach einem Grundsatz gesucht, der beide Attribute zugleich aufweist. Dies trifft auf keinen der vier zu. Dass Option a) die richtige ist, wird auch dadurch unterstützt, dass Kant von einem Prinzip spricht. Das bedeutet im Umkehrschluss auch: dieses muss ein neues Prinzip sein!

Ich stelle hier die These auf, dass dieses neue Prinzip der Äther ist. Er ist etwas Hinzukommendes, Neues, was die Grundsätze ergänzen kann. Was es bedeutet, dass der Begriff des Äthers regulativ und konstitutiv zugleich ist, wird im Kapitel zu den „Ätherbeweisen“ deutlich. Denn dort ist der Ort, an dem der Äther als Idee fungiert, die regulativ und konstitutiv zugleich ist. Hier ist er Prinzip.

Die Unterscheidung zwischen regulativ und konstitutiv gibt es bei Kant neben den Prinzipien des Verstandes (wie soeben ausgeführt) und dem Grundsatz der Vernunft auch beim Gebrauch der Vernunft selbst. In seinem Aufsatz „Regulative and Constitutive“ schildert Michael Friedman den Ort der Lücke, den er in Kants kritischen Werken sieht und die Kant im Opus postumum (laut Friedman) zu lösen versucht.

Seine Auslegung des Opus postumum ist im Großen und Ganzen sehr von Überlegungen zu den Metaphysischen Anfangsgründen, genauer von der Physik selbst, geprägt. Er verortet die Lücke zwischen der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft wie folgt:

„The constitutive operation of the first Critique and the Metaphysical Foundations proceeds, as it were, from top down: the pure concepts and principles of the understanding are applied, and further specified, so as to yield the highest genus of empirical classification and the highest level law of empirical natural science. By constrast, the regulative operation of reason and reflective judgement proceeds, as it were, from the bottom up: lowest level empirical concepts and laws are progressively unified and specified under higher level empirical concepts and laws so as to approach asymptotically an ideal complete natural science in which all empirical concepts and laws are arranged in a hierarchical system.“404

Folglich kann die Lösung des Übergangs laut Friedman nur lauten:

„The Transition project is intended precisely to establish a necessary connection between the constitutive procedure of the Metaphysical Foundations and the regulative procedure of the

404 Friedman, Michael: Regulative and Constitutive. In: The Southern Journal of Philosophy. Volume 30. Issue S1.

ed. by Hoke Robinson. 1992. p. 94.

128 faculty of judgement.“405

und weiter:

„Accordingly, the Transition project must look for something common to both procedures – common to both the a priori constitutive domain of the Metaphysical Foundations and the regulative, properly empirical, domain of 'physics as a system'“406

Diese Auslegung ist offensichtlicher Weise weit von meiner eigenen Lesart entfernt. Die von mir rezipierten Textabschnitte führen in keinster Weise zu der Feststellung einer Lücke zwischen konstitutivem und regulativem Vorgehen, die in den beiden kritischen Werken (KrV und MAN) laut Friedman vorherrschen. Dies mag schlichtweg einem unterschiedlichen Fokus bei der Lektüre geschuldet sein. Zur Erinnerung: ich gehe in meiner Lesart von zwei Lücken aus. Die erste ist innerhalb der Kräftetheorie der MAN zu lokalisieren und als Problem der Objektkonstruktion zu beschreiben, die zweite befindet sich innerhalb der KrV und wird „Problem des Objektbezugs“

genannt. Eine methodische Lücke, so wie Friedman sie durch einen Vergleich beider kritischen Werke vorschlägt, sehe ich hier insofern nicht gegeben, als dass sie (wenn sie denn bestünde) keinen Beitrag zum Verständnis der von mir aufgedeckten Probleme des Opus postumum leistet.

3.2.4. „A Elem. Syst. 1-6“

Aus den Bögen, die zum „A Elem. Syst. 1-6“ gehören (21:181-206; 22:267-276; 22:585-609), werde ich für eine genauere Lektüre den ersten und den letzten Abschnitt herausgreifen, da in beiden bestimmte, für diese Arbeit gewinnbringende, Entwicklungen der Theorie zu sehen sind.

Und zwar bei ersterem zum Thema „Körper und Organismen“ und bei letzterem zur „Entwicklung des Äthers hin zu den Ätherbeweisen“.

Bevor ich mit der Betrachtung der Organismen und der Körper aus dem Abschnitt 21:181-206 beginne, möchte ich auf eine bestimmte Passage daraus verweisen, da sie diese Betrachtungen insgesamt einleiten und ihr einen Rahmen geben können:

„Was a priori von den bewegenden Kraften der Materie zum Behuf eines Elementarsystems zu sagen ist[,] hat Vollständigkeit[.] Das empirische ist ein fragmentarisches Aggregat und gehört zur Physik. Nur die Metaphysik schafft die Form des Ganzen.“407

Das Kriterium der Vollständigkeit betont Kant an dieser Stelle erneut. Wie bereits bekannt, spielt es für die Aufstellung eines Elementarsystems eine zentrale Rolle. Dabei macht Kant erneut

405 Friedman: Regulative and Constitutive. p. 95.

406 Ebd.

407 OP, AA 21:183.

129 deutlich, dass alles Empirische immer lediglich Aggregat bleiben kann, für ein vollständiges System bedarf es der Metaphysik.408 Die Ausführungen zu Körpern und Organismen sowie zur Entwicklung des Äthers müssen diesem Kriterium also abermals gerecht werden.

3.2.4.1. Körper und Organismen: Der Äther als Grundlage für den geforderten