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Der Übergang: eigene Begriffe für eine eigene Wissenschaft

1. Die Vorreden: Kants Forderung nach systematischer Einheit

2.3. Zusammenfassung der Ergebnisse der „Losen Blätter“ und des „Oktaventwurfs“

3.1.1. Der Übergang: eigene Begriffe für eine eigene Wissenschaft

Den Anfang der Abschnitte prägen Ausführungen zu physikalischen Elementen sowie zum Status der Physik als Wissenschaft. Sie wird folgendermaßen definiert: „Physik ist die auf Erfahrung gegründete Naturwissenschaft; der Gegenstand derselben ist die Materie überhaupt so fern sie nach empirischen Gesetzen bewegende Kraft hat.“269

Es folgen Erörterungen über die bereits bekannten, der Physik eigenen, Kräfte. Hier wird zum ersten Mal der Zusammenhang von Kräften und leerem Raum eröffnet; erst im

„Elementarsystem“ selbst führt Kant dies genauer aus. Deshalb gilt hier für den Leser, dass ein erstes nachvollziehendes Lesen absolut ausreichend ist.

Kant definiert Repulsion als Flächenkraft sowie „tote Kraft“. Attraktion hingegen ist sowohl Flächenkraft als auch durchdringende Kraft und „lebendig“.270 Das Zusammenspiel der beiden Kräfte sei nötig, um die Welt zu formen. Wäre nur eine der Kräfte gegeben, würde die andere jeweils ins Unendliche gehen. Die unerwünschte Folge daraus wäre der leere Raum.

Zu dieser Konsequenz (dem leeren Raum), die Kant nun bestrebt ist unbedingt zu vermeiden, gibt es viele Ansätze und Ausführungen. Doch warum ist es nun Kants Anliegen, diese Konsequenz zu vermeiden? Aus den Betrachtungen zur Zirkelproblematik ist bereits bekannt, dass im Dynamik-Kapitel Attraktion mit Gravitation gleichgesetzt wurde. In den „Losen Blättern“ schlug Kant bereits die Kohäsionskraft vor, um dem drohenden Zirkel (von Dichte und Attraktion) zu entgehen.

Hier möchte ich einmal eine der detailliertesten und zugleich auf das Wesentliche beschränkte Formulierung zum leeren Raum aus den Abschnitten unmittelbar vor dem „Elementarsystem“

zitieren. In den später folgenden Textpassagen zum „Elementarsystem“ selbst wird der leere Raum erneut zum Thema werden; dort ist dann auch der Ort meiner ausführlichen Kommentierung. Auch für das folgende Zitat gilt, dass es lediglich einen ersten Eindruck vermitteln soll; es geht nicht darum die zitierte Passage in Gänze zu begreifen:

„Da alle Materie repulsive Kräfte haben muß[,] weil sie sonst keinen Raum erfüllen, ihr aber doch attractive Kraft zugestanden werden muß[,] weil sie sich sonst ins Unendliche des Raumes Zerstreuen würde – in welchen beiden Fällen der Raum leer sein würde[,] so lassen sich solche

269 OP, AA 21:307.

270 Vgl. OP, AA 21:308 f.

92 von Anbeginn der Welt her wechselnde Stösse und Gegenstöße und eine Zitternde (oscillierende, vibrierende) Bewegung der den ganzen Weltraum erfüllenden und alle Körper in sich […] denken […].“271

Gäbe es die jeweils andere Kraft nicht, würde sich die eine ins Unendliche verlieren. Zur Raumerfüllung sind beide Kräfte nötig.

Liest man im Text weiter, so werden nun immer wieder die unterschiedlichen Arten der Wissenschaften sowie ihre jeweiligen Inhalte thematisiert. Die Physik lässt sich von der Metaphysik durch ihren unterschiedlichen Bezug auf die bewegenden Kräfte unterscheiden.

Während die bewegenden Kräfte mittels der Physik auf empirische Weise erkannt werden können, werden sie dies von der Metaphysik auf apriorische Weise.272

Auch der Übergang von Physik und Metaphysik wird innerhalb dieser Erörterungen zu den verschiedenen Wissenschaften thematisiert. Er wird hier im Haupttext das erste Mal als eigenständige Wissenschaft definiert.273 Der Leser kann nun feststellen, dass immer wieder Abschnitte auftauchen, in denen Kant sich mit den Folgen dieser Bestimmung auseinandersetzt.

Beispielsweise müssen dem Übergang als neue Wissenschaft auch eigene Begriffe zukommen.

Hierdurch entsteht überhaupt erst die Notwendigkeit für „Mittelbegriffe“. Sie sind in erster Linie also durch ihre Eigenschaft bestimmt, dem Übergang eigene, neue Begriffe zu sein. Ihre Aufgabe definiert Kant folgendermaßen:

„So muß es also Mittelbegriffe geben[,] die blos den Übergang von der einen Naturlehre zur anderen überzuschreiten[,] d.i. zur Anwendung der Begriffe a priori auf Erfahrung überhaupt anzuwenden[,] wie denn die Principien der Moglichkeit der Erfahrung überhaupt selbst a priori gegeben sein müssen.“274

An dieser Stelle möchte ich auf die Verwandtschaft der Begriffe „Zwischenmaterie“ und

„Mittelbegriff“ hinweisen. „Zwischenmaterie“ ist dem Leser dieser Arbeit bereits aus dem vorangegangenen Kapitel zum „Oktaventwurf“ bekannt. Zur Erinnerung: Dort wurde dieselbe eingeführt, um als ein Drittes einen Übergang im physikalischen Raum zu schaffen. Auch hatte ich bereits auf Ähnlichkeiten in der Funktion der „Zwischenmaterie“ mit dem „Zwischenbegriff“

verwiesen. Meiner Lesart zufolge übernimmt die „Zwischenmaterie“ eine physikalische Vermittlungsrolle, während der „Zwischenbegriff“ eine begriffliche Vermittlungsrolle innehat.

271 OP, AA 21:310.

272 Vgl. OP, AA 21:310.

273 Vgl. OP, AA 21:310 f.

274 OP, AA 21:311.

93 Ihrem Inhalt nach haben sie die Gemeinsamkeit, dass sie etwas Drittes beschreiben.275 Sie gehören jedoch zu unterschiedlichen Bereichen: einerseits zur Physik und andererseits zum Übergang als Wissenschaft. Durch die Entwicklung der Termini im Text und dem nun möglichen Vergleich, ist eine solche Zuordnung offensichtlich.

Zwar ist dem Leser dieser Arbeit der kantische Terminus „Mittelbegriff“ bereits seit dem ersten Kapitel zu den Vorreden bekannt, nun jedoch taucht er das erste Mal im Textkorpus selbst auf und es ist möglich dessen Genese zu begreifen. In den hiesigen Abschnitten („zum Elementarsystem hin“) ist es Kants Ziel mittels eines Dritten den Übergang von Metaphysik zur Physik zu konstruieren. Hierzu benötigt er „Mittelbegriffe“, denn die Ausführungen betreffen den Bereich der Übergangswissenschaft, zu dessen Konstruktion Begriffe nötig sind.

Dementsprechend ist weiter zu konstatieren, dass es zwischen den Begriffen „Mittelbegriff“ und

„Zwischenbegriff“ keinen Unterschied in der Funktion gibt, weshalb ich sie als Synonyme auffasse.

Obwohl es nun möglich ist, Kants Intention nachzuvollziehen, bleibt für den Leser vermutlich ein grundlegendes Problem bestehen: Man könnte hier den Einwand hervorbringen, dass der Übergang erschlichen sei. Denn es könnte so erscheinen, als sei der Begriff selbst, der aus beiden zu vereinbarenden Bereichen besteht, bereits die Lösung. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn der Begriff bedarf noch einer inhaltlichen Füllung, die in den weiteren Abschnitten zu erwarten ist.

Dieser Einwand der Erschleichung des Übergangs trifft, wie bereits gesagt, ebenso auf die Definition des Äthers als „Materiales Prinzip“ zu. Auch hier bleibt eine etwaige inhaltliche Füllung noch abzuwarten.

Dem Text chronologisch weiter folgend kehrt Kant nach der Bestimmung der Aufgaben der einzelnen Wissenschaften (das gibt dem Thema den nötigen Rahmen) zur genauen Betrachtung des Begriffs „Äther“ zurück. Dort findet sich eine sehr ausführliche Reflexion über die für den Übergang geeignete Methode. Kant schließt, dass es nur den Leitfaden der Kategorien als sinnvolle Möglichkeit gibt, um die Eigenschaften des Äthers genauer zu bestimmen:

„Ich glaube in der Abfassung dieser Schrift die Vollstandigkeit eines Systems nicht besser erreichen zu können[,] als wenn ich auch hier dem Leitfaden der Kategorien folge und die b e w e g e n d e K r ä f t e der Materie nach dieser ihrer Q u a n t i t ä t , Q u a l i t ä t [ , ] R e l a t i o n und M o d a l i t ä t nach einander ins Spiel setze[;] wobei die Entgegensetzungen[,] die man sich bei jeder derselben denkt[,] nicht l o g i s c h (wie zwischen A und non A) sondern als r e a l (wie zwischen A und – A)

275 Die Analogie eines Dritten möchte ich an dieser Stelle hervorheben, weil sie auch im weiteren Verlauf der Arbeit, nämlich für die Lösung des Problems des Objektbezugs, noch einmal zum Tragen kommt.

94 gedacht werden[,] weil es im Raum wirksame Kräfte sein sollen[,] die (wie Anziehung und Abstoßung) durch entgegengesetzte Direction der Bewegung unter einander wirksam sind.“276

Das Kriterium der Vollständigkeit eines Systems steht bei der Begriffsbestimmung im Vordergrund. Mit Hilfe der Kategorien sollen die bewegenden Kräfte der Materie genauer bestimmt werden und so ein System für die Übergangswissenschaft aufgestellt werden.

Die hier auftauchende Unterscheidung zwischen „logischer“ und „realer Entgegensetzung“ führt Kant in seinen Arbeiten bereits sehr früh ein, nämlich in den Negativen Größen277. Während im Bereich der Logik eine „Entgegensetzung“ einen Widerspruch beschreibt, der sich auf kontradiktorische Urteile oder Prädikate bezieht, meint Kant mit „realer Entgegensetzung“ (oder auch „Realrepugnanz“) eine Entgegensetzung im Bereich der Realität. Diese Art der Entgegensetzung zeichnet sich dadurch aus, dass sie eben nicht widersprüchlich ist. Denn das, was in der Realität entgegengesetzt werden kann (Kant spricht hier in erster Linie von Kräften), hebt sich durch eben diese Entgegensetzung in keinster Weise auf. Vielmehr sind die Kräfte, obwohl sie in ihrer Bewegung einander entgegenstehen, zugleich in einem Körper möglich. Sind sie beispielsweise ausgeglichen, ist der Körper ruhig.278:

„Die zweite Opposition, nämlich die reale, ist diejenige: da zwei Prädicate eines Dinges entgegengesetzt sind, aber nicht durch den Satz des Widerspruchs. Es hebt hier auch eins dasjenige auf, was durch das andere gesetzt ist; allein die Folge ist Etwas (cogitabile). Bewegkraft eines Körpers nach einer Gegend und eine gleiche Bestrebung eben desselben in entgegengesetzter Richtung widersprechen einander nicht und sind als Prädicate in einem Körper zugleich möglich. Die Folge davon ist die Ruhe, welche Etwas (repraesentabile) ist. Es ist dieses gleichwohl eine wahre Entgegensetzung.“279

Im zitierten Abschnitt des Opus postumum trifft Kant die Unterscheidung zwischen „real“ und

„logisch“ im Hinblick auf die bewegenden Kräfte der Materie, also ganz in der Begriffstradition der Negativen Größen.

(Zu diesem kleinen Exkurs möchte ich kurz anmerken, dass der Körper an dieser Stelle (nämlich durch den Rückgriff auf eine vorkritische Unterscheidung) implizit auftaucht. Wie zu sehen sein wird, wird Kant nun zunehmend auf Körper Bezug nehmen. An dieser Stelle ist die Genese eines Gedankens also besonders schön zu erkennen.)

276 OP, AA 21:311

277 Vgl. AA II, Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen.

278 Später, ab der KrV, ist die Unterscheidung zwischen „real“ und „logisch“ mit der zwischen „synthetisch“ und

„analytisch“ gleichzusetzen. Vgl. Eckl, Andreas: „Entgegensetzung, logisch/ real“. In: Kant Lexikon. hrsg. von Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter. 2015.

S. 510f.

279 NG, AA 02:172.

95 Anschließend nennt Kant an dieser Stelle zum ersten Mal im Opus postumum den Begriff der Lücke.280

„Aber diese Tendenz im Übergange von der Metaph. zur Physik kann nicht unmittelbar und durch einen Sprung geschehen[,] denn die Begriffe[,] welche von dem System einer gewissen Art zu einem anderen herüber führen[,] müssen einerseits Principien a priori anderntheils aber auch emprirische bey sich führen[,] welche[,] weil sie comparative Allgemeinheit enthalten[,] auch gleich den allgemeinen zum System der Physik benutzt werden können. – Es ist also zwischen den metaphys. Anfangs. Gr. d. N. W. u. der Physik noch eine Lücke auszufüllen[,] deren Ausfüllung ein Ubergang von der einen zur anderen genannt wird.“281

In der Forschung besteht bis dato Uneinigkeit darüber, um welche Lücke es sich genau handelt.

Dazu möchte ich am Ende des Kapitels die unterschiedlichen Auffassungen einmal kurz vorstellen und mich im Zuge dessen positionieren. Hier bleibt zunächst einmal lediglich festzuhalten, in welchem Kontext Kant die Lücke thematisiert, nämlich nach den Betrachtungen im Rahmen der Physik als empirischer Wissenschaft und vor der Bestimmung des Äthers durch die Kategorien.

3.1.2. Die Bestimmung des Äthers mittels Kategorien: Erneute Versuche der