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Einleitendes: Kants Suche nach geeigneten Prinzipien

1. Die Vorreden: Kants Forderung nach systematischer Einheit

2.3. Zusammenfassung der Ergebnisse der „Losen Blätter“ und des „Oktaventwurfs“

3.1.4. Ausblick: Kluft oder Lücke? Interpretationen zum Problem des Spätwerks

3.2.1.1. Einleitendes: Kants Suche nach geeigneten Prinzipien

In diesen einleitenden Abschnitten sind immer wieder Überschriften zu finden, die anzeigen, dass die Ausführungen nun dem „Elementarsystem“ selbst zuzuordnen sind. Zuerst widmet sich Kant einer genauen Bestimmung von Materie mittels der Kategorien, um sodann festzustellen, dass diese Ausführungen eine gewisse Merkwürdigkeit besitzen. Ihm (und natürlich auch dem Leser) kommt es so vor, als seien die Zeilen eher empirischer Natur. Diese Feststellung wiederum lässt Kant zurückkehren zur Suche nach geeigneten Prinzipien für den Übergang. Im darauf folgenden Kapitel zum „Schematismus“ kann ich das Problem des Objektbezugs herausstellen.

Wie einleitend genannt, sind diese Abschnitte zuerst von Versuchen geprägt, die Materie mit der Methode der Kategorien genauer zu bestimmen. Dazu nehmen die Elementarbegriffe die Rolle der „Stufen des Übergangs“ ein:

„Man kann keinen besseren Leitfaden der Eintheilung der bewegenden Kräfte und den Gesetzen

306 OP, AA 22:135.

104 der Bewegung der Materie verlangen als die Tafel der Categorien nach der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität in Betrachtung zieht und jene Elementarbegriffe unter diese Titel ordnet; denn diese machen die Stufen des Überganges von der Metaphysik der Körperlichen Natur zur Physik aus.“307

Wie Kant schon zuvor betonte, ist ihm ein Übergang in einzelnen Schritten wichtig. Hier nennt er dies „Stufen“. Die ausführliche Bestimmung der Materie mittels der Kategorien werde ich im Folgenden einmal exemplarisch nachzeichnen, denn durch die erneute Überarbeitung des Inhalts wird dieser noch einmal deutlicher.308 Zudem finden sich hier, wie zuvor bereits gesagt, die ausführlichsten Äußerungen dazu.

Die Abschnitte beginnen mit Ausführungen zur Quantität. Sie umfassen die §§ 1-3, die aufeinander aufbauende Prämissen darstellen. Beim dritten Paragrafen handelt es sich um eine Reductio ad absurdum. In § 1 wird die These aufgestellt, dass die Quantität der Materie durch ihre Wägbarkeit bestimmt wird.309 § 2 zeigt, dass dies ein Messinstrument, d.i. eine Waage, erfordert. Damit wird der Bezug zur empirischen, wissenschaftlichen Forschung hergestellt. Um jedoch „Wägbarkeit“ überhaupt erst zu ermöglichen, wird eine innere bewegende Kraft vorausgesetzt. Diese Eigenschaft wiederum besitzt nur der Äther (Wärmestoff): „Wir kennen aber keine Materie[,] der wir eine solche Eigenschaft beyzulegen Ursache haben[,] als die Warmmaterie.“310 In § 3 folgt schließlich die Reductio: Unwägbare Materie kann schlicht nicht gedacht werden, denn sie würde keine Quantität besitzen.311 Also muss Materie wägbar sein.

Interessanter Weise bestimmt Kant hier ausdrücklich die Materie, nicht den Äther. Wie im Weiteren noch zu sehen sein wird, definiert Kant den Äther mit Hilfe derselben Methode. Die Eigenschaften des Äthers sind dann die Negation der Eigenschaften der Materie.

Daran schließt Kant die unmittelbare Frage an, „[o]b Wärme ein hypothetischer Stoff sei“312. Doch dadurch, dass der Text direkt danach abreißt, kann man davon ausgehen, dass er zu diesem Zeitpunkt der Arbeit diese Frage noch unbeantwortet lassen musste. Sie wird jedoch später in den Textabschnitten zum „Elementarsystem“ noch zwei weitere Male aufgegriffen.

In den Paragrafen 4 und 5 findet die genauere Bestimmung der Materie der Qualität nach

307 OP, AA 22:135.

308 Anm.: Die Ausführungen entsprechen der Chronologie des Textes: Die Ausführungen zur Modalität befinden zwar erst am Ende dieser Passagen. Da sie jedoch noch nicht sehr deutlich sind und zudem einen sehr geringen Umfang ausweisen, lohnt eine genaue Betrachtung nicht.

309 Vgl. OP, AA 22:135.

310 OP, AA 22:138.

311 Vgl. OP, AA 22:139.

312 OP, AA 22:140.

105 statt. Kant unterscheidet in § 4 die empirische Materie von der Wärmematerie durch Negation der Eigenschaften der ersteren. Dieses Vorgehen ist bereits aus den bisher betrachteten Versuchen aus dem Kapitel „zum Elementarsystem hin“ bekannt. Empirische Materie im Allgemeinen wird durch Wärme fest oder flüssig. Der Wärmestoff selbst hat keine dieser Qualitäten, sondern wird (der Entwicklungslinie dieser Bestimmung weiter folgend) nun als

„unwägbar“ und „unsperrbar“ bestimmt. „Unsperrbar“ bedeutet bei Kant, dass die Materie

„durch keine andere Materie auf ein bestimmtes Volumen begrenzbar“313 ist. Der Wärmestoff ist damit für den Übergang von flüssig zu fest verantwortlich, weil er innere bewegende Kräfte besitzt.314

An die beiden Paragrafen anschließend folgt eine Passage, in der die bewegenden Kräfte auf eine weitere Weise bestimmt werden, und zwar als empirische sowie apriorische Prinzipien:

„Die bewegende Krafte der Materie sind zweyerley. 1. die so aus ihrer Bewegung entspringen philosophiae naturalis princ: mathematica 2. die[,] aus welchen die Bewegung entspringt[,]

principia physic.[;] wovon die erstere a priori die letzte aus empirischen Erkenntnis Gründen abgeleitet sind.“315

M.a.W.: Die bewegenden Kräfte der Materie haben zwei Arten von Prinzipien: mathematische, die zugleich a priori sind, und physikalische, die empirisch sind. Dabei mag es zunächst verwundern, dass Kant von mathematischen Prinzipien spricht und nicht (mehr) von dynamischen. Mathematische Prinzipien hatte er zur Aufstellung eines Systems in der KrV verwendet. Kant unterscheidet philosophische von mathematischer Erkenntnis wie folgt:

„Die p h i l o s o p h i s c h e Erkenntnis ist die V e r n u n f t e r k e n n t n i s aus B e g r i f f e n, die mathematische aus der K o n s t r u k t i o n der Begriffe. Einen Begriff aber konstruieren, heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen.“316

Förster stellt hier einen neuen Fokus der kantischen Arbeit fest. Dies sei dem Fakt geschuldet, dass andere Optionen (dynamische Prinzipien) nicht fruchtbar waren. So wende sich Kant erneut den Methoden aus der KrV zu, um sie nun hier in diesem Rahmen zu erproben und womöglich damit zu einer Lösung zu gelangen.317 Diese Einschätzung teile ich, da sie die neuen

313 Hahmann, Andree; Rollmann, Veit-Justus: Weltstoff und absolute Beharrlichkeit: Die erste Analogie der Erfahrung und der Entwurf Übergang 1-14 des Opus postumum. In: Kant-Studien. Bd. 102. Heft 2. hrsg. von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme. Berlin: Walter de Gruyter. 2011. S. 185.

314 Vgl. OP, AA 22:141.

315 OP, AA 22:143.

316 KrV A 713/ B 741.

317 Dieser Zusammenhang ist Ergebnis der Diskussion zwischen Eckart Förster und mir in seinem Seminar zum Opus postumum am 04.10.2016 in Baltimore.

106 Entwicklungen im Text nachvollziehbar macht. Denn hier rückt die Aufgabe der Aufstellung eines Systems nun Zusehens in den Vordergrund.

In den Paragrafen 6 bis 9 folgen die Ausführungen zur Bestimmung mittels der Kategorie der Relation. Die Relation ist der Zusammenhang/ die Kohäsion der Materie (§ 6).318 Dieser Zusammenhang ist die Flächenkraft (§ 7).319 Das Mittel des der Materie zugrundeliegenden Wärmestoffs hierzu ist die lebendige Kraft (§ 8).320 Aus diesen Prämissen schließt Kant dann: Der Zusammenhang wird durch Wärme geschaffen (§ 9).321

Einerseits ist es erfreulich, dass man als Leser nun ein übersichtliches Argument dargelegt sieht, andererseits jedoch wirkt es seinem Inhalt nach befremdlich. War es doch Kants Ziel, vom Bereich a priori zum empirischen hinüberzuschreiten. Hier jedoch hat man den Eindruck, sich inmitten empirischer Ausführungen zu befinden.

Dass dies befremdlich wirkt, ist Kant bewusst. In einer kritischen Anmerkung beschreibt er die Merkwürdigkeit so:

„Es scheint gar sehr, daß in diesem Abschnitt über die Grenze der Begriffe a priori von den bewegenden Kräften der Materie[,] welche für sich ein System ausmachen sollen[,] weit weggeschritten und in die Physik als empirischer Wissenschaft (z.B. in die Chemie) abgeschweift worden; allein man wird wohl bemerken daß“322.

Dann reißt der Text ab. Dies kann man nun u.a. auf zwei Weisen deuten: Entweder das Problem (nämlich, dass solche Ausführungen nicht mehr im apriorischen Bereich zu verorten sind) ist ein generelles Problem der Übergangswissenschaft oder aber der Versuch Kants, die Materie mittels der Kategorien genauer zu bestimmen, ist gescheitert. Im Folgenden werde ich der ersten Interpretation folgen, um die Möglichkeit eines Gelingens weiterhin im Blick zu haben. Sollte es ein der Übergangswissenschaft inhärentes, unausweichliches Problem sein, wird vermutlich an anderer Stelle eine Lösung angeboten werden. Dies legt zumindest das Abbrechen des Textes nach der Formulierung „allein man wird wohl bemerken daß“ nahe.

In der kritischen Anmerkung kann man weiter lesen: „Aber diese Tendenz der Metaphysik zur Physik muß empirische Prinzipien enthalten[,] denn die bewegende Krafte wollen ihrem Dasein nach erfahren seyn.“323 Kants Stoßrichtung für einen Lösungsversuch dieser Befremdlichkeit ist

318 Vgl. OP, AA 22:146.

319 Vgl. OP, AA 22:146.

320 Vgl. OP, AA 22:147.

321 Vgl. OP, AA 22:148.

322 OP, AA 22:149.

323 OP, AA 22:149.

107 also vermutlich der, empirische Prinzipien aufzustellen, um die Dimension der bewegenden Kräfte in der Erfahrung theoretisch mit einzuholen. Doch was genau ist unter „empirischen Prinzipien“ zu verstehen? Kant verwendet den Begriff „Prinzip“ häufig sowohl in einem allgemeinen Sinn als „Grundsatz“ wie auch mit spezielleren Bedeutungen.324 So gibt es in der KrV bereits die hier im Zuge des Opus postumum nun schrittweise wiederkehrenden empirischen, subjektiven, objektiven, regulativen und konstitutiven Prinzipien.325 Die an dieser Stelle von Kant geforderten empirischen Prinzipien (so meine Lesart) sollen dem Impetus gerecht werden, dass die empirische Dimension mit in die Übergangswissenschaft integriert wird. An späterer Stelle wird Kant die Idee verwerfen, empirische Prinzipien für die Übergangswissenschaft aufzustellen.

Bereits im soeben angeführten Auszug ist mit dem Abreißen des Textes Kants Unsicherheit zu sehen, ob dies ein vielversprechender Weg sei.

Auch in der darauf folgenden Passage, die mit „Einleitung“ überschrieben ist, bleibt das Problem der Suche nach geeigneten Prinzipien präsent. Kant macht noch einmal deutlich, dass es für ein System ebenfalls Prinzipien a priori geben muss. Dies gehört zu den formalen Bedingungen eines Systems und ist für die praktische Umsetzung, also die Naturforschung, vonnöten: „[...] denn ohne die formale[n] Bedingungen eines Systems[,] welche gleichfalls nur auf Principien a priori gegründet werden können[,] wüßte man nicht nach welchen Prinzipien die N a t u r fo rs c h u n g anzustellen sey [...]“326. Erwartungsgemäß kann man in diesem Abschnitt auch Schilderungen zum Vorhaben Kants finden. Ziel sei es im Materiebegriff fortzuschreiten.327 Dabei grenzt er diese Arbeit auch von den Inhalten der MAN ab, denn hier im Opus postumum handle die Theorie von dem Thema der Materie als Bewegliches mit bewegenden Kräften:

„In den met. A. Gr. war Materie das Bewegliche im Raume: der Fortschritt that einen neuen Begriff zum Behuf der Physik hinzu und Materie ist nun das Bewegliche im Raum so fern es bewegende Kraft hat[,] welches letztere einen Gegenstand empirischer Erkentnis enthält[,] der doch nach Principien a priori mit den Erfahrungen in Verbindung steht.“328

Dementsprechend werden die bewegenden Kräfte auch in die Formulierung der Definition des Übergangs integriert. Dort heißt es: „Übergang ist die systematische Vorstellung aller

324 Vgl. Messina, James: Prinzip. übers. von Sebastian Boll. In: Kant Lexikon. hrsg. von Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter. 2015. S. 1844.

325 Die letzten beiden der Aufzählung werden in einem der folgenden Unterkapitel wieder aufgegriffen und diskutiert.

326 OP, AA 22:149.

327 Vgl. OP, AA 22:149.

328 OP, AA 22:150.

108 bewegenden Krafte der Materie[,] die vor der Bewegung vorhergehen und a priori als Elementarbegriffe für die Physik in der Erfahrung aufgefunden werden müssen.“329 Damit wird der Zusammenhang zwischen Apriorität und Empirie genauer benannt. Die bewegenden Kräfte sind Elementarbegriffe. In dieser Funktion gehen sie der Bewegung selbst und also auch der Physik im empirischen Bereich voraus und bilden deren Grundlage, denn sie werden „für die Physik“ aufgestellt. (Wie zu sehen war, haben diese Kräfte ihren Ursprung im Äther, denn er geht ebenfalls der Bewegung voraus.)

Kant verfestigt diesen Zusammenhang in der darauf folgenden Überschrift: „Eintheilung des Systems der bewegenden Kräfte der Materie. Erster Theil: das Elementarsystem der bew. Kr. d.

Materie. Zweiter Theil: das Weltsystem“330. Ab dieser Stelle im Text wird also deutlich: Kants dortige Ausführungen sind dem zuzurechnen, was er als „Elementarsystem“ beschreibt. So ist klar, dass das Elementarsystem dasjenige ist, das die Elementarbegriffe beinhaltet. Das Weltsystem, ebenso dem System der bewegenden Kräfte der Materie angehörig, wird erst an späterer Stelle genauer definiert. Auf eine ausführliche Beschreibung möchte ich deshalb an der dortigen Stelle eingehen. Ab hier ist bereits eine Zuordnung gegeben.

Es folgt eine „Anmerkung“, in der einerseits auf die Elementarbegriffe und andererseits auf die bewegenden Kräfte der Materie genauer eingegangen wird:

„1.) Die Elementarbegriffe[,] so fern sie a priori auf ein System führen sollen[,] können kein anderes als das der Categorien zum Schema aufstellen[,] weil jede andere Classeneintheilung, als welche empirisch sein würde[,] des Bewußtseins der Vollständigkeit entbehrt.

2.) Die bewegende Kräfte der Materie in ihrer Entgegensetzung werden einander nicht blos als logisch (wie A und non A) sondern auch als real (wie + A und – A) einander entgegengesetzt betrachtet; weil es hier nicht um Begriffe des Subjects[,] die einander aufheben[,] sondern um Wirkungen des Objects (der Materie)[,] die beyde zugleich sein können[,] zu thun ist.“331

Die Ausführung unter 2) ähnelt sehr derjenigen aus dem Abschnitt „Zum Elementarsystem hin“.

Sie unterscheidet sich jedoch durch die Hinzufügung des Wortes „blos“, was zu einer Bedeutungsverschiebung führt. Nun wird behauptet, dass die bewegenden Kräfte „nicht blos logisch […] sondern auch real“ entgegengesetzt werden, wohingegen es zuvor die Entgegensetzung „nicht logisch […] sondern […] real“332 gab. Dass sie nun beides zugleich sein müssen, liegt (diesen Ausführungen nach zu urteilen) an der Wirkung des Objekts, genauer: an

329 OP, AA 22:152.

330 OP, AA 22:155.

331 OP, AA 22:155.

332 OP, AA 21:311.

109 der Materie selbst.333 Kant strebt vermutlich eine logische und eine reale Entgegensetzung der bewegenden Kräfte der Materie an, weil sie nur so zu beiden Bereichen gehören können und schließlich einen Teil der Übergangswissenschaft darstellen.

3.2.1.2. Schematismus: Die zweite Lücke wird aufgezeigt. Zum Problem des