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Insgesamt war das Forschungsinteresse am Opus postumum bisher immer eher gering und so bleibt es zu hoffen, dass sich dies spätestens mit der neuen Akademie-Ausgabe ändern wird.617 Wie ich mit der vorliegenden Arbeit u.a. zeigen konnte, sind nämlich die Verknüpfungen zwischen den kantischen Werken sowie seine neuen Lösungsansätze im Opus postumum selbst besonders interessant, will man die Systemphilosophie von Immanuel Kant als Ganzes verstehen. So ist schon mit dieser Einsicht zu bestätigen, dass das Spätwerk tatsächlich den Schlussstein für seine Systemphilosophie darstellt.

Für dieses Schlusskapitel möchte ich so vorgehen, dass ich zuerst auf die Einleitung zu sprechen komme, dann knapp noch einmal meine Gesamtinterpretation der Forschungsfrage darlege, um diese schließlich mittels der beiden ersten angehängten Übersichten noch einmal im Detail zu betrachten.

In der Einleitung hatte ich die gemeinsame Position vieler Forscher zum Äther referiert, nämlich dass er eine Vermittlungsfunktion wahrnimmt. Durch meine Arbeit konnte ich nun die These aufstellen und verteidigen, dass dem Äther sogar zwei Funktionen für unterschiedliche Vermittlungen zukommen. Um dem Leser dieser Arbeit schon früh den Blick für diese Lesart zu öffnen, legte ich in der Einleitung bereits zwei gängige Vorurteile dar. Fraglich war, inwiefern der Äther zugleich „materielles Prinzip“ und „Wärmestoff“ sein kann.

Die Leistung dieser Arbeit besteht in dem genetischen (und sehr kleinschrittigen) Nachweis eines Äthers mit zwei unterschiedlichen Funktionen, die beide gleichzeitig benötigt werden, um zwei unterschiedliche Lücken zu schließen. Zugegebener Maßen war die dafür gewählte Methode, das hermeneutische Vorgehen, nicht immer sehr leserfreundlich. Durch Vor- und Rückverweise habe ich versucht diesem Problem entgegen zu wirken. Ziel der hermeneutischen Methode war es, auch einem ungeübten Kant-Rezipienten durch den ständigen Fokus auf den Text selbst, eine erste, erschließende Lektüre bieten zu können.

Da sich meine Ergebnisse ständig erweiterten, sind im Text bereits einige Zusammenfassungen zu finden. Nun möchte ich einen kurzen Gesamtüberblick geben, bevor ich zu einer detaillierten

617 Bei vielen Kantforschern ist bereits ein wachsendes Interesse am Opus postumum zu beobachten. So wurde nach Jahrzehnten des Stillstands 2019 erstmalig wieder eine Internationale Konferenz allein zum Spätwerk veranstaltet. („The Unfinished System – Kant‘s Opus postumum“ 15.-16.02.2019).

188 Betrachtung komme:

Die beiden Vorurteile (der Äther als „materiales Prinzip“ und als „Wärmestoff“) hatten einerseits eine eröffnende Funktion für meine Lesart, andererseits konnten sie auch bereits eine erste Stoßrichtung aufzeigen. So ist der Äther als Wärmestoff in dem von mir so benannten „Problem der Objektkonstruktion“ weiterzudenken, während der Äther als materiales Prinzip in das

„Problem des Objektbezugs“ mündet. Diese beiden Probleme beziehen sich auf zwei Sachverhalte in den kritischen Werken, die ich als „Lücken“ bezeichnet habe.

Das Problem der Objektkonstruktion hat sich wie folgt offenbart: Der von Beck festgestellte Zirkel in Kants Kräftetheorie aus den MAN führte Kant im Opus postumum dazu, mit den Kräften der Attraktion und Repulsion erneut zu experimentieren. Die dann im Weiteren hinzukommende Kohäsion stellt Kants Lösungsversuch des Zirkels dar. Es folgen Versuche Kants zur Raumerfüllung mittels des Äthers. Hier offenbarte sich das Problem der Objektkonstruktion, denn ein Raum kann nur mit Hilfe einer Materie und nicht allein durch Kräfte erfüllt sein. Um dieses Problem lösen zu können, hat der Äther die Funktion der Wärmematerie als allem zugrundeliegende Materie inne.

Um hingegen die zweite Lücke zu füllen, ist der Äther als Schema nötig. Denn es stellte sich in meiner Analyse heraus, dass Kant von einem Vermittlungsproblem zwischen Sinnlichkeit und Verstand (aus der Kritik der reinen Vernunft) ausgehen muss, um in dieser Richtung zu forschen.

Dieses Problem benannte ich mit dem Terminus „Objektbezug“, weil ohne eine gelingende Vermittlung der beiden Vermögen es für den Menschen nicht möglich ist, sich auf äußere Gegenstände zu beziehen. Der Äther ist dabei die Grundlage für den eigenen Körper. Dieser erhält im Erkenntnisprozess eine schematisierende Funktion.

Die im Folgenden angehängten Materialien sind tabellarische Übersichten, die im Zuge meiner Arbeit entstanden. Besonders ist ihnen der genaue Blick auf den Text.

In der ersten Übersicht zu den Ätherbegriffen findet der Leser alle wichtigen Begriffe, die in den unterschiedlichen Abschnitten vorkommen. Betrachtet man diese Tabelle überblicksartig, so fällt auf, dass zwar in den ersten Teilen die physikalischen Beschreibungen des Äthers überwiegen, sie sich jedoch durch das gesamte Werk ziehen. Obwohl die zweite Art von Beschreibungen (ich möchte sie „begriffliche“ nennen) auch im gesamten Spätwerk zu finden sind, häufen sie sich doch zum Ende hin und sind am Anfang wenig vertreten. So kann man durch diese Betrachtung feststellen, dass Kant sich zeitgleich den beiden Problemen aus seinen kritischen Werken widmete, auch wenn mal das eine und mal das andere überwiegt. Eine besondere Pointe besteht

189 natürlich darin, dass beide mittels des Äthers gelöst werden können, wenn auch mittels zwei verschiedener Funktionen von eben diesem.

Die unterschiedlichen Funktionen des Äthers mitsamt ihres zugehörigen (Anwendungs)bereichs habe ich in einer zweiten Tabelle dargestellt. Ebenfalls nach Kapiteln dieser Arbeit aufgeteilt, erkennt man dort vor allem die Unterschiede.

Während in den Vorreden der Äther als Elementarbegriff aufzufassen ist und sein Bereich das System insgesamt darstellt, weil er für die Einheit der Wissenschaften zuständig ist, ist in der zweiten Spalte bereits ersichtlich, dass dort beide Probleme erstmals in Erscheinung treten.

In den Textpassagen zu den „Losen Blättern“ und zum „Oktaventwurf“ ist der Äther mit Blick auf die Objektkonstruktion als Zwischenmaterie bestimmt. Seine Funktion ist die der Weltmaterie, die er fortan beibehalten wird. Sie ist grundlegend bestimmt als „Basis der bewegenden Kräfte“.

Im ersten Teil des folgenden Kapitels, also „zum Elementarsystem hin“ sind die letzten Ausführungen zur Objektkonstruktion zu finden, während im zweiten Teil („Das Elementarsystem der bewegenden Kräfte“) das Problem des Objektbezugs zum Thema wird. Die Lösung für das Problem der Objektkonstruktion ist der Äther als Wärmematerie oder Weltstoff. Im zweiten Teil widmet sich Kant nun hauptsächlich Versuchen, eine Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand herzustellen. Zu diesem Zweck nimmt der Äther hier die Funktion des Schemas an. Der begriffliche Status wird genauer untersucht und der Äther als Zwischenbegriff beschrieben. Die Bestimmung, die für die weiteren Textabschnitte bleibt, ist die des Äthers als Schema.

Kants Ziel in den „Ätherbeweisen“ ist es dann, einen apriorischen Existenzbeweis für den Äther darzulegen. Bei diesen Betrachtungen fiel auf, dass nun beide Funktionen des Äthers zum Tragen kommen. Für die Einheit der Erkenntnis sowie die Einheit der Wissenschaften ist der Äther als Raumerfüllendes und Weltmaterie für die Objektkonstruktion und der Äther als Schema (Faktum, Prinzip) für den Objektbezug zuständig.

Im letzten Kapitel zum „Ganzen der Transzendentalphilosophie“ findet man den

„Überbau“ für diese von mir herausgearbeitete Lesart des Äthers. Der Äther selbst fungiert als Grundlage für zwei der drei Ideen. Zum einen ist er als Weltmaterie Basis der Idee Welt, zum anderen ist er als Weltmaterie und Schema Basis für die Idee Mensch. Kants Ziel ist es, mit dem System der drei Ideen die Einheit seiner Transzendentalphilosophie darzustellen.

Wenn man annimmt, dass dies gelingt, wird auch deutlich: Trotz des „tantalischen Schmerzes“ ist es Kant wohl noch im hohen Alter gelungen, die Stränge seiner Arbeit

190 zusammenzuführen und den „Schlussstein“ für die Einheit der Transzendentalphilosophie zu formulieren.

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