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IV. Die verkehrte Welt des französischen Geistes: Diderots Rameaus Neffe in der

2. Die moderne Welt und ihre Bildung – erstes und zweites Zitat aus Rameaus Neffe in

2.6. Die Sprache und der Tod

Wie wir in den vorherigen Abschnitten gesehen haben, ist die Art des Umgangs mit dem Tod ein Indiz für die Geistigkeit, zu der sich das Bewusstsein herangebildet hat. Das geistige Bewusstsein verfügt über eine andere Todesauffassung als das natürliche Bewusstsein. Hegel lehnt in der Phänomenologie eine „bloße“ Bereitschaft zum Tode als Symptom eines natürlichen, noch ungeistigen Todesverständnisses, das sich zu sehr vom Tod distanziert, ab.

Der Tod wird hier fälschlicherweise als bloßes äußerliches Objekt gewertet. Ein geistiges Bewusstsein soll stattdessen lernen, sich noch im Tode zu erhalten. Das heißt für Hegel auch, dass das Bewusstsein nur dann bildungsfähig ist, wenn es über ein Todesbewusstsein verfügt.

Die Todesauffassung des Bewusstseins ist demnach einer der wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Geistigkeit und demnach auch zur Deutung des Geist-Kapitels. Seine Überlegung zu Todesarten des Bewusstseins entwickelt Hegel nun auf der Ebene der Bildung

317 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 451.

318 Dieser Moment der Aufrichtigkeit wird in seiner Interpretation von den Diderot-Zitaten in der Phänomenologie des Geistes von H. R. Jauss hervorgehoben. “Sincerity, which as far as Moi is concerned, and which surprises him when he finds it in Lui, becomes a negative category in the Phenomenology. There, frankness is a sign of disrupted consciousness; it also enables that consciousness to grasp the perversion of the real world in terms of its own contradictory nature.” Hans Robert Jauss, Question and Answer: Forms of Dialogic Understanding, M. Hays (ed.), Minneapolis: University of Minnesota Press, 1989, 142.

weiter: Die wahre Aufopferung besteht nicht in der Hingabe an den Tod, sondern in einer Entäußerung an den Tod, durch die sich das Bewusstsein zurückerhält.319 Erst im Rahmen dieser doppelten Bewegung steigt das Bewusstsein zur Geistigkeit auf: Es entfremdet sich zum Äußersten, kehrt jedoch aus dieser äußersten Entfremdung wieder zu sich zurück.

Das Medium, das die Bedingung für solche Vergeistigung bereitstellt, ist die Sprache, die sich des Bewusstseins bemächtigt und es zur Entsagung seiner ungeistigen Einzelheit auffordert, um dem Bewusstsein im gleichen Moment eine allgemeine Einzelheit zurückzuerstatten.

Bezeichnend ist, dass Hegel die Sprache zuerst im Kontext des Befehls betrachtet. Der Leser kann hier wiederum erfahren, dass sich das Bewusstsein im „Sog“ des Geistes befindet, der selbst an dessen Vergeistigung arbeitet. Nun wird das Bewusstsein durch die Sprache aufgefordert, sich selbst als Einzelnes und Allgemeines zugleich zu denken. Es ist die Sprache, die ausführt, was auszuführen ist.320 Die Sprache ist – genauso wenig wie die Handlung, die im zweiten Abschnitt im Kontext der Antigone behandelt wurde – keine Vergegenständlichung innerer Vorstellungen, sondern ist das, was Vorstellungen und Begriffe des Bewusstseins hervor- und somit auch zur Geistigkeit aufruft.

Die Sprache ermöglicht es, das Fürsichsein in derjenigen Gestalt auszusprechen, als die es für andere erscheint: Das erste Pronomen vertilgt das besondere Ich und erhält es in der Form des allgemeinen Ichs.321 Das ausgesprochene Ich ist zugleich vernommenes Ich, es ist eins mit dem allgemeinen Selbstbewusstsein.322 Damit öffnet sich das Bewusstsein nicht nur seiner eigenen Geistigkeit, sondern auch der Gemeinschaft der anderen Bewusstseinsgestalten, für die das allgemein gewordene Fürsichsein nun ansprechbar ist.

Die Begeistigung des Fürsichseins wirkt zurück auf die Staatsmacht. Die zunächst leere Allgemeinheit der Staatsmacht unterzieht sich – wiederum in der Sprache – dem entgegengesetzten Prozess der Vereinzelung. Eine in der Sprache ausgedrückte Allgemeinheit wird wiederum für das Fürsichsein vernehmbar; der Hiatus der Extreme des Fürsischseins und des Ansichseins schließt sich in der Sprache. Beide Aspekte des Geistes stehen sich nun näher: Die Sprache ist ihre „Mitte“.323

Der Sprechende wird jetzt zum Akteur. Anstelle des stummen Dienstes tritt der Befehl oder die Schmeichelei in den Vordergrund. Zunächst ist es das edelmütige Bewusstsein, das die Initiative ergreift und sich der Sprache im „Heroismus der Schmeichelei“324 bemächtigt. Die Sprache, die zum ersten Mal in der Phänomenologie in den Vordergrund tritt, wird als Werkzeug der Macht dargestellt. Tatsächlich erhebt die Macht der Sprache den Staatsapparat zu einer geläuteteren Allgemeinheit und den Monarchen – die Verkörperung der Allgemeinheit – zu ihrer Spitze. In der Sprache wird die Differenz zu anderen einzelnen

319 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 452.

320 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 452.

321 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 453.

322 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 453‒454.

323 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 456.

324 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 456.

Gestalten gemacht: Der Monarch wird ausgesprochen und damit erst zum Monarchen so erhoben, dass dies für alle gilt.325

Durch den Namen wird die Staatsmacht persönlich. Gleichzeitig wird die einzelne Person von allen anderen abgesondert. Dadurch kommt dem Monarchen jedoch jene Einsamkeit zu, die auch der Weltherr des Römischen Reiches erfahren musste. Diese Einsamkeit geht dabei mit einer eigentümlichen Wirkungslosigkeit einher: Während der Herr der Welt den geistigen Strömungen und Umwälzungen wehrlos ausgeliefert war – dem Bewusstsein war die äußerliche Wirklichkeit fremd und feindlich –, macht auch der Monarch die Erfahrung einer verselbständigten Wirklichkeit, die ihm nicht „gehorcht“.

Auch die Feindlichkeit der äußeren Wirklichkeit tritt auf dieser Ebene in der Form der Sprache hervor. Der Monarch oder der Herr mag zwar Befehle verkünden, die auch ausgeführt werden, der wahre Sitz der Macht befindet sich jedoch in der Sprache, der sich der Monarch nie vollständig zu bemächtigen vermag. Er weiß, dass es die „schmeichelnden Zierraten“ sind, die ihm durch ihr Gerede – durch die „Sprache ihres Preißes“ –326 seine Position sichern: Sie sind es, die dem Monarchen sagen, was er ist.327

Es zeigt sich, dass es ebendiese „Sprache des Preißes“ ist, die die Extreme des einzelnen Fürsichseins und der reinen Allgemeinheit zusammenschließt. Durch die Sprache der Schmeichelei steigt der Knecht – zumindest zum Teil – zum Herrn auf, gleichzeitig wirkt die Macht des Monarchen, dieses Geschöpf des knechtischen Geredes, auf den Untertan zurück.

Sein Fürsichsein, seine einzelne Individualität, ist eben vom Erfolg dieses Preisens abhängig.

Wird sein Gerede nicht geschätzt, wird das schmeichelnde Bewusstsein um seine Ehre und Position gebracht.

Sprache ist demnach Macht. Sie ist Medium der Bemächtigung; sie vermag jedoch auch den Untergang „der eigensten Wirklichkeit“328 zu verursachen. Durch die Sprache hat das Bewusstsein die Fähigkeit, den Herrn zum Herrn zu machen. Durch ebendiesen Schritt entmächtigt sich aber das Bewusstsein, das nun von der Willkür des Herrn abhängig ist. Die Schöpfung der Sprache bemächtigt und entmächtigt das Bewusstsein zugleich. Es scheint absolute Macht über den Monarchen ausüben zu können – es sagt ihm, was es ist –, gleichzeitig wird die Schöpfung Herr über seine nackte Existenz oder seine „eigenste Wirklichkeit“.

In das innerste Wesen beider Bewusstseinsgestalten ist durch die Sprache eine fremde Kraft vorgestoßen. Das eine Bewusstsein weiß ohne das andere nicht, was es ist; und das andere erfährt, dass es nun ständig neue Preisreden formulieren muss, damit seine Existenz – sein Fürsichsein – weiterhin gesichert ist. Dabei verfügen weder Monarch noch Untertan über eine physische Macht. Ihre Machtstellung beruht auf der Fähigkeit, den anderen von sich selber zu

325 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 457: „[D]enn es ist allein der Nahme, worin der Unterschied des Einzelnen von allen andern nicht gemeynt ist, sondern von allen wirklich gemacht wird; in dem Nahmen gilt der Einzelne als rein Einzelner nicht mehr nur in seinem Bewußtseyn, sondern im Bewußtseyn aller.“

326 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 457.

327 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 458.

328 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 462.

entfremden. Damit sind beide Bewusstseinsgestalten um jegliche Identität außer derjenigen, die in der hinterlistigen Sprache formuliert wird, gebracht.

Die Situation, in der das Bewusstsein von einem anderen begleitet werden musste, weil dieses sonst seine Identität einbüßen würde, wurde im Rahmen von Hegels Antigone-Interpretation mit dem Tod identifiziert. In neuer Gestalt betrachten wir nun ebendiese Entwicklung, im Rahmen derer das Bewusstsein sein Wesen am anderen hat, das ausspricht, was es ist. Diese restlose Übergabe seiner selbst an eine andere Bewusstseinsgestalt ist ebendie Todesart, die Hegel mit dem Zeitalter der Bildung assoziiert: Ein jedes ist außer sich, versucht sich jedoch nicht im Anderen zu finden, sondern will sich selbst auf oft hinterlistigen Wegen zurückgewinnen.

Der allgemeine Geist erweist sich an dieser Stelle als geistiger und gebildeter als das einzelne Bewusstsein, das – frustriert über seinen Selbstverlust – sich selbst zurückfordert. Das Bewusstsein erlangt weder Selbstgewinn noch Verlust der Identität und damit Bewusstlosigkeit im Tode. Schrittweise wird es gezwungen, eine Zwischenform der Allgemeinheit und Einzelheit zu denken: Es soll lernen, sich in der Gestalt der Allgemeinheit in der Sprache aufzugeben und gleichzeitig sich in der eigenen, einzelnen Wirksamkeit und damit Wirklichkeit in der Sprache zu erfahren.

2.7. „Die reine Elastizität des Geistes“ und die Herrschaft des reinen Ichs

Zunächst ist sich das Bewusstsein jedoch nur der Preisgabe seiner Existenz an die Zufälligkeit und Willkürlichkeit des fremden Bewusstseins bewusst. Damit ist auch der „Geist seines Dankes“329 bereits mit Verachtung vermischt. Der Umstand, dass sich der Untertan um sein innigstes Sein beim Staatsapparat oder Herrscher bewerben muss (und umgekehrt der Herrscher beim Untertan), erfüllt das Bewusstsein mit Empörung. Beide sind demnach gezwungen, „zur höchsten Ungleichheit mit sich selbst zu werden“330. Die jeweiligen Bewusstseinsgestalten erfahren nun an sich selber die „absolute Zersetzung“331 der Substanz.

Nichts weist eine Beständigkeit der Substanz auf, alles ist individueller Willkür preisgegeben.

Die Reaktion, die hervorgerufen ist, beruht auf einer Zurückziehung des Bewusstseins auf ein abstraktes reines Sein. Dieses abstrakte und leere Sein, auf das das Bewusstsein zurückgedrängt ist, wird nun zum Absoluten, denn seine Leere und Inhaltslosigkeit scheint paradoxerweise das Einzige zu sein, was in der Welt der Bildung Substanz aufweist.

Dabei gilt dies Elend, das dem Bewusstsein widerfährt, als weit wesentlicher als die Heimsuchungen des unglücklichen oder die des stoischen Bewusstseins. Zuerst sollen jedoch einige Ähnlichkeiten zwischen dem stoischen und dem „gebildeten“ Bewusstsein angeführt werden. Zunächst gilt für beide Bewusstseinsgestalten, dass sie aufgrund des Denkens charakterisiert werden können: Beide erkennen die Macht der Denkprozesse an. Das Denken des Stoikers wird als „vernichtend“ bezeichnet, denn im Denken vernichtet der Stoiker alles

329 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 463.

330 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 459.

331 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 463: „[A]lles, was Continuität und Allgemeinheit hat, was Gesetz, gut und recht heißt, [ist] auseinander und zu Grunde gegangen; alles gleiche ist aufgelöst, denn die reinste Ungleichheit, die absolute Wesentlichkeit des absolut wesentlichen, das ausser sich seyn des Fürsichseyn ist vorhanden; das reine Ich selbst ist absolut gesetzt.“

Äußerliche und gemeinsam damit auch die eigene gegenständliche Seite, die von außen determiniert wird. Das Denken des Gebildeten gilt als „zerreißendes“.

Die Zerstörung durch das Denken ergreift nicht nur die gegenständliche Seite – das Äußere oder das Fremde –, sondern das innigste Ich. Während demnach der Stoiker über ein Inneres verfügt, auf das er sich zurückziehen kann und so „in aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseyns frey [ist]“332 und sich in diesem Rückzug noch auf bestimmte Werte beziehen kann, gibt sich das zerrissene Bewusstsein selbst auf. Es erkennt alles als „absolute Elastizität“.

Nicht sein Denken ist für es wesentlich, wie dies noch für das stoische Bewusstsein galt, denn auch das Denken vernichtet sich selber und wird sich selber lächerlich. Es kann sich auch nicht auf die Macht der Götter oder die des Herrschers beziehen. Die griechischen Götter wurden aus der gegenständlichen Welt verbannt, und auch die Macht des Herrschers wird de-mystifiziert.

Stattdessen wird allen Werten gleicher Wert beigemessen. Damit kann behauptet werden, dass das mechanische Weltbild, das auf der Ebene des Verstandes, aber auch der beobachtenden Vernunft dargestellt und folglich kritisiert wurde, nun auch in der moralischen Welt seinen Wirkungsplatz gefunden habe. Die moralischen Werte weisen ebendie gleiche äußerliche oder

„mechanische“ Gleichgültigkeit gegeneinander auf, wie dies im Falle der physikalischen Gesetzen der Fall ist: Sogar dies, ob sich ein Bewusstsein zu einem niederträchtigen oder edelmütigen entwickelt, ist rein zufällig oder – in Hegels Vokabular – gleichgültig.

Damit wird der Reichtum, den der Herrscher um sich versammelt und gelegentlich an die Zierrate verteilt, zum Köder für die wesenslosen Bewusstseinsgestalten, die nicht mehr an Ehre, Dienst oder Tugend interessiert sind. Der Untertan ist nicht mehr der Diener des Staates, sondern sein „Klient“,333 der bemüht ist, einen so großen Teil wie nur möglich an sich selber zu reißen. In dem Maße, in dem das Bewusstsein der eigenen Verworfenheit und Zufälligkeit an Macht gewinnt, wachsen nicht die Selbstlosigkeit der Aufopferung, sondern der Übermut und der Eigenwillen. Das Bewusstsein – obwohl wie das stoische auf das reine Ich oder das reine Denken reduziert – ist nicht „auch noch in den Fesseln frei“ wie das stoische, sondern wirft jegliche Fessel ab.334

Zeigte sich auf der Ebene des Verstandes die Wirklichkeit als Spiel mechanischer oder physikalischer Kräfte und im Römischen Reich als ein Spiel geistiger Kräfte, verkörpert nun der Geist ein willkürliches Spiel individueller Launen. Das Ich, das Abscheu gegenüber dieser Gestalt des allgemeinen Geistes erwirbt, spricht sich nicht mehr in der Sprache der Schmeichelei, sondern der der Zerrissenheit aus. Diese Sprache ist nun das Wesen „des wahren existierenden Geistes der ganzen Welt der Bildung“335.