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V. Die Aufklärung im Kontext von Antigone und Rameaus Neffen

2. Die Französische Revolution und die Revolution der Denkungsart

2.3. Das Böse als die Verkehrung des Verstandes

Wie im Abschnitt über die verkehrte Welt auf der Ebene des Verstandes angedeutet, stößt nun das Bewusstsein an seine Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verstehen. Auf der Ebene des Geistes erfährt das Bewusstsein eine „reale Verkehrung“, nicht nur eine Verkehrung als epistemische Metapher, wie dies auf der Ebene des Verstandes der Fall war. Das geistreiche Bewusstsein selbst äußert sich in einer „Sprache der Verkehrung“ – bevor es sich auf der Ebene der nach-revolutionären Geistesgestalt nur mehr einsilbig oder „in platten Sylben“400 auszusprechen vermag. Es legt ein anderes Ansichsein als sein Fürsichsein an den Tag. Zudem wird ihm der ganze Weg, den es bislang gegangen ist, nichtig – es scheint, es sei eben an dem Punkt des natürlichen Bewusstseins angekommen, von dem es ausgegangen ist.

398 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 540: „und zwar ein Tod, der keinen innern Umfang und Erfüllung hat, denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolutfreyen Selbsts; es ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung, als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck des Wassers“.

399 Auf diese Banalisierung des Todes durch die Guillotine macht auch der französische Denker M. Foucault aufmerksam. Dem Leben wird durch die Guillotine, die ab dem Jahre 1792 angewendet wird, im einzigen Augenblich ein Ende bereitet, ohne dass der Henker mit dem Körper in Kontakt treten müsste. Der Mensch wird zu einem Tod verurteilt, den er schweigend hinnehmen muss. Während noch im Mittelalter die öffentliche Hinrichtung als eine Art von politischem Ritual aufgefasst wird, im Rahmen dessen der Herrscher seine Macht vorführt, wird durch die Guillotine das Schauspiel auf ein Minimum reduziert. Foucault hebt jedoch hervor, dass diese Reduktion der Qualen mit einer Revolution in der Praxis der Bestrafung einhergeht: Das Ziel ist nicht eine humanere Hinrichtung, sondern eine ökonomisch effektivere. Die Todesstrafe soll zudem auch für weniger ernste Verbrechen verhängt werden können. Die Guillotine ist eben aus dieser Sicht das erste Werkzeug, das Massenhinrichtungen ermöglicht. Michel Foucault, Surveiller et punir, Paris: Gallimard, 1975, 22–29.

400 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 541.

Mehr noch – es weiß nun um seine Verkehrung. Ist das Bewusstsein von einer Kongruenz der Sprache und der Wirklichkeit ausgegangen, sieht es nun, dass die Sprache und die Wirklichkeit in keiner Weise übereinstimmen. Die Revolution kann demnach als die geistige Form der epistemischen Verkehrung betrachtet werden, mit der sich das Bewusstsein auf der Ebene des Verstandes konfrontiert sah.

Ebendiese Widersprüchlichkeit der Situation der Revolution, aber auch des eigensinnigen Menschen beleuchtet nun Hegel. Der Selbstwiderspruch oder die pure Negativität tritt in dem für den Geist äußersten Zustand zutage. Diese Negativität kann nicht unmittelbar in das Denken integriert werden: Der Geist ist nun vollkommen vom Eigensinnigen zersetzt.

Eigensinnigkeit – so kann geurteilt werden – stellt nach Hegel den Hang dar, eine böse Maxime anzunehmen, also den eigenen Triebfedern zu unterliegen und diese als alleinigen Zweck unseres Tuns hervorzuheben.

Diese Eigensinnigkeit oder Eigenwilligkeit, die Hegel nicht nur am Beispiel des Rameau’schen Geistes betrachtet, sondern auch in den „vernünftigen“ Räubern oder aber in der schönen Seele wiederfindet, ist nach Hegel die Wurzel des Bösen. Das Selbstbewusstsein, das die äußere Wirklichkeit als eitel betrachtet, bzw. die schöne Seele oder die absolute Freiheit, ist für Hegel in Gefahr, aus dieser innerlichen Idealität, in die es sich zurückzieht, böse zu handeln. In Hegels Worten: Die formelle Subjektivität (diejenige also, die sich von der Außenwelt ablöst) ist auf dem Sprunge ins Böse.401 Weil jedoch dieser Rückzug ins Innere mit der ersten Gestalt der (wenngleich nur negativen) Freiheit assoziiert wird, bezeichnet Hegel das Böse als ein „Mysterium der Freiheit“402.

Damit handelt es sich beim Begriff des Bösen für Hegel um keine wesentliche Gegebenheit.

Vielmehr bildet sich der Mensch als geistiges Wesen zum Bösen. Ebendies können wir am Beispiel der Antigone und des Rameaus verfolgen. Antigone kann zwar – wie Ödipus oder Kreon – in ihren Taten fehlen und einseitig handeln, keine der Taten wird jedoch durch das moralisch Böse verursacht. Die Tat geht auf die Endlichkeit oder Beschränktheit des (antiken) Menschen zurück. Deshalb geht auch der griechische Geist friedlich und stolz seinem Ende zu; er vergeht in der Einheit beider Prinzipien, die nur unausgesprochen und unbewusst nebeneinander koexistieren können.

Demgegenüber schreitet der französische Geist weit effektvoller seiner Verwüstung entgegen.

Die Eigenwilligkeit zeigt sich hier in purer und damit auch in ihrer erschreckendsten Gestalt.

Es fällt auf, dass dieser Eigenwilligkeit die Individualisierung des Geistes voranging. Das Allgemeine musste Subjekt werden, um das Böse oder das Widersprüchliche, das Verkehrte, zu realisieren oder dessen überhaupt erst fähig zu werden. Die allgemeine Substanz wurde im Rahmen dieses Prozesses vom Subjekt vollkommen verzehrt.

Bezeichnenderweise begegnet der Leser dieser Verzehrung der Substanz in der Gestalt der schönen Seele wieder. Wie das Bewusstsein der absoluten Freiheit stellt auch die schöne Seele die Negation jeglichen Jenseits dar – das Jenseits wohnt der schönen Seele genauso wie

401 Vgl. Hegel, Grundlinien der Rechtslehre, 124, § 139.

402 Vgl. Hegel, Grundlinien der Rechtslehre, 124, § 139.

der absoluten Freiheit inne. Die schöne Seele oder die absolute Freiheit maßen sich gleichermaßen den Status der Göttlichkeit an, und somit kann behauptet werden, die schöne Seele, die Hegel als ein deutsches Phänomen behandelt, stelle eine Spiritualisierung der absoluten Freiheit dar. In ihr wird die Eigenwilligkeit des Handelns, das Verzehren der Substanz, deutlich, vor allem tritt jedoch das Motiv des Bösen explizit in den Vordergrund:

Während das geistreiche Bewusstsein um die Flexibilität und Wandelbarkeit des Guten in das Böse und vice versa wusste, gesteht sich die schöne Seele die eigene Boshaftigkeit in ihrem Eingeständnis des „Ich bins“403 zu.

Wie das Bewusstsein der absoluten Freiheit nahe dem Tode steht, vergeht auch die schöne Seele im Tod bzw. „schwindet wie ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst“404. Das Böse der schönen Seele besteht nun eben wie das der absoluten Freiheit oder das des Räubers darin, unter dem Vorwand der Allgemeinheit zu handeln. Das Bewusstsein der Allgemeinheit, das der schönen Seele gegenübertritt, deutet dies als Misshandlung des allgemeinen Zweckes:

Es entlarvt die niedrige und ungebildete Eigensinnigkeit hinter der Rede von allgemeinen Zwecken.

In der Konfrontation der schönen Seele mit der scheltenden Gestalt der Allgemeinheit ereignet sich ein überraschenden Wendepunkt: Die schöne Seele, die bereit war, sich zu ihrer Boshaftigkeit zu bekennen, erwartet das gleiche Eingeständnis vom Bewusstsein der Allgemeinheit. Auch die Allgemeinheit hat sich – durch das Abstoßen der Individualität von sich selbst – der Eigensinnigkeit (obwohl einer allgemeineren als die schöne Seele) schuldig gemacht. Das sieht die – nun tatsächlich – eigensinnige Allgemeinheit jedoch nicht ein und stößt damit die schöne Seele von sich, die in diesem Abgestoßensein jedoch ihren Tod findet.

Das Bewusstsein kann nun nur auf der Seite der Allgemeinheit weiterentwickelt werden und auf dem Hintergrund der „Bestattung“ der schönen Seele, deren Tod den Weg zur Versöhnung öffnet. Diese Lösung ist für Hegel bezeichnend. Das Böse muss in den Geist integriert werden. Dies konnte in der Französischen Revolution nicht der Fall sein, denn hier war das Bewusstsein vollständig zersetzt. Deshalb musste der Geist der Revolution im Denken verinnerlicht werden. Dies geschah „im Land des selbstbewußten Geistes“405 oder eher noch in der deutschen Philosophie. In der Gestalt der schönen Seele, die von Kommentatoren mit verschiedenen romantischen Denkern identifiziert wurde, tritt das Böse in der verinnerlichten Form noch einmal explizit auf. Diese Verinnerlichung zeigt sich auch darin, dass das Böse sich selber zu denken wagt – es bekennt sich zu sich selber und gewinnt Einsicht in das Undenkbare des Bösen.

Die personifizierte Allgemeinheit hat sich jedoch auch schuldig gemacht: Durch das Abstoßen der schönen Seele vereinzelte sie sich selber, nimmt doch das wahre Allgemeine die Einzelheit in sich auf. Nur das schlechte Allgemeine verschließt sich vor dem Einzelnen (und dem Bösen). Gerade durch dieses Abstoßen des Bösen von sich selbst und durch die eigene Moralisierung gegenüber der schönen Seele wird nun auch das Allgemeine böse. Damit kann

403 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 618.

404 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 609.

405 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 547.

behauptet werden, in Vorwegnahme der Genealogie der Moral Nietzsches entdeckt Hegel das Böse in der Anklage selbst.406

Auf ausgesprochen un-nietzscheanische Weise wird dann jedoch die Aufhebung des Bösen angestrebt: Die „böse“ Allgemeinheit verfügt nämlich über Mittel, das Böse zu denken und damit in sich selbst zu integrieren. Diese Integration gelingt gerade auf dem Hintergrund des Opfertodes der schönen Seele. Dieser Tod ist wie der Untergang Empedokles’ ein Vergehen der Einzelheit in der Allgemeinheit und das Heraufdämmern von Versöhnung und einer ersten Gestalt des Göttlichen, wie Hegel etwas ominös hinzufügt.

Das Böse, das die Französische Revolution heraufbeschwört hat, ist ein Böses, das eine neue Gesellschaft vorbereitet, in der sich der Mensch zu neuer Freiheit bilden kann. Aus dieser Sicht ist das Böse ein notwendiges Moment, das jedoch durch Verinnerlichung Einsicht in sich selber gewinnt und darin auch mit der Allgemeinheit – obwohl nie überwunden – so doch versöhnt werden kann. Dabei beruht das Böse, wie wir an Hegels „Genealogie der Moral“

beobachten konnten, nicht nur in der Eigensinnigkeit der schönen Seele, sondern auch in der moralisierenden Gestalt der Allgemeinheit.

Falls nun oben vorgeschlagen wurde, die schöne Seele solle als eine Gestalt verstanden werden, die eben wie die absolute Freiheit eine Verinnerlichung des Jenseits, des allgemeinen Zweckes oder des Gesetzes darstellt, so kann behauptet werden, in der Gestalt der schönen Seele komme es auch zu einem neuen, revolutionären Umbruch. Die schöne Seele ist nicht mehr der Herr, sondern der Knecht, der sich selber den Tod zufügt. Der Herr der Allgemeinheit, der dem Tod der schönen Seele untätig zusieht, bekennt sich seinerseits in der Unfähigkeit, das Böse seines Moralisierens einzusehen, zum eigenen Bösen. Eine Allgemeinheit, die das Böse von sich abstoßen wollte, mündete in eine Allgemeinheit, der der göttliche Aspekt des Geistes abginge. Die Göttlichkeit des Geistes besteht letztlich in der Fähigkeit, sich selber aufzugeben und sich in dem Bösen des Fremden wiederzufinden. Nur durch dieses Selbstopfer kann der Geist über sich hinauswachsen; und Einsicht in die eigenen Grenzen bezeugt – wie wir bereits an der griechischen Tragödie betrachtet haben – die Bereitschaft und Fähigkeit zum Opfer.

406 Paul Ricoeur, Das Böse, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2006, 41.