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IV. Die verkehrte Welt des französischen Geistes: Diderots Rameaus Neffe in der

2. Die moderne Welt und ihre Bildung – erstes und zweites Zitat aus Rameaus Neffe in

2.1. Die Entfremdung in der Bildung

Im ersten Abschnitt, den Hegel der „Welt der Bildung“ widmet, wird der Leser mit Themen konfrontiert, die ihm bereits aus dem Kapitel, das sich mit der griechischen Wirklichkeit auseinandersetzte, bekannt sind. In den Vordergrund tritt abermals die Sitte; das Bewusstsein versteht die Wirklichkeit – theoretisch oder an sich – als „Werk des Selbstbewußtseyns“290. Theoretisch weiß es, dass das Wesen der Wirklichkeit weder auf physikalischen Kräften noch auf einer ewigen Substanz beruht. Bereits auf der Ebene des Bewusstseins des Römischen Reiches lernte es die Wirklichkeit als Kampf geistiger Kräfte zu deuten.

Diese – theoretische – Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit ermöglicht dem Bewusstsein jedoch keinen qualitativ besseren Weltbezug als den, den es im Römischen Reich erfahren manifestations égales d'une même force: leurs contradictions n'étaient qu'un mode de leur accord.” Yourcenar, Mémoires d'Hadrien, 242.

288 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 340. „Dadurch, daß es der Zweck des Staates ist, daß ihm die Individuen in ihrem sittlichen Leben aufgeopfert werden, ist die Welt in Trauer versenkt, es ist ihr das Herz gebrochen, und es ist aus mit der Natürlichkeit des Geistes, die zum Gefühle der Unseligkeit gelangt ist.“

289 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 183.

290 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 429. „Aber diese Welt ist geistiges Wesen, sie ist an sich die Durchdringung des Seyns und der Individualität; diß ihr Daseyn ist das Werk des Selbstbewußtseyns“.

musste. Im Gegenteil geht die Entfremdung vom Geiste der Wirklichkeit aus dem Römischen Reich in die Welt der Bildung ein. In ihrem Ansichsein mag die Wirklichkeit zwar geistig verfasst sein, die bewusste Erfahrung bestätig jedoch dieses Wissen keineswegs. Damit wird auch hier der Wirklichkeit geradezu als einem Gegensatz einer Durchdringung des Bewusstseins und der Welt begegnet.

Zum grundlegenden Moment des Weltbezugs wird nicht das positive Wiedererkennen des Selbstbewusstseins in der Wirklichkeit, sondern seine Entfremdung. Die Wirklichkeit wird als negatives Produkt der eigenen Arbeit erkannt. Als solch negatives Produkt wirkt die fremde Wirklichkeit mit ebender Härte wie die Wirklichkeit des Rechtszustands auf das Bewusstsein zurück. Wie der Rechtszustand als ein elementarisches Chaos aufgefasst wurde, in das das Bewusstsein auf keine Weise verstehend oder handelnd eingreifen konnte, verschließt sich nun auch die Wirklichkeit der Bildung vor dem Bewusstsein.

Die Person, zu der sich das Bewusstsein herausgebildet hat, gewinnt Substanz nur durch ihre Negation; und umgekehrt wird die Substanz nur in der Entfremdung der Persönlichkeit wirklich.291 Die Substanz ist die Entäußerung der Person. Die Grundlage der Person ist also die Substanz, die nur in der Entäußerung der Person wirklich wird. Demnach muss sich die Person selbst entäußern, um wirklich zu sein;292 in dieser Entäußerung erlangt sie jedoch nicht Wiedererkennung und bleibt folglich beim zerrissenen Bewusstsein stehen. Diese Zerrissenheit ist – wie Hegel wiederholt feststellt – das wesentliche Merkmal des Bewusstseins der Bildung.

Wurde das Bewusstsein in der römischen Wirklichkeit von dem Weltgefühl der Einsamkeit und Wehrlosigkeit gegenüber der äußeren Welt heimgesucht, wird es nun zunehmend mit dem Gefühl der Fremde konfrontiert. Dies mag paradox anmuten, denn eben auf dieser Ebene gelangt das Bewusstsein zuallererst zu einer Deutung der Wirklichkeit, nach der diese nichts als das Produkt des Subjekts ist.

Theoretisch sollte sich das Bewusstsein tatsächlich nirgends mehr „heimisch“ fühlen als hier in der Welt der Bildung. Eben auf dieser Ebene wird nämlich die Bildung, die das knechtische Selbstbewusstsein initiiert hat, wieder aufgenommen, nun jedoch in der Gestalt einer Welt.

Das knechtische Bewusstsein hat die Kunst der Arbeit entdeckt; und damit ist es zur Erkenntnis gelangt, es könne die Welt als sein Eigentum ansehen. Die Welt ist Arbeit des bildenden Bewusstseins. Das Bewusstsein „wird also durch diß Wiederfinden seiner durch sich selbst eigner Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu seyn schien“293. In der Welt der Bildung soll diese Erfahrung allgemeines Wissen werden. Demgegenüber lässt uns Hegel wissen, dass hier das Gefühl der Fremde überhaupt erst hervortritt. Dies ist ein wichtiger Punkt auch im Blick auf das Verständnis von Hegels Auffassung der Moderne:

291 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 430.

292 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 430: „[Das] ohne Entfremdung an und für sich geltende Selbst ist ohne Substanz, und das Spiel jener tobenden Elemente; seine Substanz ist also seine Entäußerung selbst, und die Entäußerung ist die Substanz, oder die zu einer Welt sich ordnenden und sich dadurch erhaltenden geistigen Mächte.“

293 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 127.

Fremde tritt nur dort auf, wo eine zuvor unbekannte Nähe möglich ist. Erst dort, wo das Bewusstsein weiß, dass die Welt nichts ist als das, was die Subjekte hervorbringen, erhebt es auch einen qualitativ neuen Anspruch auf die Wirklichkeit, die sich dem Menschen dementsprechend „zuvorkommend“ zeigen soll.

Die Welt der Bildung ist demnach vom Weltgefühl des Nicht-zu-Hause-Seins dort, wo man zu Hause sein soll, bestimmt. Wenn wir dies auf die griechische Welt beziehen, können wir die Vermutung anstellen, der Grieche fühlte sich deshalb in seiner Welt zu Hause, weil er diesen Anspruch überhaupt noch nicht erhoben hat. Sein Zu-Hause-Sein war ein spontanes Wohlbefinden. Nun ist das Bewusstsein durch Furcht und Einsamkeit zum Gedanken gebildet, fühlt sich im Gedanken frei, im Gedanken geborgen und zu Hause, kann dieses Gefühl jedoch in der Welt nicht realisieren.

Während die griechische sittliche Wirklichkeit sich selbst im allgemeinen Willen verkörperte und dem Bewusstsein unmittelbar gegenwärtig war, ist die Welt der Bildung eine Welt der Gegenständlichkeit, die das Bewusstsein nur von außen erhält. Nicht nur die Institutionen dieser Welt, sondern auch die individuellen Bewusstseinsgestalten werden erst dadurch wirklich, dass sie von einem Anderen gedacht werden. Ihr Wesen haben sie außer sich, denn

„nichts hat einen in ihm selbst gegründeten und inwohnenden Geist“294.

Das Verlangen, das Bei-sich-selbst-Sein zu erreichen, führt zu den Versuchen, sich eine Welt auszudenken, in der es zu Hause sein könnte. Da das Bewusstsein erkennt, dass es in der unmittelbar gegenwärtigen Welt nicht zu Hause sein kann, fasst es sich nicht nur als Bewohner der fremden Welt, sondern auch als Bewohner einer übersinnlichen Wirklichkeit auf. Was nicht in der ersten Welt gelingt, soll in der zweiten gelingen – hier soll das Bewusstsein bei sich selber ankommen.

Wiederum lässt sich hier eine Parallele zum Römischen Reich aufstellen: Der Stoizismus, die Philosophie des Römischen Reichs, zeichnete sich durch das Besterben aus, sich aus einer feindseligen Welt zurückzuziehen. Gerade diese Unfähigkeit oder Unwilligkeit, sich in der Welt mit der Welt auseinanderzusetzen, veranlasste das stoische Bewusstsein, sich eine Gedankenwelt zu errichten, in der es frei sein konnte: „[D]ie in der Wirklichkeit verlorene Harmonie [suchte] es nur in der ideellen Innerlichkeit zu gewinnen“295. Obzwar Hegel – wie wir noch sehen werden – ein scharfer Kritiker dieser überirdischen Reiche ist, in denen nur eine „leere Freiheit“ erreicht wird, gilt ihm auch diese Freiheit, wenn auch abstrakt, als notwendiges Durchgangsstadium zur positiven „weltlichen“ Freiheit.

Wie wir jedoch ahnen, kann ein solcher Versuch für das Bewusstsein, das meint, bei einem Rückzug nach innen stehen bleiben zu können, nicht gut ausgehen. Übersinnliche Welten – wie der Leser der Phänomenologie bereits aus dem Kapitel Kraft und Verstand weiß – sind zwar legitime Durchgangsstationen auf dem Weg der Bildung, dürfen jedoch nicht zu den einzig wahren Reichen und also zu Endstationen erhoben werden.

294 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 432.

295 Hegel, Grundlinien zur Philosophie des Rechts, §138, 124.

Erfährt sich das Bewusstsein in der unmittelbaren Wirklichkeit nämlich als entfremdetes, so bildet es im Rückzug nach innen zwar eine Innerlichkeit aus, wird jedoch in der ausgedachten Welt nicht heimischer, sondern erfährt eine noch potenziertere Entfremdung. Denn nichts, was das Bewusstsein „aus dem Reiche der Gegenwart“296 zu einer Flucht in die jenseitige Welt verführt, vermag das Versprechen einzulösen, es von der Entfremdung am Ende zu befreien.